Künstlerinsert
Es werde Licht!
Die Münchner Künstlerin Miriam Ferstl fotografiert Kronleuchter in Kirchen und Theatern – und öffnet damit den Blick auf verborgene Verbindungen zwischen Spiritualität, Kunst und Naturwissenschaft
von Sabine Leucht
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Sound der Algorithmen – Schwerpunkt Musiktheater (03/2021)
Assoziationen: Akteure Dossier: Kunstinsert Schauspielhaus Bochum

Man kann heute kaum auf diese Bilder blicken, ohne an Covid-19 zu denken. Oder – je nach Gemüt – auch an kolorierte Spitzendeckchen. Eigentlich aber fotografiert Miriam Ferstl Leuchter in sakralen Räumen und Theatern. Denn da hat die 34-Jährige ihre künstlerischen Wurzeln. Ferstl ist 1986 im 5000-Seelen-Ort Oberviechtach geboren und hat in Bayreuth unter anderem Theaterwissenschaft studiert, bevor sie 2009 am Schauspielhaus Bochum von der Kleindarstellerin zur Requisiteurin zur dramaturgischen Assistentin aufstieg. Dann folgte in dem, was sie ihr „erstes Leben“ nennt, die Arbeit beim Film und in der „Tatort“-Redaktion des Bayerischen Fernsehens – und schließlich der 31. Juli 2016, als ihr in Supetar auf der kroatischen Insel Brač ein Kronleuchter begegnete: Ein in vielerlei Hinsicht bahnbrechendes Erlebnis! Da war der Kontrast zwischen dem heruntergekommenen Kirchenraum und dem riesigen Kristalllüster, dessen ungewohnt lebensfrohe Farbigkeit mit der Deckenbemalung korrespondierte. Da traf die venezianische Vergangenheit der Insel in Gestalt des bunten Murano-Glases auf die angeborene Glasfaszination der im Bayerischen Wald aufgewachsenen jungen Frau. Und die hatte dann noch die schräge Idee, sich das Ganze von unten anzuschauen, während sie selbst flach auf dem Kirchenboden liegt.
Wenn Miriam Ferstl vier Jahre später davon erzählt, klingt sie noch immer überwältigt von der Entdeckung der Abstraktion, die das mit sich bringt. Und oft geht es den Pfarrern und Nonnen, die ihr die Türen aufschließen, ganz ähnlich. „Manchmal“, sagt sie, „sind sie geradezu entrüstet und glauben nicht, dass das auf dem Foto ein Element ihrer Kirche ist.“ Dabei liegt die Verfremdung nur in der Perspektive. Natürlich benutzt Ferstl eine Kamera mit hoher Auflösung, schließlich kommt es auf jedes Detail an. Ansonsten aber arbeitet sie sehr pur. „Es ist mir wichtig, mich selbst unter die Lichtquellen zu legen, mir Zeit zu lassen, deren Mitte zu finden und aus der Hand das Foto zu machen.“ Ein Laser oder ein Stativ würden ihr die Arbeit erleichtern. Doch lieber verlässt sie sich auf ihr Gefühl, das auch darüber entscheidet, ob überhaupt ein Bild entsteht oder sie einen oft erst nach langer Recherche gefundenen Ort unverrichteter Dinge wieder verlässt: „Es muss ein ,guter‘ Ort sein, an dem ich eine inspirierende Atmosphäre spüre“, sagt Ferstl. Die Kriterien dafür sind rein subjektiv. Generell aber interessieren sie prunkvolle Schlösser, in denen der Leuchter nur ein repräsentatives Element unter vielen ist, weniger als die „brüchige“ Schönheit „vergessener Orte“ – und eben Theater und Gotteshäuser, „deren eigentlicher Sinn darin besteht, dass Menschen in ihnen zusammenkommen, um etwas Erhebendes und Erhellendes zu erleben“. Auch wenn ihnen dieser „Sinn“ in der Pandemie brutal einseitig beschnitten worden ist. „Dass so viele kleine Kristalle den Leuchter formen und jeder seinen Platz hat“, sagt Ferstl, „empfinde ich als sinnbildlich für diese Orte.“ Zudem ähnelt die konzentrische Anordnung dieser Kristalle vielen in der Natur vorkommenden Formen – von Viren und anderen Mikroorganismen bis hin zur Umlaufbahn der Planeten.
William A. Bentleys Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Fotografien von Schneeflocken standen Pate für Ferstls „Light Cells“: Diese gibt es als 24-teilige Serie in Farbe sowie als Schwarz-Weiß-Tafeln, auf denen gleich mehrere durch den Farbentzug zusätzlich abstrahierte Leuchterbilder wie naturwissenschaftliche Fundstücke codiert wurden. Als Einzelexemplar ist der Lüster der Bayerischen Staatsoper das wohl verblüffendste Schneeflocken-Lookalike, während andere Lichtsolisten einem Blick in ein Kaleidoskop, zarten Blüten oder Baumkronen von oben ähneln. Ferstls Leuchterbilder sind auf den ersten Blick geradezu unanständig dekorativ. Auf ihrer Website gibt es sogar einen Shop, in dem man einzelne Werke aus der „Lichtzellen“-Serie als limitierte Glasdrucke oder Gicléedrucke zwischen Acrylglas bestellen kann. Klar, auch Künstler müssen leben. Aber hat sie keine Angst, dass Käufer ihre Werke lediglich übers Sofa hängen, einfach, damit was glitzert? Ferstl ist da entspannt, denn erstens müsse jeder Künstler die finale Verantwortung für sein Werk an den Betrachter abgeben, und zweitens verlässt sie sich auf dessen Augenöffnerqualität. Und tatsächlich: Hat man sich einmal in die so hübschen wie komplexen Strukturen eingesehen, entdeckt man mehr und mehr in ihnen. Bis hin zu kleinen Verletzungen und damit Hinweisen auf die Zerbrechlichkeit des Lebens selbst.
Die Oberpfälzerin, die seit 2018 an der Münchner Akademie der Bildenden Künste studiert, hat in den vergangenen Jahren auch eine Vielzahl menschlicher Zellen unters Mikroskop gelegt. Wenn sie Leuchterdesigner danach fragt, ob sie sich bewusst an den Bauplänen der Natur orientieren, hört sie regelmäßig: „Nein, wir versuchen nur, so schön und effektiv wie möglich das Licht im Raum zu verteilen.“ Das hört gar nicht auf, sie zu faszinieren: „Dass der Mensch, der effektiv und kreativ sein will, bei etwas endet, das in der Natur seit Millionen von Jahren genau so existiert.“ In jeder Zelle. Sie selbst nennt die „unendliche Intelligenz“ hinter diesem „universellen Prinzip“ Gott, ist aber auch anderen Bezeichnungen gegenüber offen. Ihre für die Deutsche Vatikanische Botschaft konzipierte Ausstellung „Divine Light“, für die sie Lichtquellen in Kirchen, Synagogen und Moscheen fotografiert hat, war außer in Rom unter anderem in Museen in Split und Zagreb zu sehen. Bis Sommer 2021 wird die renommierte Munich Re Art Collection einige von Ferstls „Lichtzellen“ ausstellen. Mit dem Leuchtermotiv und dem naturwissenschaftlichen und spirituellen Kosmos dahinter ist sie jedenfalls noch lange nicht fertig. Im Moment geht sie mit der Idee eines Bildbandes über Lichtquellen in deutschen Theatern schwanger, mit deren fotografischer Erfassung sie eher noch am Anfang steht. Die Fotos aus dem Zürcher Opernhaus und das fast kubistisch anmutende Motiv aus Prag (The New Stage) zeigen schon, welch neue und spannende Perspektiven sich da eröffnen würden. Für Ferstl wie fürs Theater.
Denn anders als das Schneeflockenbild aus der Bayerischen Staatsoper, das sich nahtlos ins „Lichtzellen“-Format einreiht, verlässt Ferstl hier mitunter ihre angestammte Frosch- und Zentralperspektive. So ist der Zürcher Leuchter zusätzlich von oben aufgenommen, was einen Blick auf den leeren Zuschauerraum durch die schillernden Glasbausteine hindurch ermöglicht. Ein Aha-Erlebnis, das Miriam Ferstl dem Bühnentechniker Marcel à Porta alias „Mäse“ verdankt, der ihr stolz das gewaltige Kleinod gezeigt hat. Und auch das ist anders bei den Lichtschmuckstücken im Theater, von denen manche sogar groß genug sind, um sie begehen zu können: Man ist sich ihrer und ihres Schauwertes bewusst. Die fotografische Kunst des Augenöffnens muss daher andere Wege gehen und wird sie finden. Wenige Tage nach unserem Telefonat schreibt mir Miriam Ferstl per Mail: „Übrigens muss ich seit unserem Gespräch noch mal mehr über die Zusammenhänge zwischen sakralen und theatralen Räumen und Aktionen nachdenken. Nicht nur der räumliche Aufbau, sondern auch die Inszenierung, sogar die Dramaturgie eines Theaterstückes und eines Gottesdienstes haben sehr viel Ähnlichkeit. Das ist wirklich sehr spannend, und ich freue mich, dazu in Zukunft noch mehr recherchieren und arbeiten zu können. Das könnte ja auch Teil des Buchprojektes sein … wenn es denn von irgendwoher Förderung dafür gibt.“ Und vielleicht – wer weiß? – könnte auch die seltsame Schieflage ein Gegenstand werden, in die das Verhältnis zwischen Kirchen und Theatern im vergangenen Lockdown-Jahr geraten ist, wo sich Aufführungen spielerisch als Gottesdienste deklarierten oder aus Kirchen live gestreamt wurden, um stattfinden zu können, und sich so manches Theater gewünscht hätte, wirklich eine Kirche zu sein, um weiter geöffnet bleiben zu dürfen. Eine Gemengelage aus Unverständnis, Neid, Zorn und neuen Allianzen, die die Leuchter, so es sie denn in den betreffenden Gebäuden gegeben hat, nun auch bezeugen können. //