Auftritt
Schauspiel Stuttgart: Allgemeine Gereiztheit
„Im Ferienlager“ von Olga Bach (UA) – Regie Jessica Glause, Bühne Jil Bertermann, Kostüme Florian Bruder, Musik Joe Masi, Chorleitung Amelie Erhard
Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Dossier: Neue Dramatik Olga Bach Schauspiel Stuttgart
Ziemlich merkwürdig, dieses Sommercamp. Die Jugendlichen schwören zwar auf einen superkorrekt heutigen Kodex gegen Ausgrenzung, Missbrauch und mehr. Doch sie weigern sich partout, englischsprachige Songs wie „Waterfalls“ anzustimmen. Die neue Chorleiterin will wissen, warum. „Wir fühlen uns nicht wohl damit“, formulieren sie im „Awareness“-Tonfall und schieben den Vorwurf „Kulturelle Aneignung“ nach. Aus dem Radio wird der Hitler-Putsch 1923 vermeldet, auch von Milliarden Reichsmark und französischer Besatzung ist die Rede, während Gruppen-Außenseiter Emil gerne Beyoncé singt und das „voll fly“ findet. Klar, derlei Stolperstellen, Anachronismen und bizarre Koinzidenzen lassen aufhorchen. Das Publikum muss denn auch im Geist die verquirlten Zeitebenen des Textes erstmal sortieren: Hier Inflation und Deutschtümelei, dort Wokeness und „Waterfalls“? Olga Bach, studierte Juristin und seit ihrem Debüt 2016 eine von Bern bis Berlin viel aufgeführte Dramatikerin mit ausgeprägtem Sensorium für Bruchlinien unserer Zeit, kehrt nach ihrem Erstroman „Kinder der Stadt“ wieder zum Sprechtheater zurück. „Im Ferienlager“, ihr Auftragsstück fürs Schauspiel Stuttgart, kam nun in der Regie von Jessica Glause zur Uraufführung im Kammertheater.
Bachs Text jongliert virtuos mit falschen Fährten und konkreten Spuren. Vordergründig dreht sich der Plot um eine Jugendfreizeit auf dem Land nahe Mannheim. In zweiter Ebene geht es um die schleichenden Problemzonen bestimmter Milieus der Weimarer Republik. Vieles bleibt absichtsvoll im Vagen. Die Jugendlichen treiben rhythmische Sportgymnastik, formieren sich aber auch zu okkulten nächtlichen Prozessionen. Manches erinnert an frühe ökologische Alternativkulturen der 1920er, anderes an Sekten-Clans, an Querdenker-Foren, an Esoterik-Kreise, an obskurante Zirkel. Bach zeigt subtil und verblüffend, wie vielleicht anfänglich noch nachvollziehbare Ideale sich langsam ins Gegenteil verkehren. Der Erzieher des Sommercamps säuselt von einem mutigen, frohen und naturnahen „Leben ohne Angst“, und kurz später wird er in finsterer Ku-Klux-Klan-Manier am Lagerfeuer Reden über den Hexenprozess gegen eine Agatha Huber aus Unterlunkhofen schwingen, der für 1580 historisch verbürgt ist. Apropos Ausgrenzung: Da Emil es wagt, englisch zu singen, wird er prompt von der Gemeinschaft gemobbt. Und der geschürte Hass auf „Kolonialsoldaten“ eskaliert bald im grausamen Mord an einem „Franzmann“. Kurz, unter der scheinbar achtsamen, verständnisvollen Oberfläche („sie weinen immer zusammen“) brodelt, kocht und zischt es gewaltig. Bachs Text über ein historisches Ferienlager verweist so auch unausgesprochen auf heutige Diskurse über die Erosion demokratischer Strukturen.
Regisseurin Jessica Glause vermeidet optisch historische Konkretionen, erzählt das alles in einer eher zeitlosen Sphäre. Dominiert wird die Bühne (Jil Bertermann) von einem riesigen Kuppelgebilde, das, irgendwo zwischen Forschungszentrum, Tempel und Sternwarte, nur entfernt an das erste, 1920 eröffnete Goetheaneum von Rudolf Steiner im schweizerischen Dornach erinnert. Auch die Bach’sche Figur des Kette rauchenden Heimleiters Heinrich, eine Anspielung auf Emil Molt, den Zigarettenfabrikanten und Mitgründer der ersten Waldorfschule 1919 in Stuttgart, mag in diese Richtung deuten. Doch in Glauses Regie könnten die Jugendlichen auf der Bühne im Kurzhosen-Outfit alles Mögliche sein, ein düsterer Schwarzhemden-Trupp, ein verspieltes Cheerleader-Team, Täter und Opfer zugleich.
Jedenfalls agiert dieser Chor aus rund 15 Jugendlichen auf den Punkt synchron und in immer neuen Schwarm-Formationen wie ein Kollektivorganismus, der andere Wesen eingliedern, aber auch wieder ausstoßen kann. Sebastian Röhrle stattet seinen Heimleiter, der raunend eine „allgemeine Gereiztheit unserer Zeiten“ diagnostiziert, mit diabolisch jovialem, abgründigem Entertainment-Charme aus, und der Erzieher Luis (Simon Löcker) pflegt bei den Jugendlichen sein gefährlich unergründliches Guru-Image. Lediglich die Journalistin Ruth (Celina Rongen) wittert das ungute Potenzial dieses Ferienlagers, während die patente Chorleiterin Luise (Silvia Schwinger) es zunächst nicht wahrhaben will. Emil schließlich (Oskar Marx), der gemiedene Gruppen-Outsider, sucht in solch grenzwertigem Umfeld traumatisiert Zuflucht bei Empowerment-Songs wie „You won’t break my soul“.
„Im Ferienlager“ von Olga Bach ist ein beziehungs- und anspielungsreicher Text, gespickt mit Geschichtsdetails, Film- und Musikzitaten. Mit dem Song „Mir ist so nach dir“ etwa deutet Bach unausgesprochen das Ende der Republik an: Mischa Spoliansky, Komponist auch einer der ersten Schwulen-Hymnen „Das lila Lied“, musste 1933 emigrieren, Texter Marcellus Schiffer beging 1932 Suizid. Die Stärke des Stücks besteht in seiner Fluidität und Mehrdeutigkeit: ein schillerndes Netz aus Schlaglichtern auf die Geschichte, aus Fakten, Gerüchten und blitzartig gestreiften Manifestationen von Psychoterror, Sozialdarwinismus und Gewalt. Bach skizziert bereits brüchige, ins Autoritäre driftende gesellschaftliche Milieus, die sie sprachlich mit Tendenzen der Gegenwart verlinkt. Glauses Inszenierung realisiert diese Mischung aus Thriller, Musical und Zeitdiagnose kühl, klar und unaufgeregt. Sicher, es geht auch anders. Spektakulärer. Expliziter. Zugespitzter. Doch gerade indem Glause darauf verzichtet, trifft sie das Kipplige, Unruhige, Bedrohliche – damals wie heute.
Erschienen am 16.1.2025