Theater der Zeit

Auftritt

Wiener Staatsoper: Der Gesangswettbewerb

von Susanne Dressler

Assoziationen: Musiktheater Österreich Theaterkritiken Wiener Staatsoper

„Die Meistersinger von Nürnberg“ an der Wiener Staatsoper, Musikalische Leitung Philippe Jordan, Inszenierung Keith Warner. Foto Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
„Die Meistersinger von Nürnberg“ an der Wiener Staatsoper, Musikalische Leitung Philippe Jordan, Inszenierung Keith WarnerFoto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

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Zum Gottesdienst zu Ehren Johannes des Täufers schreiten die Damen und Herren des Chores nicht nur in anmutigen Kostümen aus dem sechszehnten Jahrhundert, sondern auch in Reifröcken des frühen neunzehnten Jahrhunderts und in Kleidung aus den dreißiger Jahren. Zum Schluss kommt das Hier und Jetzt – es steckt im zeitlosen Outfit: strenge Formen, aber gutes Tuch. Nach den ersten zehn Minuten kennen sich die Zuseher:innen aus: Hier geht es um Allgemeingültiges. Eine Männerrunde formiert sich, um einen Wettkampf vorzubereiten. Es gilt, den besten Sänger unter den Nürnberger Gewerbetreibenden zu küren, heute würde man sagen „Nürnbergs Meister suchen den Superstar.“

Richard Wagner lässt zu, dass sich der Goldschmied Veit Pogner weit aus dem Fenster lehnt: Wer in diesem Jahr das beste Lied singt, komponiert und textet, darf sich seine Tochter Eva als Braut holen. Der eine oder andere rechnet sich große Chancen aus, wie zum Beispiel Sixtus Beckmesser. Aber auch der Grandseigneur unter den Meistern der Stadt, Witwer Hans Sachs, spekuliert im Stillen über eine mögliche Eheschließung. Und dann kommt ein neuer Kandidat: Kaum stört jemand von außen ein gut geöltes und bewährtes System, gibt es Probleme. Walther von Stolzing kümmert sich wenig um komplizierte Regeln, um Traditionen, er will einfach Eva erobern. Um den Inhalt der fünfstündigen Oper abzukürzen: Alles fügt sich. Hans Sachs verzichtet aus Liebe auf Eva, Beckmesser blamiert sich beim Auftritt und fällt als Sieger durch, also hat Stolzing – dank intensivem Text-und Vers-Training bei Hans Sachs – freie Bahn und beeindruckt mit seinem ungewöhnlichen Vortrag.

Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ sind keine leichte Kost der Opernliteratur. Es ist aber – trotz so manchem ermüdenden Abschnitts – eine große Erzählung über Liebe, Verzicht, Verlust, Wettbewerb und dem ewigen Kampf zwischen Tradition und Moderne. Der Plot könnte auch in einer Vorstandsetage angesiedelt sein, wo man, mit bestimmten Skills ausgestattet, nach Regeln spielen muss um weiterzukommen. Wer nicht kapiert oder verstehen will, wie das System funktioniert, ist schnell abgewählt. Denn Kontrolle über das Bewährte, das Bekannte ist stets da. In der Oper funktioniert diese über die Gestalt von Beckmesser. Ein pedantischer, kleinlicher wie kriecherischer Kritiker, der aber letztendlich scheitert. Beckmessern ist übrigens ein Wort, das in den Duden aufgenommen wurde.

Regisseur Keith Warner führt alle Darsteller:innen mit Sorgfalt durch diese Welt, überbrückt an den richtigen Stellen mit gelungener Optik (Bühne: Boris Kudlička) aufkeimende Fadesse und lotet die Charaktere tief aus. Er stellt die Figur des Hans Sachs in den Mittelpunkt, was bei der Besetzung der Rolle durch Michael Volle eine kluge Entscheidung ist. Der Bariton gibt den Denker und Grübler, vom Schicksal gebeutelten, von Zweifeln geplagten schlagfertig und ein klein bisschen hinterhältig und singt bis zum letzten Ton auf höchstem Niveau. Die zweite starke Person des Abends ist Wolfgang Koch als bereits erwähnten Beckmesser, der verschlagener nicht sein könnte und doch hat man Mitleid nach seinem Absturz. Georg Zeppenfeld als Veit Pogner ist so souverän wie man ihm immer kennt. Hanna-Elisabeth Müller als Eva zeigt sängerische Durchsetzungskraft und darf glaubhaft beweisen, dass sie sich nicht kampflos als Preis überreichen lässt. Als sie befürchten muss, dass Stolzing scheitert und sie bei Beckmesser landen könnte, umschmeichelt sie Hans Sachs in der Hoffnung auf einen für sie gangbaren Ausweg. David Butt Philip ist ein lyrischer Stolzing, der den Part tadellos bewältigt, aber letztendlich farblos bleibt. Seine Figur teilt das Schicksal vieler Kollegen in Opern: Tenören wird selten ein facettenreicher Charakter in die Kehle geschrieben. Der Personalaufwand bei den „Meistersingern“ ist kein geringer, neben dem fixen Chor der Staatsoper, dürfen auch ein Extrachor, Mitglieder des Opernstudios und der Chorakademie auf die Bühne. Dirigent Philipp Jordan gibt mit dem Staatsopernorchester Gas, die musikalische Wogen branden durch das Haus. Der Orchestergraben ist mit Musikern voll besetzt und sie lassen die Töne strahlen, hell und manchmal scharf, aber unüberhörbar. Die musikalische Dichte in manchen Stellen der Partitur fordert von den Zuhörer:innen volle Aufmerksamkeit, dann wiederum rollt der Fluss der Töne recht tröge dahin, immer wieder unterbrochen von wundersam lyrischen Momenten. Der Lobgesang auf die deutsche Kultur könnte den Schluss verderben, doch Keith Warner stellt dem altväterlichen Lied den Chor, ausgestattet mit internationalen Werken der Weltliteratur in Händen, entgegen. Der Jubel beim Publikum ist groß als der Vorhang fällt. Michael Volle wirkt erschöpft, kein Wunder. Man wünscht ihm eine erholsame Nacht.

Erschienen am 22.12.2022

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