Theater der Zeit

Vorwort

von Wolfgang Schneider

Erschienen in: ixypsilonzett Jahrbuch 2014: Abbild, Zerrbild, oder? – Konstruktionen von Kindheit im Theater für junges Publikum (01/2014)

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Kinder- und Jugendtheater ist Zielgruppentheater. Kinder und Jugendliche sind als Publikum gemeint; Kinder und Jugendliche spielen auch als Protagonisten auf der Bühne eine Rolle; die Inszenierungen setzen sich mit aktuellen und historischen Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen auseinander. Wie ist das, wenn ältere Schauspieler jüngere Helden spielen? Was sind das für Konstruktionen, die Kindheit behaupten und Jugend vorführen? Worum geht es, um Illustration oder um Irritation? Was ist der Blick der Erwachsenen auf die junge Generation? Welche Erwartungen haben die jungen Zuschauer an die Charaktere der Schauspielkunst? Kindheitsbilder stehen auf dem Prüfstand, Abbilder und Zerrbilder sind zu analysieren, der Wiedererkennungseffekt ist zu thematisieren, und »Facing Reality« bedarf des Diskurses.

Gerade mal zweihundert Jahre liegen zwischen der Erfindung der Kindheit und ihrem Verschwinden. Jean-Jacques Rousseau mag die ideologischen Grundlagen Mitte des 18. Jahrhunderts geschaffen haben; Neil Postman hat am Ende des 20. Jahrhunderts dem Fernsehen die Schuld gegeben, dass es den Schutzraum für die Jüngsten und Jungen nicht mehr geben wird. Klar wird zu jeder Zeit: Kindheit ist ein Konstrukt, eine gesellschaftliche Projektion. Als schützenwertes Gut wurden Kinder von einem Bürgertum erkannt, das nach der wirtschaftlichen bald auch nach der politischen Macht strebte. Der Nachwuchs galt als Garant der eigenen Unsterblichkeit und sollte deshalb so erzogen werden, wie man selbst gern sein wollte. Es gab das romantische Bild, und es gab die schwarze Pädagogik – und all das fand auch im Kindertheater in allen Zeiten Ausdruck. »Genieße, was dir Gott beschieden, entbehre gern, was du nicht hast, ein jeder Stand hat seinen Frieden, ein jeder Stand hat seine Last.« In der Schlussapotheose von Carl August Görners »Rosenjulerl, das gern Königin wollte sein« wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert selbst die Kinderkomödie als Vorläufer des Weihnachtsmärchens didaktisch und diente der Erziehung für Kaiser, Gott und Vaterland.

 

Ansonsten herrschten in Kinderzeitschriften, Kinderbüchern und Kinderdramen die heile Welt und ein Anspruch von Authentizität, wie er auch heute gelegentlich immer mal wieder als künstlerische Ausdrucksform gepriesen wird. Als Christian Adolf Overbeck 1781 seine Kinderliedersammlung veröffentlichte, firmierte er auf dem Titelblatt als Herausgeber der angeblich von seinem Sohn Fritz gedichteten Verse und schrieb im Vorwort: »In diesen Liedern hab ich versuchen wollen, wie weit ich’s etwa im Kinderton treffen könnte. (…) Hier spricht, wenn ich’s gut gemacht habe, wirklich ein Kind.« Ist es das, was die Kunst für Kinder ausmachen sollte? Den Kinderton treffen? Das Markenoutfit markieren? Braucht es zum Jugendtheater also nur den Jargon? Geht es darum, Dasein und Darstellung im Prinzip eins zu eins auf die Bühne zu bringen?

Zunächst einmal: Kindheit ist Vielfalt. Und Klaus Farin behauptet ja, dass es »die« Jugend gar nicht gebe. Kindheitsdarstellungen sind also eher nicht dokumentarisch, im schlimmsten Falle aber Karikatur. Deshalb plädieren die zeitgenössischen Autoren, Dramaturgen und Regisseure für eine Offenheit in der Reflexion von Lebenswelten. Die Möglichkeiten seien durch die ästhetischen Mittel defi niert, durch das Narrative, das Performative und das Mediale. Es gehe um die Haltung der Handschrift, die den mündigen Zuschauer brauche.

Volker Ludwig hat sich diesen emanzipatorischen Ansatz patentieren lassen; Kristin Wardetzky plädierte für das Ernstnehmen des Publikums: »Es gibt nach meiner Erfahrung überhaupt nur eine verbindliche Forderung an Stücke bzw. Inszenierungen für das Kindertheater, und das ist die nach abgründigen Geschichten, also nach Geschichten, die bis an den Abgrund gehen, die Konflikte nicht bagatellisieren, beschwichtigen, wegkuscheln, sondern in ihrer existentiellen Tragweite den Kindern zumuten. Das Leben der Kinder ist kein Spaziergang durch ein Paradiesgärtlein. Es kann die Hölle sein – und wenn man Kinder im Theater nicht betrügen will, dann gehört die Hölle auf die Bühne. Wenn das Kindertheater sich nicht scheut vor der Härte der sozialen Praxis, dann erledigen sich auch die Debatten um den Formenkanon. Kinder wollen im Theater nicht geschont werden. Sie fühlen sich erst dann wirklich ernst genommen, wenn im Spiel auf der Bühne ihre eigenen Grenzerfahrungen sichtbar und erlebbar werden.«*

Hart, aber fair, sichtbar werden, erlebbar machen: Die Helden sind jetzt unvollkommen und überfordert, es darf auch ein wenig unübersichtlich werden, denn einfach ist zu einfach, und auch Kindheit sowie Jugend sind einfach zu komplex. Dabei gilt es, Empathie für die Rezeption zu entwickeln, Audience Development heißt im Kinder- und Jugendtheater, auch zu wissen, was an Bildern decodiert werden kann und was es braucht, um Theater zu entschlüsseln. Wenn die Alten im Alltag immer jugendlicher sein wollen und die Jungen sich nicht alt genug geben können, muss das Theater dies thematisieren, mit ästhetischen Fragen.

Es ist eine Kunst, ein Kind zu spielen. Der unvergessliche Gerd Imbsweiler hat das vorgespielt, mit Ruth Oswalt in Beat Fähs Inszenierung »Hexenfieber« der Basler Spilkischte: Er war der Neunjährige, mit Schnauz und schlohweißem Haar. Es war der Spieltrieb und nicht die Betrachtungsweise, es war das Kinderfreundliche und nicht das Kindertümelnde, es war das Existenzielle der Handlung.

»IXYPSILONZETT. Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater 2014« ermöglicht Einblicke in das »Making-of« der darstellenden Kunst, wenn diese die große Welt der Kleinen thematisiert, stellt Fragen zur Machart der Dramaturgien, wenn diese den Heranwachsenden ihre Geschichten erzählen wollen, diskutiert die Perspektive des Publikums, wenn es im künstlerischen Prozess mitzudenken ist. Und somit liefert »IXYPSILONZETT« ein weiteres Mal in komprimierter Form den State of the Art des deutschsprachigen Kinder- und Jugendtheaters.

 

 

* Zitiert nach: Wolfgang Schneider: Theater für Kinder und Jugendliche. Beiträge zu Theorie und Praxis. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl age, Hildesheim 2012, S. 357.

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