Theater der Zeit

Magazin

Wiesenkindheit: Yade Yasemin Önders Roman über eine schrecklich nette Familie

Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 256 Seiten, 20 Euro

von Lucien Strauch

Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)

Assoziationen: Buchrezensionen

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Vater, Mutter, Kind. Dieses Urmodell dramatischer Figurenkonstellationen treibt die Autorin Yade Yasemin Önder um. Ihr Debütstück „Kartonage“, im Rahmen der Autorentheatertage 2017 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt, erzählte von Herrn Werner, seiner Frau „Wernerzwei“ und der gemeinsamen Tochter. Das Ehepaar lebt einen Biedermeier-(Alb)traum im titelgebenden Karton, Wernerzwei kocht unablässig Marillenmarmelade, die sukzessiv den Gatten vergiften soll, eines Tages fällt die totgeglaubte Tochter buchstäblich vom Himmel mitten in die Szenerie.

Im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschien jetzt Önders erster Roman. Er trägt den enigmatischen Titel „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“, wieder geht es um eine Tochter und ihre Eltern. Was in „Kartonage“ der Karton als surrealer Wohnort war, ist im Roman eine Wiese: „An einem Tag nach Tschernobyl wurde ich auf einer Wiese geboren. […] Auf die Wiese hat mein Vater eine Dreizimmerwohnung gebaut, und meine Mutter bestand nicht auf einer Badewanne. Die Gegenstände stellten wir auf Grashalme und Moos, und das Wetter tat sein Übriges: Ausgebleicht waren alle von der Witterung, vor allem die aus Holz. Die Füße faulten sicherlich, doch das war uns egal. Egal war aber nicht, der Herd kam zu spät, es war schon Dezember, erst dann konnte die Milch, die nicht von meiner Mutter stammte, in einem kleinen roten Topf erhitzt werden. Das schmeckte mir, dann grinste ich, und mein Vater steckte mir einen Grashalm in den zahnlosen Mund, und meine Mutter drückte auf den Polaroidknopf, und fertig war unsere Dreizimmerwohnung im Park.“

Ausgehend von diesem Polaroid unternimmt die Tochter eine assoziative Erinnerungsreise in eine Kindheit und Jugend der westdeutschen Nachwendejahre. In kurzen Kapiteln und chronologisch mäandernd erzählt sie vom absurd übergewichtigen Vater, dessen Unfalltod in seiner Kontingenz (wenn die Tochter ihn rechtzeitig zum Mittagessen geholt hätte, hätte er sich nicht versehentlich bei der Gartenarbeit zersägt) etwas Lächer­liches anhaftet, und der zugleich als Zäsur die Episoden in Davor und Danach gliedert. Sie erzählt von der übrig gebliebenen Mutter, mit der sie um Regeln des Zusammenlebens zu zweit feilscht. Von einer Nachbarin ­namens Hannelore Kohl, von durchnummerierten namenlosen Schulfreundinnen auf Klassenfahrt und von ebenso katalogisierten Liebhabern, die sich fast durchweg als Reinfälle entpuppen.

Dem Leser drängt sich bisweilen der Eindruck auf, in einem sprachlich elaborierten Tagebuch zu blättern, in dem viele, aber eben nicht alle Einträge für Außenstehende von Interesse sind. Glücklicherweise konterkariert Önder das Biografisch-Alltägliche mit einer großen Lust an der fantastischen Übertreibung, und ihre Erzählerin beherrscht das Spiel mit dem absichtsvoll Missverständ­lichen. Als beklemmende Grotesken gelingen so die Begegnungen zwischen einem deutschen, mütterlichen, und einem türkischen, väterlichen, Teil der Familie. „Jedenfalls, während ich bei diesem Leichenschmaus gerade ein Kaiserbrötchen mit meinen Händen aufreiße und einer dieser zahlreichen Onkel dort ein Frikadellenbällchen reinzustecken versucht, muss ich plötzlich auflachen. Immer wenn er das Bällchen gerade reinstecken will, drücke ich die Öffnung meines Brötchens zusammen. Immer wieder versucht er es, immer wieder fallen die Bällchen daneben und zu Boden, immer energischer will er sein Ziel erreichen, und ich, ich verwehre es ihm. Ich schmunzele, kichere und breche schließlich in schallendes Gelächter aus, minutenlang, die ganze Sippschaft hält den Atem an.“

Überschattet wird der zwischen Melancholie und Abenteuerlust changierende Gang durch diese Lebensgeschichte vom Ringen mit dem „Symptom“, einer Bulimie-Erkrankung, die sich frech versprachlicht: „Ob du mich wegwirfst oder nicht, die Spätfolgen bleiben in dir!“ In der ersten Begegnung mit diesem unerwünschten Gegenspieler muss die Erzählerin lakonisch feststellen: „Die Hauptfigur hat die Szene verlassen.“ Und betritt doch immer wieder mit neuem Mut die Bühne ihrer Geschichte. So wie der Roman selbst in viele Richtungen gleichzeitig prescht, fliegt auch seiner Protagonistin buchstäblich das eigene Leben um die Ohren und sie selbst hinterher. Beide aber, Text und Figur, landen in einem verblüffenden Kunststück jedes Mal wieder auf den Füßen. //

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