Theater der Zeit

Auftritt

Theater Magdeburg: Nonsens aus dem Kaninchenbau

„Alice im Wunderland“ von Gerald Barry, Libretto vom Komponisten nach Lewis Carroll – Musikalische Leitung Jérôme Kuhn, Regie Julien Chavaz, Bühne Anneliese Neudecker, Kostüme Severine Besson, Masken Julia Kreuziger

von Lara Wenzel

Assoziationen: Musiktheater Theaterkritiken Sachsen-Anhalt Theater Magdeburg

Doğukan Kuran, Alison Scherzer, Adam Temple-Smith und Stefan Sevenich in „Alice im Wunderland“. Foto Andreas Lander
Doğukan Kuran, Alison Scherzer, Adam Temple-Smith und Stefan Sevenich in „Alice im Wunderland“Foto: Andreas Lander

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Immer höher springt die Stimme der Sopranistin, die sich auf den vorderen Rand des Orchestergrabens stützt. Ohne Exposition beginnt der Sturz ins Wunderland, den Alison Scherzer mit durchdrehenden Läufen ausmalt. Dort begegnen ihr allerhand Fantasiewesen, tanzende Kuchen und sprechende Blumen, die in wildem Reigen von der Drehbühne ins Sichtfeld geschoben werden. Wie der Kinderbuchklassiker „Alice im Wunderland“ zerfällt die gleichnamige Oper Gerald Barrys in traumhafte Sequenzen, die sich einer wachen Logik entziehen. Zwischen den fantastischen Klang- und Bühnenarrangements erklingen auch düstere Töne. Neben der Angst geköpft zu werden, droht Alice, nicht mehr aus dem Reich der Herzkönigin zu erwachen – bis sie im letzten Bild den Spieß umdreht und der Königin den Kopf abnimmt, um sich selbst zu krönen.

Gemurmel und Lachen begleitet das zeitgenössische Stück Musiktheater ab zehn Jahren, das am Magdeburger Opernhaus seine deutschsprachige Erstaufführung feiert. Ohne eine aufbauende Handlung schreitet der rasante Abend voran. „Man sitzt und schnallt sich an und erlebt eine Stunde lang verrückte, elektrisierende Bilder“, erklärte Regisseur Julien Chavaz seine Herangehensweise im Gespräch mit mdr-Kultur. Die Kinder im Publikum nehmen keinen Anstoß an der Genre-sprengenden Form, sie begrüßen den einstündigen Strudel aus komischen Einfällen und den experimentellen Umgang mit Gesang.

In den Übertiteln erscheinen ausgewählte Regieanweisungen, die den lautmalerischen Einsatz kommentieren. „Aufgeregtes Babygeschrei“ übersetzt sich auf der Bühne in ein sehr verträgliches „Wah Wah Wah“ zu dem Adam Temple-Smith, Adran Dwyer, Doğukan Kuran und Stefan Sevenich Einzelteile einer riesigen Babypuppe rhythmisch schwenken. Die stimmlichen Variationen, die Mittel der Oper, werden während des Krocketspiels im Garten der Herzkönigin selbst zum Thema. Musikalische Anweisungen für Klavier und Gesang, die auf Französisch, Englisch und Deutsch wiederholt werden, kommentieren die Performance der Teilnehmerinnen. Statt den in England beliebten Sport mit Schläger und Ball nachzustellen, werden Läufe, Oktavsprünge und Triller vorgeführt. Die Alice-Darstellerin Scherzer meistert den spielerischen Umgang mit der Stimme hervorragend. Mit beeindruckenden Koloraturen fängt sie den Gemütszustand des Mädchens ein, der zwischen kindlicher Neugierde und einer im Traumland Verlorenen changiert.

Jede Schleife der Drehbühne führt tiefer in den wunderlichen Irrgarten, der sich vor einer bis zur Bühnendecke ragenden Wand entfaltet. Vor dem grünen Tapetenblattwerk nehmen die Kostüme, (Severine Besson), immer ausgefallener Formen an. Im ersten Bild hoppelt das weiße Kaninchen noch im grauen Overall und einem Hasenkopf aus Sackleinen über die Bühne. Während Alice‘ Outfit, leuchtendes Kleid mit Sneakern, als roter Faden durch die Inszenierung leitet, erstrahlen rings um sie immer prächtigere Stoffe und Schnitte, in denen sich die Proportionen verschieben. Zwischen den breiten Schultern verschwinden die winzigen Köpfe der Königsfamilie und das Gesicht Humpty Dumptys (Stefan Sevenich) rutscht in den Bauch, während er in langen Melodiebogen ein herzergreifendes Nonsensgedicht vorträgt. Jede der fünfzig Wunderlandbewohner:innen trägt ein eigenes Gewand. In den Einfällen aus Strickperücken, Galaxy-Leggings und Hosenanzügen eröffnet sich ein eigenes Fantasiereich.

Barry, der diese Spielzeit als Komponist am Theater Magdeburg residiert, schuf mit seiner Neuvertonung ein humorvolles Sprach- und Klangspiel, das mit viel Schwung und Ironie vom musikalischen Leiter Jérôme Kuhn zum Erklingen gebracht wurde. Musik, Spiel und Gestaltung verbinden sich zu meisterhaftem Unsinn. Der Klang der Stimme tritt als Medium in den Vordergrund, während ein verständlicher Inhalt in Gedichten wie „Jabberwocky“ – vorgetragen in drei Sprachen – abhandenkommt. Ein Angriff auf die Ratio, der keine großen Arien oder konfliktreiche Handlungsbögen nötig hat und Erwartungen an klassische Oper durchkreuzt.

 

Erschienen am 25.5.2023

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