Theater der Zeit

Thema

Defrosting Thai Culture

Das interdisziplinäre Kollektiv un.thai.tled im Gespräch

von Theerawat Klangjareonchai, Raksa Seelapan, Kantatach Kijtikhun, Prapatsorn Sukkaset, Mascha Erbelding und Magali Tosato

Erschienen in: double 47: Puppets of Color – Postkoloniale und antirassistische Ansätze im Figurentheater (04/2023)

Assoziationen: Asien Schaubude Berlin

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Im August 2022 nahmen einige Mitglieder von un.thai.tled an einer Forschungsresidenz in der Schaubude Berlin teil. Fernab von einfachen Kategorisierungen und Stereotypen bietet das von Sarnt Utamachote in Berlin gegründete Kollektiv thailändischen Kunstschaffenden eine Plattform, um sich in der deutschen Kunstszene zu behaupten. Kantatach Kijtikhun ist Fotograf und Musiker, Theerawat Klangjareonchai Medienkünstler, Raksa Seelapan Performance-Künstlerin und Prapatsorn Sukkaset Bühnenbildner; alle haben eine Zeit lang in Europa studiert und teilen die Erfahrung, im Ausland zu leben, inklusive der Herausforderungen, die dies mit sich bringt.

Als Mentorin für ihr Projekt „Defrosting Thai Culture“ durfte ich ihren Prozess des „Defrosting“, des „Auftauens“ begleiten, eine emotionale Erfahrung der Selbst-Befragung, die sie mit einem begeisterten Publikum bei ihrer Abschlusspräsentation teilten. Das Projekt legt einen besonderen Fokus auf das epische Gedicht „Phra Apai Mani“ von Sunthorn Phu, das während der Zeit der westlichen Kolonisierung von Südasien geschrieben wurde. Es erzählt die Geschichte des Prinzen Phra Apai Mani, der von seinem Vater vom Hof verbannt wird, weil er gegen dessen Willen das Spielen einer magischen Flöte erlernt hat. Eines Tages verliebt sich eine Meeresriesin in ihn und entführt ihn in ihre Unterwasserhöhle. Der Prinz lebt acht Jahre lang in der Höhle, bevor er seine magische Flöte nutzt, um die Riesin durch seine Musik zu verzaubern und zu fliehen. Warum ist der Prinz so lang in der Höhle geblieben? War er verzweifelt, hatte er Angst oder hat er sich womöglich dort allzu wohl gefühlt? Entlang dieser Fragestellung reflektieren die Mitglieder*innen von un.thai.tled auch ihr eigenes ambivalentes Verhältnis zu ihrer Heimat und ihrem kulturellen Erbe.

Einerseits konfrontiert das Bühnenbild das Publikum mit einer sehr klar definierten, abgeschlossenen Welt; das Publikum sitzt vor einem Achteck aus weißen Wänden in einer leeren Black Box, und die zwei Performer*innen im Achteck spielen mit starken Symbolen wie einer Krone, einem Musikinstrument oder einer Schnur, die sie verbindet. Andererseits dekonstruieren sie mit einem Spiel aus digital und analog erzeugten Schatten immer wieder dieses klare Setup. Beispielsweise beginnt die Aufführung mit einer abstrakten Schattenform, die sich später in zwei figürliche Schatten teilt. Schnelle Lichteffekte lassen die große Riesin klein werden, analog erzeugte Schatten werden durch digitale ersetzt, die plötzlich Gesicht und Gefühle der Riesin offenbaren. In der Arbeit von un.thai.tled entspricht der Prozess des „Auftauens“ der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Welten zu wechseln und somit multiple Perspektiven einzunehmen. Ihre Inszenierung macht diesen besonderen Ansatz greifbar.

Zur Zeit des Interviews war nur einer der vier Künstler*innen, Kantatach Kijtikhun, noch in Berlin. Raksa Seelapan lebt in Hamburg, Theerawat Klangjareonchai in Bangkok und Prapatsorn Sukkaset ist gerade aus Berlin nach Thailand zurückgekehrt. Das Interview fand über Zoom statt.

Zwischen Thailand und Deutschland

Magali Tosato: „Defrosting thai culture“ ist eure erste Zusammenarbeit in dieser vierköpfigen Konstellation. Hierfür habt ihr sehr unterschiedliche visuelle Techniken genutzt, dazu Schauspiel und Musik, und das sehr virtuos, wie ich finde. Was ist das Geheimnis eures kreativen „Flows“?

Prapatsorn Sukkaset: Wir haben alle unterschiedliche Spezialisierungen, Berufswege und Ausbildungshintergründe. Dadurch kommen viele verschiedene Zutaten auf den Tisch. Wir gehen alle anders an unsere Arbeit heran. Aber uns allen macht es Spaß, unsere Ideen miteinander zu teilen, was unserem Projekt sehr zugute kommt.

Kantatach Kijtikhun: Wir haben das Projekt gemeinsam entwickelt und dabei nie über die theoretischen Grundlagen unseres künstlerischen Schaffens diskutiert. Zwischen uns gibt es so etwas wie ein natürliches Einverständnis. Wenn es allerdings um wichtige politische Themen wie Kolonialismus, Rassismus oder Migration geht, dann haben wir meist ähnliche Anschauungen, anders würde es auch nicht gehen. Zum Beispiel hat die Thai-Sprache viele hierarchische Begriffe, aber wir haben uns dafür entschieden, untereinander sehr neutrale Ausdrücke zu verwenden, und sind insgesamt äußerst respektvoll miteinander umgegangen.

Hat die Tatsache, dass euer Projekt in Berlin entstanden ist, einen großen Einfluss auf eure Arbeit?

K. K.: Ich würde sagen, ja. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, über die Traumata meiner Kindheit, über meine Hass-Liebe zu meiner Herkunft nachzudenken. Es ist einfacher, das im Ausland zu machen. Vor kurzem bin ich nach Thailand zurückgekehrt, nachdem ich vier Jahre weg war, um wieder in das Leben dort eintauchen und die Realität meiner Kindheit von der Realität der Gegenwart trennen zu können. Als das Flugzeug landete, dachte ich an unser Stück und fragte mich: „Gehe ich jetzt zurück ins Achteck?“ Und als ich dann wiederum nach Berlin zurückkam, fühlte ich mich wie in einem Paralleluniversum, ich musste mich erst wieder anpassen, musste meine Freund*innen treffen, um auch wieder in dieser Realität anzukommen. Ich glaube, es ist ein Vorteil für das Stück, in Berlin gezeigt zu werden, weil Berlin eine Stadt der Migrant*innen ist, der freiwilligen und unfreiwilligen. Viele Menschen hier teilen diesen Moment der Reflexion über ihre Herkunft. Menschen, die aus dem Ausland kommen und versuchen, ein Leben in Berlin aufzubauen, verstehen das Stück wirklich und lassen sich emotional darauf ein.

Warum habt ihr Sunthorn Phus Gedicht „Phra Apai Mani“ als Ausgangspunkt genommen?

K. K.: In Thailand kommt niemand an „Phra Apai Mani“ vorbei, weil es eines von Sunthorn Phus bekanntesten Werken ist. Weil wir über die Realität und unser kulturelles Erbe sprechen wollten, haben wir Material gesucht, das möglichst viele kennen.

Raksa Seelapan: Während der ersten Woche der Residenz haben wir uns viel mit der Motivation und den Hintergrundgeschichten der Figuren beschäftigt. In der Schule haben wir das Gedicht zwar behandelt, aber ohne es kritisch zu hinterfragen. Jetzt haben wir zum ersten Mal versucht, uns dem Text auf andere Weise zu nähern. Dabei war dieser Prozess für uns, als Thais, ein bisschen wie ein „Defrosting“ unserer Art zu kritisieren.

Perspektivwechsel im Schattenspiel

Wie kam es zu der Entscheidung, zum ersten Mal mit Puppentheater und speziell mit analogen und digitalen Schatten zu arbeiten?

P. P.: Ich denke, wenn man etwas über Schatten erzählt, wird es internationaler. Es geht nicht darum, dem Publikum direkt etwas über unsere Kultur zu vermitteln. Schatten lassen eine offene, freiere Deutung zu.

K. K.: Das hängt aber auch mit einigen traditionellen Formen des thailändischen Theaters zusammen, in denen Schatten und Puppen eingesetzt werden. Wir haben diese Ideen aufgegriffen und sowohl Schatten als auch eine „menschliche Puppe“ verwendet.

Theerawat Klangjareonchai: Wir wollten auch auf Platons Höhlengleichnis anspielen. Das Setting ist ähnlich, Phra Apai Mani ist auch in einer Höhle eingeschlossen. In unserem Bühnenbild ist die Höhle ein Achteck. Diese Idee entstammt auch dem Gedicht, das in einer sehr spezifischen Struktur von 8 mal 8 Wörtern verfasst ist.

K. K.: Das Achteck entwickelte sich in unserer Arbeit zu einem zentralen Symbol. Es steht für soziale Konstrukte, religiöse Vorstellungen, Elternschaft – alles, was ein Individuum ausmacht. Draußen ist nur das Nichts. Aber das Nichts bedeutet auch, dass das Individuum frei ist zu erforschen und etwas aufzubauen, abseits der sicheren Grenzen von Tradition oder sozialen Konstrukten.

T. K.: Uns hat Platons Idee, dass Realität eine Frage der Perspektive ist, angesprochen. Die Menschen, die in der Höhle bleiben, sehen nur Schatten. Ein Mensch, der herauskommt, sieht die Sonne und alles in 3D. Aber wenn er zurückgeht, um den anderen von der Realität, die er erlebt hat, zu erzählen, halten ihn alle in der Höhle für verrückt. Genau so geht es uns, wenn wir zurück nach Thailand gehen und dort den Leuten erzählen, was uns in Berlin passiert ist. Wir sehen die Realität nicht aus derselben Perspektive. Deshalb wollten wir mit multiplen Perspektiven, mit Größenänderungen, mit verschwommenen Grenzen arbeiten.

K. K.: Ich glaube, es ist für alle wichtig, nicht nur für Künstler*innen, die Realität immer wieder zu hinterfragen. Das ist eine existenzielle Pflicht, denn wenn wir mehr sehen, verstehen wir auch mehr und kommen besser mit uns selbst zurecht.

Wenn eure früheren Lehrer*innen zu eurer Aufführung gekommen wären, wie hätten sie reagiert?

Alle lachen.

R.S.: Ich glaube, wir würden alle gerne ihre Reaktionen sehen, denn für sie wäre unser Stück wahrscheinlich ziemlich verstörend. Wie wir die Meeresriesin darstellen, ist definitiv wenig traditionell. Und stellt damit auch das Bildungssystem infrage.

P. P.: Sie würden sich z. B. sicher fragen, warum wir die Krone so eingesetzt haben, weil sie einen hohen Rang symbolisiert. Natürlich haben wir sie genau deswegen ausgewählt, wir wollen so die starken Hierarchien hinterfragen, die unser Bildungssystem bestimmen.

Deutung offen

Welches Feedback habt ihr bisher bekommen?

K. K.: Viele Leute haben uns verstanden, was mich wirklich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass die Zuschauer*innen die Symbole so gut deuten können, mit denen wir gearbeitet haben. Aber den meisten erschließt sich unsere Auseinandersetzung mit Macht und Tradition, und sie verstehen das emotionale Dilemma, mit dem wir uns beschäftigen. Das macht mich glücklich. Ich würde auch gerne mit denjenigen sprechen, denen unser Stück Rätsel aufgibt, um ihre Perspektive besser nachvollziehen zu können.

P. P.: Auf jeden Fall respektieren wir jede Deutung unserer Aufführung. Ich erwarte nicht, dass jeder eins zu eins versteht, was wir kommunizieren wollen. Es ist am besten, Raum für Interpretation zu lassen. Prinz und Meeresriesin könnten auch ein- und dieselbe Person sein. Es müssen nicht Mutter und Kind oder Lehrer und Schüler sein. Es könnte auch eine Figur sein, die mit ihrer Identität und ihrer eigenen Wahrnehmung der Realität hadert. Sogar in unserem Team haben wir unterschiedliche Interpretationen. –

unthaitled.org

Aus dem Englischen von Mascha Erbelding

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