Auftritt
Hamburg: Ohne Liebe
Deutsches Schauspielhaus Hamburg: „Serotonin” (UA) von Michel Houellebecq in einer Fassung von Falk Richter. Regie Falk Richter, Bühne Katrin Hoffmann, Kostüme Teresa Vergho
Erschienen in: Theater der Zeit: Test the East – 30 Jahre Mauerfall (11/2019)
Assoziationen: Schauspielhaus Hamburg
„Es ist eine kleine, weiße, ovale, teilbare Tablette.“ Mit diesem Satz beginnt und endet der jüngste Roman von Michel Houellebecq. Diese Pille sorgt für eine erhöhte Ausschüttung des Glückshormons Serotonin bei dem hochdepressiven Agraringenieur Florent-Claude Labrouste, dessen Geschichte hier von ihm selbst erzählt wird. Nach der Uraufführung durch Falk Richter am Schauspielhaus Hamburg könnte man diese Pille ganz gut gebrauchen. Denn man erlebt nicht nur eine deprimierende Inszenierung, die in karikaturhafter Überzeichnung alle Figuren an plumpe Witzigkeit verrät und plakative Theatermittel auffährt. Der seit Jahren ausgiebig exerzierte Vorwurf an Houellebecq, mit seinen chauvinistischen, rassistischen oder sexistischen Positionen mittelalter Männer ausschließlich provozieren zu wollen, versperrt Richter die Sicht zu einer genaueren Lesart. Er hat sich für seine Bühnenfassung ein Feindbild Mann zusammengestrichen, um es anschließend denunzieren zu können. Hat dabei nur übersehen, dass sich dieser Mann schon selbst zerlegt, die Lächerlichkeit seines sexuellen Begehrens zur Schau stellt und seine Asozialität und Liebesunfähigkeit nicht als Errungenschaften sieht, vielmehr wie ein krankes Tier umherstreunt und die Liebe anruft. Doch der Glaube an die Liebe als einziges sinnstiftendes Element des Daseins und damit die Leerstelle, die ihn antreibt, passte nicht ins Anti-Chauvi-Regiekonzept. Weg damit.
Der Labrouste des Romans ist ein Romantiker, dem die Liebe, durchaus selbstverschuldet, abhandengekommen ist. Auf einer Farewell-Tour in den Suizid sucht er die emotionalen Wegmarken seines Lebens auf – ehemalige Geliebte, den einzigen Freund. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Aber er wirkt wie ein Masochist, der die Erniedrigung sucht, um sich sein Scheitern vorzuführen. Er wird den Kreis seiner „eigenen Hölle“ abschreiten und sein Verschwinden vorantreiben, bis zum Sturz vom Hochhaus (vielleicht). Er kündigt seinen Job, seine Wohnung, er lässt seine japanische Geliebte sitzen, über deren Sex mit Hunden er sich schon gar nicht mehr aufregt. Ein gleichgültiges, desillusioniertes Wrack, nikotin- und tablettenabhängig. Auf der Hamburger Bühne, deren Raumtiefe zunächst von weißen Stellwänden abgeschirmt ist, wird dieser Antiheld gleich von vier Schauspielern (Jan-Peter Kampwirth, Carlo Ljubek, Tilman Strauß und Samuel Weiss) in schwarzen Bademänteln gegeben. Aus diesen steigen sie bald in allerlei Kostüme und Rollen, um kabarettistisch im Schnelldurchlauf Episoden durchzuspielen. Dabei herrscht ein Aktionismus, der eher einer ADHS-Erzählung entspricht. Irgendwann tragen sie, in Gleichsetzung von Autor und Werk, Houellebecq-Masken und torkeln zuckend auf übergroßen Schamlippenkissen herum. Dazu werden (Video-)Bilder entlang des Gesagten projiziert. Nahaufnahme Zigarette, sich auflösende Tablette, japanische Manga-Figur, Hochhaus ...
Fast erleichtert ist man, als Sandra Gerling und Josefine Israel, und damit die zwei Darstellerinnen des Casts, mit ungekünstelter Kraft losrappen „Jetzt sind die Fotzen wieder da“ – und mit einem weiblichen sexuellen Agens für Momente auch ein paar komplexere Gedankengänge die Bühne entern. Die beiden, die sonst nur chorisch aus dem Zuschauerraum kommentieren durften, müssen nun allerdings die Beziehung zwischen Labrouste und seiner großen Liebe Camille als bösen männlichen Besitzanspruch in einem kitschigen kleinen rosa Haus nachspielen. Die Frauen klagen bei Falk Richter an. Gut. Aber um den Preis des Missverstehens zwischenmenschlicher Bindungen, wenn ein Mann nicht mehr „meine Frau“ sagen darf.
Was Houellebecq erneut den Ruf des Orakels einbrachte, die Schilderung eines Protests normannischer Bauern gegen die EU-Agrarpolitik, indem sie Straßen blockieren – was als Vorwegnahme der Gelbwesten-Proteste gesehen wurde –, wird im zweiten Teil mit viel Nebel, Flammenvideos und Nachrichtenfeeds im nun nach hinten geöffneten Bühnenraum in einer Assemblage aus Bauernhaus, Autobahnbrücke und Getreidefeld hergestellt. Dieser Aufruhr endet mit dem Selbstmord von Labroustes Freund Aymeric, eines gescheiterten Hofbesitzers und verlassenen Ehemannes, der sich vor den anrückenden Polzeikohorten den Kopf wegballert. Carlo Ljubek sucht hier zitternd und fast tänzerisch den Tod. Dass Aymerics politischer Protest aber mehr aus der Verzweiflung des von seiner Frau Verlassenen resultiert, genauso wie Houellebecqs Kritik an modernen liberalen Gesellschaften stets nur an ein privatistisches Midlife-Crisis-Schema anknüpft, das wären Ansatzpunkte für eine kritische Auseinandersetzung gewesen. Zumal der Autor seinen Protagonisten am Ende mit Jesus vergleicht, der sich allerdings für die erbärmliche Gesellschaft nicht opfern will. In Hamburg? Erscheinen Männer am Ende wie eine ausgestorbene Spezies, röchelnd im wollsplissigem Pelz oder in pinken Fatsuits ihrem Ende entgegentapsend. //