Theater der Zeit

Vorwort

von Anja Klöck

Erschienen in: Recherchen 62: Heiße West- und kalte Ostschauspieler? – Diskurse, Praxen, Geschichte(n) zur Schauspielausbildung in Deutschland nach 1945 (12/2008)

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»Gibt es einen Ost-West-Streit im deutschen Theater?« Mit dieser Frage beginnt ein journalistischer Beitrag zu den »Kampfspielen im Treibsand« in der Führungsetage der Berliner Kultur- und Theaterpolitik aus dem Jahr 2005. Von einer »Deckschicht über Mauerresten und verschütteten Abgründen, einer Unterwelt, in der Ost-West-Gespenster dahinhuschen«, wird da gemunkelt, und davon, dass »das Attribut Ost oder West vor den betreffenden Namen geschnallt« wird, »wenn es um Personalien geht«. Dass sich in Deutschland im Bereich des Theaters als Institution und öffentliche Praxis nach der sogenannten »Wende« im Jahr 1989 die Attribute »Ost« oder »West« an Berufsbezeichnungen heften und dass dadurch künstlerische und kulturpolitische Positionen bezogen oder zugeordnet werden, ist nichts Neues. In den neunziger Jahren wurde es besonders für Schauspieler quasi selbstverständlich, die Attribute Ost und West mit ihrer Berufsbezeichnung zu verbinden: Ost-Schauspieler, West-Schauspieler - diese Kategorien sind nicht nur in Theaterkreisen und an Schauspielschulen bekannt und gegenwärtig und bedeuten mehr als eine geografische oder systemische Herkunft. Sie wurden im öffentlichen Diskurs der neunziger Jahre zu künstlerischen Qualitätsmerkmalen.

Innerhalb der als »Streit« oder »Kampf« deklarierten, weil wenig differenziert geführten Debatten über deutsch-deutsche Kultur nach 1989 versammelten sich hinter den Begriffen vom West- und Ost-Schauspieler jeweils unterschiedliche Spiel- und Arbeitsweisen, vermittelte Menschenbilder und Theaterbegriffe, die beim Vergleich des Spiels von Schauspiel-Absolventen und -Absolventinnen ostdeutscher und westdeutscher Ausbildungsprogramme nach der Wende wahrgenommen wurden. In den Vorstellungen von einem »heißen«, sich einfühlenden, aus seiner Persönlichkeit heraus spielenden West-Schauspieler und einem »kalten«, technisch versierten, eher über den Verstand und analytisch arbeitenden Ost-Schauspieler polarisierten sich diese Unterschiede nach 1989 in den Reden über Theater zum dichotomen Stereotyp. Dass bei der Herausbildung dieser Stereotype auf bereits bestehende, sprachlich dualistische Deutungsmuster zurückgegriffen wurde, ist offensichtlich. Zum einen knüpft die Dichotomie vom Ost- und West-Schauspieler an das dualistische Konstrukt vom »heißen« Gefühls- und »kalten« Verstandes-Schauspieler an, mit dem in der deutschsprachigen Theatergeschichtsschreibung und im Bereich der Schauspieltheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bisweilen die Traktate und philosophischen Abhandlungen zum Schauspielen des 18. Jahrhunderts gedeutet wurden.5 Zum anderen vermittelt sich diese historisch verortete Dichotomie nach 1945 über einen angenommenen Methodendualismus zwischen Stanislawski (pro Einfühlung) und Brecht (kontra Einfühlung). Durch die ideologische Aufladung dieses vermeintlich schauspielmethodischen Dualismus im Kontext der Formalismus-Debatte der jungen DDR einerseits und des »Brecht-Boykotts« der jungen BRD nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstands in der DDR im Juni 1953 andererseits und ihre Umdeutungen im Kontext der postumen Brecht-Rezeption in den sechziger Jahren hatten Polaritäten wie jene vom heißen und kalten Schauspieler eine hohe Vermittlungswahrscheinlichkeit. Die Wirkmächtigkeit dieser ideologischen Aufladung zeigt sich nicht zuletzt in den Reden über deutsches Theater nach 1989: Die geografisch-politischen Attribute Ost - West werden nachhaltig mit der auf einen Methodendualismus zurückgeführten Polarität vom kalten und heißen Schauspieler verknüpft.

Als Frage formuliert, wie im Titel der vorliegenden Publikation, versuche ich die Wendung der Stereotype zu einer diskursanalytischen und historiografischen Suchformel. Anstatt abermals der Frage nachzugehen »Was ist dran am Vorurteil?« - eine Frage, die das Vorurteil immer schon als Wahrnehmungsmuster akzeptiert und seit Mitte der neunziger Jahre mehrfach von Journalisten an Theatermacher gerichtet wurde -, spüre ich im ersten Teil zunächst der Produktion dieser Stereotype in den Diskursen nach 1989 nach und ordne sie in einen Langzeitprozess dualistischer Deutungen nach 1945 ein. Anhand dieser Theaterfachund Wissenschaftsdiskurse arbeite ich die sprachliche Sinnkonstituierung und Wissensnormierung durch die Kategorien »heiß« und »kalt«, »West« und »Ost« in Bezug auf Schauspielen und Schauspielausbildung heraus. Der zweite Teil des Buches knüpft an den ersten insofern an, als hier die Frage fokussiert wird, ob und wenn ja, welche schauspiel - methodischen Unterschiede sich nach 1945 in Deutschland in Wechselwirkung mit kulturpolitischen Programmen diskursiv herausgebildet haben. Der historische Schwerpunkt liegt hierbei auf den Programmatiken und Institutionalisierungsprozessen öffentlicher Schau spielaus - bildung der Jahre zwischen 1945 und 1949, die teilweise weichenstellend für unterschiedliche Theaterbegriffe und Verkörperungskonzepte waren, teilweise aber auch von späteren Entwicklungen überlagert oder gebrochen wurden. Im dritten Teil soll schließlich mit einer Polyphonie der »Sprecher« den unterschiedlich erinnerten Erfahrungen und den unterschiedlichen Weisen, über Schauspielausbildung zu reden, Raum gegeben werden. Die Geschichten von ehemals Lehrenden und Studierenden in jenen Abteilungen, die auch im dritten, historischen Teil im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, spannen einen zeitlichen Horizont zwischen den »Schnitten« durch die Diskurse nach 1989 und 1945 im ersten Teil und durch die Diskurse, Praxen und Institutionalisierungsprozesse nach 1945 im zweiten Teil auf. Sie sind nicht nur Beiwerk des analytischen und des historischen Teils, sondern notwendiges Korrektiv. Sie machen das Spannungsfeld zwischen Diskurs-Geschichte, Institutions-Geschichte und Praxis-Geschichte(n) sichtbar und erinnern an die Differenz von erlebten Vorgängen und ihrer sprachlichen Vermittlung. In Bezug auf die Stereotype vom heißen West- und vom kalten Ost-Schauspieler widerspricht die Heterogenität der Beiträge jeder polarisierenden Kategorisierung, auch wenn historisch bedingte Unterschiede Spuren in den unterschiedlichen Lebenserfahrungen hinterlassen haben. Ziel des dritten Teils ist es, trotz der Kürze der einzelnen Beiträge, diese historisch bedingten Unterschiede in ihrer jeweiligen Verortung erkennbar zu machen.

In Bezug auf das Forschungsprojekt »Systemische Körper? Kulturelle und politische Konstruktionen des Schauspielers in schauspielmethodischen Programmen Deutschlands 1945 - 1989« stellt dieses Buch einen Problemaufriss sowie erste Ergebnisse aus der Archivforschung vor. Eine umfassende Auswertung und Aufarbeitung der Wechselwirkungen zwischen kulturpolitischen Programmen und Schauspielausbildung in Deutschland in einem historischen Langzeitprozess über die hier fokussierte unmittelbare Nachkriegszeit und über die hier gesetzten diskurs - analytischen »Schnitte« hinaus wird im Zuge der noch zu leistenden Forschungsarbeit erfolgen.

 

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