Theater der Zeit

Magazin

Landschaftsfraß im Namen des Fortschritts

Lutz Hillmann spitzt in Bautzen mit der deutschen Fassung von Jurij Kochs „Mein vermessenes Land“ die Folgen des Kohleabbaus für die Sorben empfindlich zu

von Michael Bartsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Am Nullpunkt – Alain Badiou, Philippe Quesne, Joël Pommerat, Du Zieu (01/2016)

Assoziationen: Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen

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Die Weichen für weitere Tagebauaufschlüsse in der Lausitz sind gestellt, in deren Folge auch die sorbischen Dörfer Nr. 138, 139 und 140 von der Landkarte verschwinden müssten. Die Wende 1989, die doch eine zum Besseren sein sollte, hat zumindest am Landschaftsfraß in der Lausitz nichts geändert. Insofern bleibt ein Drama des sorbischen Autors Jurij Koch von beklemmender Aktualität.

Der doppeldeutige Titel „Mein vermessenes Land“ geht zurück auf die Erzählung „Landvermesser“ von Koch aus dem Jahr 1975. Das Industriezeitalter bricht in Gestalt des Braunkohleabbaus in die fest gefügten sorbischen Traditionen ein. Im Frühjahr dieses Jahres hatte Intendant Lutz Hillmann, der auch Regie führt, dieses Stück nach mehr als 35 Jahren am Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen neu aufgelegt. Zunächst in einer rein sorbischen Fassung, die in sechs Vorstellungen das Potenzial des sorbischen Publikums von nur etwa 1000 Besuchern ausschöpfte (siehe TdZ 6/2015). Im November hatte nun die deutschsprachige Version Premiere.

Interessant sind nicht nur die Veränderungen der Inszenierung und die Rezeption durch ein anderes Publikum. Verändert hat sich auch die Konstellation in der Tagebauregion, die dort ähnlich intensiv diskutiert wird wie das Flüchtlingsthema. Der schwedische Staatskonzern Vattenfall trennt sich vom Auslaufmodell Kohle. Vier Kraftwerke und fünf Kohlegruben stehen zum Verkauf. Zwei tschechische Energiekonzerne bewerben sich, von denen allgemein weniger Rücksichtnahme auf die betroffene Bevölkerung und erst recht kein vergleichbares Kultursponsoring, keine Trostpflaster wie von Vattenfall erwartet werden. Pikant, denn Tschechen und Sorben gelten nicht nur wegen der Sprachverwandtschaft als slawische Brudervölker.

Das deutsche Anrechtspublikum in Bautzen zeigte sich in Pausengesprächen vom Konfliktstoff in „Mein vermessenes Land“ nicht sonderlich ergriffen. Man lebe doch in Eintracht mit den Sorben, hieß es mehrfach, und die geplanten weiteren Tagebauaufschlüsse beträfen eher das südliche Brandenburg. Empathie für das Schicksal der Sorben aber weckt Jurij Kochs Bühnenwerk nach wie vor. Schauplatz der Handlung ist ein abgelegener Bauernhof, der von der sichelkrummen Großmutter, dem Vater und Sohn Kotjatko bewohnt wird. Der hermetische Kreis mit dem Webstuhl im Zentrum steht für das Immergleiche, für Langsamkeit, für Selbstverteidigung, wenn der Vater oft zum Gewehr an der Wand greift. „Unsere Welt ist sauber geblieben“, triumphiert er rückblickend, und man spürt auch die Selbstbefragung des Autors an die Reformfähigkeit seines Volkes. Prompt brechen Landvermesser in grünen Anzügen polternd in diese Ruhe ein, erfassen Daten für eine geplante Trasse. Diese drei erscheinen gegenüber der ersten sorbischen Fassung plastischer. Der Türenmann wirkt noch derber und arroganter, Korla intellektuell distanzierter und mäßigend. Maria bleibt hingegen die sympathische junge Frau, die mit ihrer Liebe zu Kotjatko die Fronten überwindet.

Diese Fronten verlaufen deutlicher als in der rein sorbischen Inszenierung. Schroffer stehen sich Tradition und der vermeintliche Fortschritt gegenüber und somit auch die Sorben und die Deutschen. Letztere erscheinen als die Konquistadoren, und Regisseur Hillmann bestätigt, dass das Stück auch so angelegt sei. Die Zweisprachigkeit verstärkt den Kontrast. Die Sorben sprechen unter sich den nahezu ausgestorbenen Schleifer Dialekt, den sich die obersorbischen Schauspieler auch erst aneignen mussten. Teile von Schleife gehören zu dem erneut vom Baggerfraß bedrohten Gebiet.

Lutz Hillmann hat das Stück als Gastspiel der Neuen Bühne Senftenberg und dem Staatstheater Cottbus angeboten. Während Senftenberg sofort darauf einging, zeigten sich am vom Vattenfall-Konzern unterstützten Cottbuser Theater erhebliche organisatorische Schwierigkeiten.

„Wir sind auch für Fortschritt“, hört man von den Kritikern des Stückes. Was aber ist Fortschritt? Dieser unausgesprochenen Frage kann kein Zuschauer während der zwei intensiven Spielstunden in Bautzen ausweichen. //

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