Es hat immer noch die Kraft zur Irritation: das intensive Interesse der gegenwärtigen ästhetischen Theorie für Momente des Tragischen, das wie ein seltsam fremder Findling in unsere Gegenwart hineinragt. Und dies deshalb, weil Theater in seiner Geschichte zwar aufs Engste mit dem Tragischen verbunden war, in unserer Gegenwart aber postdramatische Formen dominieren mit ihrer Tendenz zur Dekonstruktion und Selbstreflexion, die das Tragische scheinbar verunmöglichen.
Nicht ohne Irritation – wenn auch produktive – erlebte man daher die intensive Beschäftigung von Theoretikern wie Karl Heinz Bohrer und Hans-Thies Lehmann, die in wechselseitiger Bezugnahme seit mehr als einem Vierteljahrhundert ihre Ansichten zur Gegenwart des Tragischen entwickeln. Am weitesten ging zuletzt vor gut zwei Jahren Lehmann in „Tragödie und dramatisches Theater“, in dem der Vordenker des Postdramatischen die für ihn offensichtlich rhetorische Frage aufwarf, ob nicht doch das Tragische in seiner „eigentümlichen Verbindung von affektiver und mentaler Erschütterung am Ende das Theater schlechthin sei“.
Mit seinem Vertrauen auf die unterbrechende Kraft der Kunst und seinem Rückgriff auf Jacques Lacan konnte Lehmann in seinem Großwerk mehr als nur plausibel machen, dass sich die tragische Erfahrung als Moment der arationalen Widerfahrnis ergibt und dass sich in irrationalen Überschreitungen – gemäß Lehmanns Lacanismus – zudem auch das...