Jubiläum 1976
Theater der Zeit – 30 Jahre alt
von Hans-Rainer John
Erschienen in: Theater der Zeit: Theater der Zeit – 30 Jahre (06/1976)
Assoziationen: Theatergeschichte Dossier: TdZ-Geschichte
Mit diesem Heft endet der 30. Jahrgang unserer Monatszeitschrift, die unter der Leitung des verdienten Aktivisten der ersten Stunde Fritz Erpenbeck im Juli 1946 erstmals erschienen war. »Zeittheater oder Theater der Zeit?« war der erste Beitrag der neuen Publikation programmatisch überschrieben. »Theater der Zeit« war die erste Kunstzeitschrift unseres im Herbst 1945 von Bruno Henschel gegründeten Verlages. Heute ist es das langlebigste und traditionsreichste deutschsprachige Periodikum auf dem Gebiete des Theaters.
Blättert man in alten Nummern, erweist sich die Zeitschrift bereits in ihren Anfängen als treuer Chronist einer 30jährigen Entwicklung unserer Theaterkunst, die sie - informierend, beschreibend, anregend - zugleich mitbewirkt und mitbefördert hat.
Zuerst war der geistige Schutt, den der Faschismus hinterlassen hatte, zu bewältigen. Bewahrenswertes aus den nationalen Traditionen wurde geprüft, neu überdacht und zum Ausgangspunkt einer antifaschistisch-demokratischen Theaterkunst gemacht. Nicht zufällig trug das Titelblatt der ersten Nummer das Porträt Max Reinhardts. Vielfältige Einflüsse strömten damals auf unsere Bühnen ein, als nach langen Jahren der Abgeschlossenheit die Verbindung zur Welt wieder in Gang kam. »Theater der Zeit« half bei der Bewertung des spätbürgerlichen Modernismus und der existentialistischen und surrealistischen Dramatik des Westens. Von Anfang an vermittelte die Zeitschrift sowjetische Theatererfahrungen und sowjetische Dramatik. Und sie stellte Propagierung, Verteidigung und ästhetische Verallgemeinerung wesentlicher Leistungen unserer sich entwickelnden Bühnenkunst und Dramatik in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen.
Als es dann galt, in unserem Lande in historisch kurzem Zeitraum auch die zweite Revolution, die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, durchzuführen, begann die Zeitschrift, Theater als Teil unserer Kultur, als Teil unseres Lebens darzustellen und so Verständnis für den neuen Abschnitt der Gesellschaftsentwicklung zu wecken. »Kunst und Leben - eine untrennbare Einheit«, »Das neue Publikum - kennt Ihr es überhaupt?«, »Grundlage unserer Arbeit: ideologische Klarheit« und »Wir beharren auf den Positionen des sozialistischen Realismus« sind einige gravierende Beiträge aus dieser Zeit überschrieben. Schlußfolgerungen für die Theaterarbeit wurden vorgeschlagen. Da findet sich schon die Forderung, klassisches Erbe vor musealer Erstarrung wie vor »avantgardistischer« Verflachung zu bewahren und Gegenwartsdramatik mit allen Kräften zu fördern (»Nicht untätig auf das vollkommene sozialistisch-realistische Werk warten«). Richtige Konzeptionen wurden als Grundlage wirksamer Aufaufführungen bezeichnet, zugleich aber betont: »Die Konzeption ist noch nicht die Aufführung«. Und immer wieder wurde formalem Modernismus echtes Neuerertum entgegengesetzt: »Jedes formale Mittel ist recht, wenn es dazu beiträgt, den Inhalt am sinnfälligsten auszudrücken « (Erpenbeck). Die Profilierung des Theaters in unserem sozialistischen Lande geschah in ständiger Konfrontation mit der Entwicklung in der kapitalistischen Bundesrepublik. Wenn dabei das Theater unserer Republik zu einer Alternative für viele humanistisch-demokratische Kräfte Westeuropas werden konnte, so hatauch »Theater der Zeit« dazu beigetragen.
Drei Jahrzehnte sind für eine Zeitschrift eine lange Zeit. Wenn Leser des In- und Auslands von einem Alterungsprozeß wenig zu verspüren meinen, so liegen Ursachen vielleicht in dem Umstand, daß zunehmend die Theaterpraktiker selbstRegisseure, Dramaturgen und Bühnenbildner, Schauspieler, Sänger und Tänzer - als Autoren und Interview-Partner ebenbürtig an die Seite der Kritiker, Publizisten und Theaterwissenschaftler treten und die Zeitschrift - seit 1969 Organ des Theaterverbands - mitgestalten, indem sie ihre Meinungen, Erfahrungen, Fragen und Arbeitsprobleme einbringen. Das bewahrt vor einer akademisch-distanzierten Haltung, hilft Theorie und Praxis lebendig verbinden, orientiert auf jene Punkte heutiger Theaterarbeit, die viele bewegen. Bewegend ist die Frage, wie der Beitrag des Theaters zur Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten weiter erhöht werden kann. Die Antwort schien zunächst einfach: durch Entwicklung und Inszenierung neuer Werke, die tief wirkende sozialistische Kunsterlebnisse vermitteln; durch meisterhafte, in's Heute zielende historisch-konkrete Interpretationen der Werke des humanistischen Erbes; durch die Herstellung der Einheit von Unterhaltung und Erziehung in jeder Inszenierung auf bohem künstlerischen Niveau. Aber es erwies sich, daß die Frage tiefer zielte, auf eine Präzisierung der Aufgaben des Theaters im Leben der heutigen Gesellschaft.
Wir haben vor dem 111. Kongreß in vielen Heften der Zeitschrift darüber diskutiert, keine Grundwahrheiten in Frage gestellt, aber doch befunden, daß zwei Tatsachen unsere Schlußfolgerungen in der praktischen Theaterarbeit erfordern: Mit den entwickelten sozialistischen Verhältnissen begann ein neuer Abschnitt der Gesellschaftsentwicklung. Wir haben mit einem Zuschauer, zu rechnen, der seinen Standort im historischen Prozeß gefunden hat, indem er sich unwiderruflich für den Sozialismus entschied. Jetzt kann das Individuum nun tatsächlich zum großen Anliegen eines Theaters werden, das – nicht mehr vorrangig aufklärerischen Aufgaben verpflichtet – betont: der Mensch ist nicht nur das Produkt der sozialen Umstände, er selbst ist es, der die Umstände produziert. Und zweitens: die Dichte unseres kulturellen Alltags, die Rolle der Massenmedien, zwingen das Theater zur Besinnung auf seine unverwechselbaren Möglichkeiten im Rahmen der Künste. Sie liegen in der schöpferischen Gemeinsamkeit kollektiv rezipierender Zuschauer und im lebendigen Wechselspiel mit ihnen agierenden Darstellern.
Darüber haben wir langjährige Erfahrungen nicht aus dem Auge verloren: weitere Fortschritte auf dem Wege zu einem sozialistischen Volkstheater hängen entscheidend davon ab, daß die Theaterschaffenden fest mit dem gesellschaftlichen Leben unseres Landes verbunden sind und umfassende Kenntnisse wesentlicher Entwicklungsprozesse besitzen. Ihr verstärktes Streben nach Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Partnern trifft sich mit den wachsenden geistig-kulturellen Bedürfnissen der Werktätigen in den Kombinaten und Großbetrieben, Damit eröffnen sich weitreichende 'Perspektiven für die noch intensivere Zusammenführung von Arbeiterklasse und Theaterkunst. Und: Der Kampf um hohe Wirksamkeit der Theaterkunst ist untrennbar verbunden mit dem Prozeß des Lernens, weil künstlerische Meisterschaft neben Talent, Fertigkeiten und Erfahrungen hohe fachliche und politische Bildung in ihrer Einheit voraussetzt.
So hat sich der Kreis der Themen unserer Zeitschrift erweitert. Welche neuen Akzente wurden darüberhinaus in letzter Zeit gesetzt? Mehr Platz wurde eingeräumt den Darstellern, denn sie entscheiden täglich mit ihrem Einsatz auf der Bühne über die Wirksamkeit des Theaterabends. Größere Aufmerksamkeit wird gewidmet den Dramatikern, Librettisten und Komponisten, denn ihre Arbeit ist die wichtigste Grundlage eines Theaters, das den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen sucht. Voraussetzung dazu sind konfliktreiche neue Werke, die über eine anspruchsvolle künstlerische Gestaltung zu produktivem, vorwärtsweisendem Denken führen und den Zuschauer auch emotional tief und nachhaltig bewegen. Ein Hauptanliegen ist schließlich, die Theaterarbeit unseres Landes mehr und mehr in den Zusammenhang internationaler Entwicklungstendenzen zu stellen. „Theater der Zeit“ ist heute mit den Fachzeitschriften der sozialistischen Bruderländer freundschaftlich verbunden. Arbeitsvereinbarungen regeln den Austausch informierender Beiträge und Artikelkomplexe. Unser Bemühen schließt die Auseinandersetzung mit spätbürgerlichen Theorien und Praktiken ebenso ein wie den Report über Erscheinungen der „zweiten Kultur“ kapitalistischer Länder.
Ein Kernstück von „Theater der Zeit“ ist vom ersten Tage an die Theaterkritik, und das wird so bleiben. Es geht uns um eine Kritik, die Prinzipientreue und hohe Ansprüche mit einem aufmerksamen Verhalten zum künstlerischen Schaffensprozeß und zum Talent verbindet. Theaterkritik soll - wie Lessing es lehrte - jede Darbietung nach ihrer eigenen Absicht einschätzen und den Grad des ' Gelingens an den Möglichkeiten des Erreichbaren ablesen. Lessing riet auch, nicht zu vergessen, daß derjenige keinen Geschmack habe, der nur einen einseitigen Geschmack habe, aber „desto parteyischer“ sei. Theaterkritik erfordert gründliche Kenntnis des Lebens und seiner Entwicklungsgesetze sowie auch der Theaterpraxis. Wir suchen mehr und mehr Autoren zu gewinnen, die selbst in diesen Prozessen stehen. Ihre Meinung ist niemals Verdikt, sie steht als persönliche Haltung zur Diskussion. Nichts ist wünschenswerter als sachlicher Einspruch und argumentierende Erwiderung, wo Gesichtspunkte außer Ansatz geblieben sind, die für das Urteil wesentlich sind. Voraussetzung ist natürlich das gemeinsame Bemühen um hohe Ansprüche und ein richtiges Verhältnis zur Kritik, nicht Toleranz gegenüber Fehlern, Irrtümern, Mißglücktem oder Mittelmaß. Die Maßstäbe wurden u. a. von Paul Rilla und Fritz Erpenbeck für uns gesetzt - Kritikern, die frühzeitig den Rang einer Theaterarbeit zu erkennen vermochten, die eine neue Theaterkunst als Ergebnis einer im Werden begriffenen sozialistischen Gesellschaft analysierten, bestätigten oder korrigierend kritisierten. Sie hatten Perspektivisches im Sinn, mobilisierten Bekenntnisse zur Entwicklung und Veränderung des Bestehenden. Ihre Kritiken waren Diskurse mit den Produzenten und Rezipienten der Aufführungen, um Übereinstimmung auf einer neuen, höheren Stufe herzustellen.
Auch im beginnenden vierten Jahrzehnt wird die Redaktion bemüht sein, die langjährige Tradition schöpferisch fortzuführen, indem sie in enger freundschaftlicher Verbundenheit mit den Theaterschaffenden unseres Landes eine sachkundige und parteiliche Theaterpublizistik initiiert und betreibt. Weit entfernt von jeder Selbstzufriedenheit, empfindet sie gerade angesichts solcher Zäsur die Differenz zwischen Erstrebtem und Geleistetem besonders nachdrücklich und nimmt viele noch uneingelöste Verpflichtungen in den nächsten Arbeitsabschnitt mit hinüber: in den Theateralltag über die Ur- und Erstaufführungen hinaus noch stärker einzudringen, Leistungen konkreter auf Arbeitshaltungen zurückzuführen, Interpretationstendenzen aufmerksamer zu untersuchen, den Prozeß Praxisbeobachtung - Verallgemeinerung - Rückwirkung auf die Praxis noch effektiver zu handhaben. Daß die Redaktion im Rahmen des Theaterverbands wirkt, sich auf seine Arbeitsgremien stützen kann, ist wichtige Voraussetzung, daß gute Vorsätze reale Gestalt annehmen können. Objektive Grenzen setzt dabei die Verpflichtung (die wir mit keiner Theaterzeitschrift der Welt teilen), auf beschränktem Raum entsprechend der einheitlichen Theaterkonzeption unseres Landes ständig alle Sparten einzubeziehen, Vielfalt und Reichtum unserer Theaterlandschaft komplex widerzuspiegeln.
Im nächsten Jahrzehnt stehen auch unter gesamtgesellschaftlichen Aspekten neue, komplizierte Aufgaben vor uns, wie vor allen Theaterleuten. Das Programm des IX. Parteitags orientiert auf die Aufgabe, schrittweise die materiell-technische Basis des Kommunismus zu schaffen. Wie die Vorzüge unserer Gesellschaftsordnung noch besser mit der technisch-wissenschaftlichen Revolution verbunden werden können, das wird im Bereich der materiellen Produktion entschieden. Aber die steigende Effektivität der Arbeit steht in dialektischem Zusammenhang mit dem Wachstum der sozialistischen Persönlichkeit und der Entwicklung von dem Kommunismus eigenen menschlichen Beziehungen und Charakterzügen. Und das betrifft auch den Bereich der Kunst.
Ohne Eigenschaften wie schöpferische Ungeduld und Bewußtheit, Liebe zur Arbeit, Organisiertheit, Disziplin und individuelle Initiative, Ehrlichkeit und Kameradschaftlichkeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität, ohne diese Eigenschaften sozialistischer Persönlichkeiten gäbe es den realen Sozialismus in unserem Lande nicht. Ihr Stellenwert wird in der nächsten Etappe unserer Gesellschaftsentwicklung wachsen. Einen Beitrag zu leisten zur Herausbildung entsprechender Lebenshaltungen und -auffassungen, so wirksam wie möglich, das ist die Forderung, vor der alle Theater stehen, Als „kollektiver Organisator“ die geistige Auseinandersetzung zu fördern und zur Herausbildung sicherer künstlerischer Maßstäbe beizutragen, ist die Forderung, der sich „Theater der Zeit“ stellt.