I. Schauspielen
Ursprung des Dramas aus dem Gottesdienste
Quelle 1
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Schauspiel Theatergeschichte
Unter allen Kunsttrieben, welche dem Menschen angeboren sind, äußert sich keiner so früh und in solcher Stärke als der dramatische.
Die ersten Spiele der Kinder sind Nachahmungen, Darstellungen von Tieren und Menschen. Alle Eindrücke des jungen Lebens fordern sie zunächst zu einer mimischen Reproduktion derselben auf, und wir bemerken, daß sie sich mit einer Stärke der Einbildungskraft diesen Spielen hingeben, die zu völliger Selbstverleugnung wird, und die wir in dem Maße nicht wahrnehmen, wenn das Kind anders als unmittelbar mit seiner eignen Persönlichkeit nachbildet. Welches Kind hätte wohl nicht Soldat oder Schule, Vater, Mutter und Kind, Pferd und Kutscher, Jäger, Hund und wildes Tier usw. gespielt, und wie wenige dagegen versuchen aus eignem Antriebe mit dem Griffel oder in Lehm oder Wachs nachzubilden? – Der dramatische Kunsttrieb ist der stärkste und allgemeinste.
Auf der Kindheitsstufe des Völkerlebens treten uns dieselben Erscheinungen entgegen.
In den untergeordneten Kulturzuständen, die noch kein Bildwerk irgendeiner Art aufweisen, werden schon pantomimische Tänze und Darstellungen angetroffen, und überall, wo das gesprochene Wort recht eindringlich lebendige Vorstellungen erzeugen will, gerät es auf die Wechselrede.
Was ist nun wohl natürlicher, als daß dieser vorherrschende Darstellungstrieb im Menschen sich zum bereitesten Organe für die höchste Begeisterung anbietet, und so sehen wir denn in allen Religionen symbolische Gebärden, liturgische Wechselreden oder Gesänge den ursprünglichen Gottesdienst bilden.
Aus diesen symbolisch dramatischen Liturgien aber ist bei allen Völkern das Drama hervorgewachsen; vom reinsten Quell des Geisteslebens, vom Gottesdienste, hat es seine erste Nahrung empfangen. [...]
Daß das antike Drama aus gottesdienstlichen Gesängen und Tänzen zu Ehren des geheimnisvoll zeugenden Gottes Dionysos entstanden, ist bekannt |29|genug. Weniger besprochen ist die vielfach, schon von Luther unterstützte Behauptung, daß das dramatische Element dieses Kultus aus dem Judentume übertragen worden sei, daß Davids reicher Tempeldienst, die Wechselgesänge seiner Psalmen, sein Tanz vor der Bundeslade, die ursprünglich dramatische Form der Bücher Hiob, Judith, Tobias, Esther, ja selbst des Hohenliedes, auf die frühe Existenz eines jüdisch dramatischen Gottesdienstes schließen lasse. Gewiß ist nur, daß eine wahrhaft dramatische Kunst bei den Juden nicht existiert hat. Die zu verschiedenen Zeiten, vornehmlich von den Heroden eingeführten griechisch-römischen Schauspiele haben im jüdischen Volke nie Wurzel geschlagen; im Gegenteile wurden sie mit religiösem Abscheu betrachtet. Da das jüdische Gesetz aus dem Gottesdienst die bildenden Künste verweist, konnte die Freude an der mit jenen innig verwandten dramatischen Kunst auch nicht erlaubt scheinen.
Dasselbe ist bei den Muhammedanern der Fall, und gewiß ist dies der Grund, daß bei ihnen im allgemeinen kein Drama zu finden ist; nur neuerdings hat ein französischer Reisender die Existenz von großen Schauspielen in Persien entdeckt, welche den Kampf der Nachkommen des Muhammed und die große Glaubensspaltung des Islam zum Gegenstande haben. An die religiösen Interessen knüpft also auch dies einzelnstehende muhammedanische Schauspiel an.
So ist es auch bei den Chinesen, deren Theater aber eine große Verbreitung und deren Drama auch eine weitläufige novellistische, ja biographische Ausdehnung gewonnen hat.
Die Entstehung der griechischen Schauspielkunst aus dem Gottesdienste des Dionysos ist so oft und ausführlich nachgewiesen, daß ich hier nur an die vornehmsten Entwicklungsmomente zu erinnern brauche.
Die dithyrambischen Chöre hatten einen Vorsänger, der Gefahren, Kampf und Sieg des Gottes rezitierend darstellte und so einen Wechselgesang erzeugte. Diese redende Person wurde durch Thespis, mit Hülfe der Masken und sonstiger Verkleidungen, zur Darstellung verschiedener Gestalten benutzt, die an der Stelle der bloßen Erzählung, in Wechselwirkung mit dem Chore, eine Art von lebendig gegenwärtiger Handlung hervorbrachten. Allmählich entfernten sich die Stoffe dieser Dramen von dem unmittelbaren Dienste des Dionysos und gewannen national-politische Bedeutung. |30|Das Theater bildete sich aus. Die auf Rädern ruhende Bühne des Thespis, auf welcher diese Handlungen der Heroen dargestellt wurden, damit sie den tanzenden und singenden Chorus überragten, wurde zum Logeion, dem Chor des Volkes blieb die niedrigere Region der Orchestra; die bekannten bedeutungsvollen Konventionen der alten Bühne stellten sich fest.
Bis zu Äschylus hatte man sich mit einem einzigen Schauspieler begnügt, welches allemal der Dichter selbst war, der auch zugleich Musik und Tanz des Chors zu ordnen hatte; denn das feine Gefühl der Griechen für die Harmonie eines Kunstwerkes konnte sich erst spät darein finden, Dichter und Schauspieler voneinander getrennt zu denken. Äschylus brachte einen zweiten Schauspieler auf die Bühne und damit auch die größere Lebendigkeit der sichtbar gegenwärtigen Handlung. Sophokles fügte den dritten hinzu, über welche Zahl man auch später nur ausnahmsweise hinausgegangen zu sein scheint. Durch den Wechsel der Masken und Kleider konnte man nun schon eine große Zahl von nacheinander erscheinenden Gestalten hervorbringen.
Daß die Frauenrollen ebenfalls von Männern gespielt wurden, ist bekannt, vielleicht aber tue ich wohl, an dieser Stelle sogleich an andere Eigentümlichkeiten der antiken Darstellungsweise zu erinnern, um den Vergleich mit der christlichen und modernen Schauspielkunst von vorn herein abzuweisen.
Die Amphitheater waren von ungeheurem Umfange, ohne Dach, boten also der Stimme wenig Resonanz dar, und obschon die Masken der Schauspieler Schalltrichter an der Mundöffnung hatten, welche den Ton ungemein verstärkten, so gehörte dennoch ein sehr kräftiges Organ dazu, den Fernsitzenden dieser Tausende von Zuhörern das gewaltige Pathos dieser Tragödien eindringlich zu machen.1
Die Rezitation mußte also gewaltsam, der Gang auf dem Kothurn, der die Gestalten für die Fernsitzenden erhöhen sollte, mußte schwerfällig werden und der Gesichtsausdruck der Maske starr bleiben. Die moderne Kunst hingegen hat gerade in den feingemessenen Biegungen des Redeausdrucks, im wechselnden Spiele der Mienen und in der Zwanglosigkeit und Anmut |31|der Gebärden ihre Mittel zur künstlerischen Täuschung zu suchen. Sie hat sich treu an die Natur zu halten, während die antike Darstellungsweise mehr auf künstlerischen Konventionen beruhte, welche aus den räumlichen Bedingungen und der religiösen und nationalen Bedeutsamkeit des attischen Theaters hervorgingen.
Wenn dessen abgeschlossene Vollendung also auch für die dramatische Dichtkunst in vielfacher Beziehung eine ewige Mustergültigkeit bewahren wird, so hat dagegen die Schauspielkunst äußerst wenig Anknüpfungspunkte für ihre Fortbildung darin zu finden.
Doch nicht in den heidnischen Religionen nur,2 auch in der christlichen Kirche ist das dramatische Element schnell zum Kultus herbeigezogen und zu ganz besonderer Eigentümlichkeit ausgebildet worden.
Es war eine Lebensbedingung für die Bildung der christlichen Kirche inmitten von Juden und Heiden, unter den Völkern, die nur in Anschauungen und Gefühlen lebten, dem Gottesdienste symbolische Formen, sinnbildliche Handlung zu geben. Die Bekehrten sollten in dem neuen Gottesdienste alles und schöner wiederfinden, was ihnen der alte geboten. Den Anteil der Gemeinde stets lebendig zu erhalten, wurde die Wechselrede zur Grundlage des liturgischen Systems, das aus Antiphonen und Responsorien bald den großen zwölfstündigen Sonntagsgottesdienst, die christliche Urliturgie, erschuf, die ein neuerer Schriftsteller3 in ergreifender Weise beschreibt und mit Recht das großartigste symbolisch-liturgische Drama nennt.
Wir müssen uns in jene Zeiten zurückversetzen, da die Gemeinde schon am Vorabende sich versammelte und bis Mitternacht in der spärlich beleuchteten Kirche in stillen Gebeten verharrte. Da plötzlich öffnen sich, beim Klange der Glocken, die heiligen Türen4 auf der Altarerhöhung, gleich den Pforten des Himmels. Der Presbyter, das Rauchfaß schwingend, durchschreitet die Kirche bis zur Vorhalle; die Thymianwolken lagern sich über die Gemeinde hin, ein Bild des Geistes Gottes, der da schwebt über den |32|Wassern. Der Diakon, eine brennende Kerze in der Hand, erinnert an den ersten Schöpfungsakt, da Gott sprach: „Es werde Licht!“ Die Stimmen der Gemeinden singen den 104. Psalm, die Priester kehren zurück in das Heiligtum, und die Türen werden, ein Sinnbild des Sündenfalles und der Verstoßung aus dem Paradiese, verschlossen.
Der Chor spricht jetzt in Psalmenversen sein Schuldbewußtsein und die Sehnsucht nach göttlicher Hülfe aus; „bei dem Herrn“, so schließt er, „ist Gnade und viel Erlösung bei ihm; und er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden“. Da eröffnen sich die heiligen Türen wieder, der Presbyter erscheint, tröstet die Gemeinde durch die prophetischen Verkündigungen des einstigen Erlösers und schließt mit Gebet und Segen den ersten Teil der Feier.
Mit Buß- und Klageliedern und dem wiederholten Rufe: „Herr erbarme dich!“ (Kyrie eleison) beginnt sie wieder und dauert so, bis die ersten Strahlen der Sonne den Anbruch des Tages des Herrn verkünden und man drinnen im Heiligtume den Priester den Lobgesang der Engel „Ehre sei Gott in der Höhe!“ anstimmen hört. Die Geburt des Heilandes wird gefeiert. Der Bischof tritt einfach gekleidet, um die glanzlose Erscheinung Christi auf Erden zu bezeichnen, begleitet von den übrigen Geistlichen, gleichsam den Jüngern, aus den heiligen Türen, er stellt, unter lobsingenden Chören, den in Israel wandelnden Erlöser dar. Verschiedene biblische Lektionen, endlich die Predigt, vergegenwärtigen das Lehramt Christi und schließen den zweiten Teil des Gottesdienstes.
Jetzt beginnen neue Wechselgebete zwischen Priester und Gemeinde um Gnadenverleihung; der Bischof sammelt die von Gemeindegliedern mitgebrachten Opfergaben an Wein und Brot, eines wird zum Opferlamm erwählt, dem Herrn dargebracht (Offertorium), das Leiden und der Kreuzestod symbolisch daran dargestellt und das Abendmahl vollzogen, so daß der Kulminationspunkt des Gottesdienstes, die Vereinigung Christi mit den Gläubigen im Sakrament, auch äußerlich mit der Mittagshöhe der Sonne zusammenfällt.5 – Wir werden sehen, welche theatralische Wichtigkeit weiterhin diese gottesdienstliche Feier erhält.
|33|Noch deutlicher bildete sich das kirchlich dramatische Element in der Feier der einzelnen Feste aus.
In der Weihnacht wurde vor der aufgebauten Krippe die Geburt des Heilands in Wechselgesängen zwischen Engeln und Hirten, zum Feste der unschuldigen Kindlein wurden die Klagen der Mütter von Bethlehem und ihre Flüche gegen Herodes in die Homilie eingeführt. Am Epiphanienfeste hielt Maria mit den drei Königen ein Gespräch, und in dieser Weise gestalteten sich fast alle Kirchenfeste.
Ganz besonders aber zeichnete sich schon frühzeitig die Feier des Ostertages durch seine dramatische Form aus.
Zwei junge Priester erschienen während des Gottesdienstes, in ihre Mäntel nach Art der orientalischen Weiber vermummt – ad similitudinem mulierum, wie noch spätere Rituale besagen –‚ welche die beiden Marien vorstellten und sich einer Seitenkapelle näherten, die als Grabeshöhle dekoriert war. Dort erschien ein weißgekleideter junger Priester als Engel, den goldnen Schein ums Haupt, und sang: „Wen suchet ihr im Grabe, ihr Christusverehrer?
Die Frauen
Jesum von Nazareth, den Gekreuzigten, du Himmelsbewohner.
Der Engel
Er ist nicht hier, er ist auferstanden, wie er vorher gesagt. Geht, verkündiget, daß er auferstanden aus dem Grabe.
Die Frauen
Die Juden mögen nun sagen, wie die das Grab bewachenden Soldaten den König verloren haben, trotz des davorgelegten Grabsteines, und warum sie den Fels der Gerechtigkeit nicht besser bewacht haben. Sie mögen uns entweder den Leichnam herausgeben, oder mit uns den Auferstandenen anbeten, das Halleluja anstimmend.“
Hiermit waren die Frauen zum Hochaltar zurückgekommen, wo die übrigen Geistlichen, als Darsteller der Jünger Jesu, standen, und sie berichteten ihnen:
„Zu dem Grabe kamen wir trauernd, wir sahen den Engel des Herrn dort sitzen und hörten ihn sagen, daß Jesus auferstanden.“
Auf diese Worte brachen Priester und Chor in den Lobgesang aus.
|34|So haben wir mit dieser Osterfeier schon eine abgeschlossene dramatische Handlung vor uns.
Als nun die zwölfstündige Sonntagsliturgie allmählich immer mehr, zuletzt bis auf die Dauer der heutigen Messe eingeschränkt wurde, die Kirche aber die anschauliche Darstellung der Geheimnisse des Erlösungswerkes nicht missen wollte, gab sie diesen eine selbständige Form, und aus dem dramatischen Gottesdienste wurde nun ein gottesdienstliches Drama, das Mysterium.
An bestimmten Festtagen wurde in der Kirche eine Bühne aufgeschlagen, auf welcher die Geistlichen den Inhalt der Liturgie dialogisch vorstellten, anfangs in seinem ganzen Umfange, bald geteilt in die verschiedenen Momente der Geburt, des Lebens, Leidens und der Auferstehung Christi; wobei die Gemeinde mit eingeschalteten Chorgesängen sich lebendig beteiligte.
Der Einfluß des attischen Theaters, der bei all diesen kirchlichen Einrichtungen unverkennbar ist, trat nun bei der Ausbildung des Kirchendramas immer deutlicher hervor. Die Grundelemente waren dieselben, die beabsichtigte Wirkung war es ebenfalls, und das griechische Drama bot eine schon vollendete Form dar. Wie im indischen und griechischen Drama die Erdenlaufbahn eines Gottes, der die Vergeistigung des menschlichen Geschlechtes vermittelte, der erste begeisternde Gegenstand gewesen, so war es im christlich kirchlichen Drama das Erdenleben des Gottessohnes.
Christus, im ganzen Umfange seiner Mittlerschaft, war die erste Aufgabe für das christliche Drama. Der Gottmensch war der Anfangspunkt für unsere Kunst der Menschendarstellung, wie er in allen ihren Erscheinungen ihr Gedankeninhalt und ihr Ausgangspunkt sein soll.
Eduard Devrient: „Ursprung des Dramas aus dem Gottesdienste“, in: ders.: Geschichte der deutschen Schauspielkunst Band 1, Henschel Verlag, Berlin 1967, S. 37 – 42 (Erstveröffentlichung 1848)
Philipp Eduard Devrient (1801 – 1877) war ein deutscher Schauspieler, Sänger und Theaterleiter. Seine mehrbändige Geschichte der Schauspielkunst hat bis in die Gegenwart grundlegende Bedeutung.
Sophokles war der erste Dichter, der seiner schwachen Stimme wegen nur in zweien seiner Tragödien mitspielen konnte.
Römischer Gottesdienst und römische Kunst können hier nicht in Betracht gezogen werden, beides war von den Griechen entlehnt.
Vgl. Heinrich Alt in seinem Buche Theater und Kirche, das überhaupt von großer theatergeschichtlicher Wichtigkeit ist.
Es ist merkwürdig genug, daß die drei Türen in der den Altarraum abschließenden Gitter- oder Bilderwand genau den drei Türen im Hintergrunde der Schaubühne des klassischen Altertums entsprechen und daß dort, wie hier, die Tür in der Mitte »die königliche« heißt.
Diese Urliturgie, welche sich im vierten Jahrhundert in der Kirche verbreitete, wird noch jetzt in den Kirchen Syriens und Palästinas in ihrer ganzen Ausdehnung von Mitternacht bis mittags 12 Uhr gehalten.