Theater der Zeit

Recherchen zum Stadttheater der Zukunft

Eine Einleitung

von Josef Mackert, Heiner Goebbels und Barbara Mundel

Erschienen in: Arbeitsbuch 2011: Heart of the City – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft (07/2011)

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Der äußere Anlass für dieses Arbeitsbuch war der 100. Geburtstag des Stadttheaters in Freiburg. Die Jubiläumsspielzeit 2010/11 wurde begleitet von der Kunstaktion „(HE)ART OF THE CITY", die die neuen Wechselbeziehungen von Theater und Stadt zum Thema macht und die Frage diskutiert, wie das Stadttheater der Zukunft dem Anspruch genügen kann, das „Herz" einer Stadt zu sein, pulsierendes und vitalisierendes Zentrum, das den Austausch verschiedener Ströme organisiert und in immer neuen Anläufen das Alte und Neue in ein kreatives Mischverhältnis bringt. Im Gespräch mit Harald Müller vom Verlag Theater der Zeit entstand die Idee, in diesem Zusammenhang ein Arbeitsbuch zu machen, das nach der Zukunft des Stadttheaters fragt. Motiviert aus der gegenwärtigen Arbeit des Theaters in Freiburg, aber unabhängig von den besonderen Bedingungen nur dieses einen Hauses, sollte ein Materialienband entstehen, der unterschiedliche Fragestellungen und Infragestellungen zu diesem Thema versammelt. Das konnte nicht allein aus der Freiburger Perspektive und nicht nur aus der Innenperspektive eines Stadttheaters gelingen.

Das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen befasst sich seit Langem sowohl wissenschaftlich als auch künstlerisch mit Fragen nach der Zukunft des Theaters. Seine Studierenden und Absolventen orientieren sich eher an der sogenannten freien Szene, haben aber in den letzten Jahren immer wieder auch mit den großen Institutionen Erfahrungen gemacht und sich mit ihnen zu mehr oder weniger festen Formen der Zusammenarbeit verabredet. Seit Gründung der Hessischen Theaterakademie, zu der auch das Gießener Institut gehört, erhalten die Absolventen dieses Ausbildungsverbundes zum Beispiel bei Diplominszenierungen die Gelegenheit zu „Praxisschocks" an allen Stadt- und Staatstheatern in und um Hessen (sowie am Künstlerhaus Mousonturm). Das hat auf beiden Seiten Veränderungen und (selbst-)kritische Diskussionen provoziert.

In der besonderen Konstellation unserer Herausgeberschaft musste dieser Wandel im Verhältnis zwischen freier Szene und Stadttheatern ein wichtiges Thema werden. Noch vor wenigen Jahren wurden sie ästhetisch und strukturell eher als Opponenten gedacht. Das hat sich geändert und neue Fragen aufgeworfen. Wir haben auch deshalb bei allem gemeinsamen Interesse unsere Zusammenarbeit für dieses Arbeitsbuch mit dem Willen zu produktiver Differenz angelegt. Während die „Gießener Seite" primär die Arbeitssituation der als frei zu denkenden Künstler ins Verhältnis zu den Institutionen in den Blick nimmt, untersucht die „Freiburger Seite" vor allem die Veränderungen in der künstlerischen Arbeit der Institutionen, die sich in einer stark veränderten Gesellschaft neu verorten (müssen). Zahlreiche Kontroversen bleiben: Das reicht von unterschiedlichen Haltungen zu Ensemble und Repertoire bis zum Dissens in der Frage, ob die immer selbstverständlicher werdende Zusammenarbeit von freien Gruppen mit Stadttheatern eher ein Anzeichen für die zunehmende Öffnung der Häuser ist oder doch eine Bestätigung für die strukturelle Trennung der Systeme. Denn die Tatsache, dass diese Künstler ihre Arbeitsweise und Ästhetik meist lange zuvor in der freien Szene entwickelt haben, bevor sie diese jetzt in den bestehenden Institutionen mit Erfolg variieren können, könnte auch als Beweis dafür angesehen werden, wie schwer sich die Häuser selbst mit dem lebensnotwendigen Laborcharakters des Theaters tun. Die von uns gemeinsam eingeladenen Beiträge und ihre Gliederung in diesem Buch spiegeln diese unterschiedlichen Ansätze und Positionen wider.


Wir begannen unsere Zusammenarbeit mit einer Ringvorlesung an der Hessischen Theaterakademie in Frankfurt am Main, die die „Kritik der Institution" ins Zentrum rückte: Kritik sowohl in der Bedeutung kritischer Infragestellung der Institution als auch im kantischen Sinn als Frage nach der Bedingung der Möglichkeiten dieser Institution. Drei Vorträge aus dieser Vorlesungsreihe bilden zusammen mit den Texten von Mark Terkessidis, Carena Schlewitt, Björn Bicker und einem aus subjektiv-künstlerischer Perspektive verfassten Beitrag von Heiner Goebbels den ersten Teil dieses Buches, in dem Bojana Kunst eine wichtige Außenperspektive formuliert. Aus der Arbeitserfahrung der slowenischen Performergruppe Maska heraus analysiert sie die Arbeitsbedingungen der freien Szene vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche in Osteuropa.

Die Texte des zweiten Teils sind Beiträge für die „Arbeit am Stadttheater der Zukunft". Unser Interesse galt hier den Spuren und Tendenzen des Zukünftigen, die sich aus dem Bestehenden ablesen lassen. Die als notwendig angenommene Neubestimmung der Institution Stadttheater vorausgesetzt, wollten wir mit den Recherchen der hier versammelten Autorinnen und Autoren Materialien für unsere tastenden Versuche auf schwankendem Boden zusammentragen. Die Außenperspektive des zweiten Teils kommt von Ivo Kuyl, dessen Vortrag auf der Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft 2011 in Freiburg den Umwandlungsprozess der Königlich Flämischen Schauburg in Brüssel zu einer städtischen „Plattform" zur Diskussionen gestellt hat. Eine besondere Rahmung erfahren die Beiträge dieses Buches durch die beiden Texte von Dirk Baecker, der mit einer sehr grundsätzlichen Analyse der Einmalerfindung Theater eröffnet und am Ende einen Ausblick auf den Ort des Theaters in der nächsten Gesellschaft riskiert.

Man könnte unserer Auswahl mit gutem Grund vorwerfen, dass die Innenperspektiven der Theater zu kurz kommen. Wir wollten keine Best-Practice-Zusammenstellung aus dem Bereich der deutschsprachigen Stadttheater - was durchaus ein sinnvoller Beitrag zu unserem Thema sein könnte. Wir haben uns nach durchaus strittigen Diskussionen für einen möglichst offenen Zugang zu unserem Thema entschieden und deshalb versucht, die Einladungen nicht entlang der gegenwärtigen Strukturen und Verhältnisse zu formulieren. Das Musiktheater, das Tanztheater, die Landestheater, der Westen oder der Osten kommen als solche nicht vor. Wichtig als Abschluss war uns hingegen ein Praxisgespräch über die Paradigmenwechsel im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters, das selbstverständlich nicht nur im Umfeld von Stadttheatern stattfindet, aber bei unseren Recherchen zum Stadttheater der Zukunft nicht fehlen darf. Wir möchten uns an dieser Stelle bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge zu diesem Buch herzlich bedanken.

Im Kontext der Neubestimmung des Verhältnisses von „Stadt" und „Theater" gab es in den letzten Jahren an vielen Orten innovative Versuche, aus den Theatern hinaus in die umgebenden Räume zu gehen, um dort exemplarische Lotungen in die neue Wirklichkeit der Städte zu unternehmen. Freie Künstler und Theater entwickelten spezielle „Sonden" für diese Expeditionen: In Containern, mobilen Installationen, transitorischen Bauten, instantanen Architekturen wurden diese Recherchen greifbar. Neue Formate entstanden für diese Stadtraumerkundungen ebenso wie für die theatrale Repräsentation der „Außenerfahrungen" in den Innenräumen der Theater. Diese Suchbewegungen wollen wir mit und in den Bildern dieses Arbeitsbuches aufnehmen. Sie sollen die ausgewählten Texte in freier Assoziation begleiten.

Josef Mackert, Heiner Goebbels und Barbara Mundel

 

P.S. Wir verstehen dieses Arbeitsbuch als Angebot zur Diskussion. Zu allen Themen und Beiträgen richten wir ein Diskussionsforum unter www.theater.freiburg.de/blog ein.

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