Theater der Zeit

Bleibt alles anders

Ein Vorwort

von Lutz Keßler

Erschienen in: Bleibt alles anders – Die Intendanz von Mark Zurmühle am Deutschen Theater in Göttingen (07/2014)

Assoziationen: Deutsches Theater Göttingen

Foto: Michael Mehle Video- und Luftbildtechnik

Anzeige

In seinem viel beachteten Essay „Müdigkeitsgesellschaft“ hat der koreanische Philosoph und Medientheoretiker Byung-Chul Han sehr anschaulich den Übergang von der Disziplinargesellschaft im Sinne Foucaults zur heute gültigen Leistungsgesellschaft beschrieben. Während sich in der Ersteren die Arbeitswelt vor allem nach dem Gebot des „Müssens“ organisiere, suggeriert uns die Leistungsgesellschaft, dass allein im „Können“ der Weg zu einem effizienteren und besseren Selbst liege. „Yes we can!“ Die Dichotomien von innen und außen, Eigenem und Fremdem, Freund und Feind sind im Begriff sich aufzulösen. Das Andere wird dabei transformiert zu einer Variation des Gleichen. Nicht mehr in der dialektischen Konfrontation mit dem Fremden konstituiert sich daher unser Selbst, sondern nach dem Prinzip der Assimilation. In der amerikanischen Science-Fiction-Serie „Star Trek“ verkörpert die außerirdische Spezies der Borg genau dieses Prinzip, an dessen Ende die Utopie eines perfekt funktionierenden Kollektivs steht. Im Gegensatz dazu steht unser Alltag unter dem Diktat eines „maskierten“ Individualismus, in dem zwar alle das Gleiche wollen und tun, nur eben nicht zur selben Zeit.

Der Mensch agiert zunehmend als „Maschine“, der die Möglichkeit innewohnt, sich aus sich selbst heraus upzugraden. „Pimp my Selbst!“ Es sind nicht mehr die Anderen, die uns den Druck auferlegen, besser zu werden, sondern wir selbst, gewissermaßen als Herr und Sklave in Personalunion. In einem solchen System wird man nicht anders durch Abgrenzung, sondern man bleibt anders durch Selbstoptimierung. Vor allem sieht man sich dabei einem unerhörten immanenten Leistungsdruck ausgesetzt. Wir selbst werden zu Chefentwicklern unseres eigenen Seins. Man kann immer besser.

Was oberflächlich als Potenzial zur unbegrenzten Freiheit daherkommt, entpuppt sich bei genauerem Blick als Schimäre. Längst sind wir zu Sklaven unserer eigenen Möglichkeiten geworden. Der Zwang zur ständigen Aufmerksamkeit lässt uns immer weniger Zeit, unser Sein zu reflektieren. Vielleicht verpassen wir in der Zwischenzeit die nächste Smartphone-Generation, die coolste neueste App oder einen anderen heißen Trend und damit den Anschluss. Terminierte das Aufkommen des Privatfernsehens in den 1990er Jahren unsere Aufmerksamkeitsspanne auf die Dauer zwischen zwei Werbepausen, beherrscht uns heute der Zwang zum Multitasking, zur Dauer-Aufmerksamkeit.

In diesem Zusammenhang erscheint es nur folgerichtig, dass der Begriff „Freizeit“ sich in unserer Gesellschaft einer zunehmenden Diskreditierung ausgesetzt sieht, suggeriert doch „Frei-“, dass offensichtlich Zeit ungenutzt bleibt, also verschwendet wird. Entsprechend ist an die Stelle der sich ursprünglich ausschließenden Begriffe der Frei- bzw. Arbeitszeit heute verstärkt die diese Dichotomie nivellierende Formulierung von der „Work-Life- Balance“ getreten.

Die Konsequenzen dieser Entwicklung jedenfalls sind verheerend und das durchaus im ursprünglichen Sinne des Wortes. Wir führen „Krieg“, wie Han es formuliert, und zwar in und gegen uns, und die Folgen sind längst augenscheinlich und tragen vertraute Namen: Burn-out- Syndrom, ADHS oder Borderlinestörung. Bezeichnete Freud die Hysterie als Affekt der Seele, droht uns heute gleich der komplette seelische Infarkt.

Was sich in der Populärkultur schon seit Längerem als Science-Fiction ankündigte, ist nun in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Hier sei erinnert an den Kampf der Menschen mit ihren mechanischen Alter Egos, den „Replikanten“, in Ridley Scotts „Bladerunner“ oder den Kampf mit dem eigenen Selbst unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Drogen zur Selbstoptimierung in Paul Verhoevens „Total Recall“ oder Neos von vornherein aussichtslosen Kampf gegen die „Matrix“ in der gleichnamigen Trilogie. Wir befinden uns auf dem besten Wege zu einer Gesellschaft, vor der schon Goethe in seinem „Faust. Der Tragödie zweiter Teil“ prophetisch warnte. Beim großen Weimarer sind es am Ende die Lemuren, seelenlose entmenschlichte Kreaturen, die die Welt bevölkern und die Ökonomie in Gang halten.

Im Gegenwartstheater hat jüngst Oliver Bukowski in seinem von Regisseur Michael Kessler am Deutschen Theater in Göttingen uraufgeführten Stück „Ich habe Bryan Adams geschreddert“ die Dystopie einer perspektivlosen und unter dem Verlust wertestiftender Sinnkonstruktionen leidenden Gesellschaft entworfen. Bukowski zeichnet das Bild einer Generation, die sich in IT-Abendkursen, Yoga und anderen „teambildenden“ Maßnahmen im Dienste der Selbstoptimierung und zum Erhalt ihres Arbeitsplatzes psychisch aufreibt. „Weg vom Changemanagement hin zum Selfmanagement, hilf dir selbst, dann wird dir geholfen!“

Ähnlich desillusionierend und perspektivlos, wenn auch erfahrungsgemäß sehr viel düsterer als bei Bukowski, sieht die Autorin Dea Loher die sozialen Zersetzungsprozesse unserer Zeit in ihrem 2012 uraufgeführten Stück „Am schwarzen See“, dessen Göttinger Inszenierung von Wojtek Klemm zum Heidelberger Stückemarkt 2013 eingeladen wurde. Hier sind es zwei Ehepaare, die trotz der augenscheinlichen Sinnlosigkeit ihres Tuns krampfhaft an ihren Lebensplänen festhalten.

Am Beispiel einer Wohngemeinschaft hat der gebürtige Göttinger John von Düffel den gesellschaftlichen Verlust sozialer Utopien zielsicher beschrieben. In seiner „Trilogie des veränderten Lebens“, so der Untertitel seines 2012 am Deutschen Theater in Göttingen von Erich Sidler inszenierten Stücks „Alle sechzehn Jahre im Sommer“, beschreibt von Düffel, was vom gesellschaftlichen Aufbruch der frühen 1970er Jahre drei Jahrzehnte später übrig geblieben ist: ein von allen tradierten sozialen Bindungen getrenntes Individuum. Was als Versuch begann, den Menschen als kollektives Wesen zu etablieren, um so die Utopie einer neuen und gerechteren Gesellschaft zu verwirklichen, entpuppt sich unter dem Primat scheinbar unüberwindbarer kapitalistischer Mechanismen vor allem als lukrativer Markt für Psychotherapeuten.

Han jedenfalls empfiehlt ein bewusstes Heraustreten aus dem Strom, der uns mitzureißen und innerlich zu überhitzen droht. Er plädiert für die Unterbrechung, um Raum zu gewinnen, die gesellschaftlichen Phänomene und Entwicklungen unserer Zeit kritisch zu hinterfragen und auf ihren Nutzen für unser Leben hin zu überprüfen.

Und damit sind wir zwangsläufig bei der Kunst bzw. beim Theater. Denn eben darin, in der Reflexion, besteht ja die ureigenste Antriebskraft jeder künstlerischen Betätigung. Allerdings geschieht dies nicht im luftleeren Raum, denn die gesellschaftlichen Überhitzungsvorgänge machen auch vor dem Theater nicht Halt. Einerseits ist da eine aufgrund der beschriebenen Entwicklung gestiegene Erwartungshaltung an das Theater als Ort ästhetisch aufbereiteter „Freizeit“. So bemisst sich der Wert einer Inszenierung zunehmend an kulinarischen Kriterien. Sie sollte nicht zu schwer, leicht verdaulich aber trotzdem raffiniert sein. Auf der anderen Seite sieht sich das Theater einem immer größer werdenden Druck politischer Interessen ausgesetzt, deren ökonomische Zielvorgaben sich vor allem an den Währungen „Auslastungsquote“, „Zuschauerzahl“ und „Einspielergebnis“ orientieren.

Dazwischen muss nun das Theater wie das gallische Dorf bei Asterix und Obelix als Ort gesellschaftspolitischen Widerstands seine größtmögliche Freiheit behaupten und dabei wachsam bleiben, nicht dem eigenen Burnout zu erliegen, den stetig kürzer werdende Produktionszeiträume, eine steigende Zahl von Inszenierungen und die kontinuierliche Ausweitung immer ausdifferenzierterer Programmformate befeuern. Mark Zurmühle hat diesen Spagat vor allem durch den Erhalt und die Pflege seines für eine Stadt wie Göttingen in seiner Größe wohl bundesweit einmaligen Ensembles und einer schlagkräftigen Dramaturgie bewerkstelligt. Nur deshalb war es möglich, in den vergangenen 15 Jahren dem Göttinger Publikum einen anspruchsvollen Spielplan zu präsentieren, der sich gleichermaßen der Pflege des klassischen Theaterkanons verpflichtet sah, wie er auf die gesellschaftspolitischen Phänomene und Entwicklungen unserer Zeit reagierte.

So fanden sich von Beginn an neben Inszenierungen der großen „Klassiker“, die immer wieder auf ihre Anschlussfähigkeit an gegenwärtige Diskurse hin überprüft wurden, zahlreiche innovative Projekte und zukunftsweisende Kooperationen mit der freien Szene. Das aus der „Gießener Schule“ hervorgegangene Performance-Kol- lektiv She She Pop unternahm am DT in Göttingen ebenso seine ersten ästhetischen Gehversuche am Stadttheater wie das Berliner Theaterkollektiv andcompany&Co., das mit den beiden Produktionen „Wunderkinder“ und „Zur Sache!“ eindrucksvoll seine Stadttheatertauglichkeit bewies. Für die freie Göttinger Theatergruppe werkgruppe2 mit ihren einzigartigen Dokumentartheaterprojekten sollte sich das DT als Sprungbrett in die erste Liga des Theaters erweisen.

Daneben war es Mark Zurmühle von Beginn seiner Intendanz an ein großes Anliegen, den „Theaternachwuchs“ zu fördern. Und dies galt sowohl auf der Produktions- wie auf der Rezeptionsebene. Junge Regisseure und Schauspieler nutzten die Kooperationsvereinbarungen mit den Ausbildungsstätten in Hamburg und Hannover, ebenso wie zahlreiche Nachwuchsautorinnen und -autoren die vielfältigen Chancen wahrnahmen, die sich ihnen regelmäßig in Schreibwerkstätten und Autorenprojekten boten. Auf der Rezipientenseite weitete Mark Zurmühle die Angebote vor allem für junge Zuschauer massiv aus, was schließlich in der Gründung einer eigenständigen „Abteilung“, dem „jungen schauspiel“, unter der Leitung von Joachim von Burchard, mündete. Hinzu kamen diskursive Projekte mit und von Jugendlichen, wie etwa das wegweisende „NoGoLab“ oder das Kinderund Jugendtheaterfestival „Hart am Wind“. Auch eine andere Initiative des DT erwies sich als wirkungsvolle Maßnahme zur Verjüngung des Publikums, die Einführung eines „Kulturtickets“ für die Studierenden der Göttinger Universität, das diesen gegen einen niedrigen Semesterbeitrag freien Eintritt ins Theater und andere Kultureinrichtungen der Stadt ermöglicht. Wie überhaupt in den letzten 15 Jahren die enorme Dichte an Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Institutionen in Göttingen in Form von zahlreichen Kooperationen ein unerschöpflicher Reichtum war, um das Theater im Sinne Byung-Chul Hans als „Unterbrechungsraum“ zu etablieren, um Widerstand zu leisten gegen die „allgemeine Beschleunigung und Hyperaktivität“ unserer Zeit und damit unsere Gegenwart ein Stück weit infrage zu stellen.

Das vorliegende Buch versammelt Beiträge von Weggefährten, Beobachtern, Freunden, Beteiligten und Kollegen, die sowohl in sehr persönlichen als auch in weiterführenden und theoretischen Texten die 15-jährige Intendanz von Mark Zurmühle widerspiegeln und einen lebendigen Blick auf und in die Zukunft der Institution des Theaters werfen.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Die „bunte Esse“, ein Wahrzeichen von Chemnitz
Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York