Report
Dem tschechischen Theater ein Blumengarten
Das Theatre World Brno zeigt wie vielfältig tschechisches Theater aussehen kann und wird durch den jährlichen Kongress der Internationalen Vereinigung von Theaterkritiker:innen (AICT) zum Treffpunkt der weltweiten Theaterszene.
von Lina Wölfel
Assoziationen: Europa Theaterkritiken
Überall wuseln Menschen mit bunten Beuteln über den Schultern durch Brno. Unterhalten sich angeregt auf dem Weg von einem Theater zum nächsten, in Bars und Cafés. Gesponsert sind die Beutel von der Internationalen Vereinigung der Theaterkritiker:innen, AICT. Zum Thema „Wahrheit in der kafkaesken Welt des Theaters: Tragisch oder komisch?“ kommen etwa 40 Kritiker:innen aus aller Welt zusammen. Eingebettet ist die Konferenz in einem der größten Theaterfestivals in Tschechien, dem Theatre World Brno.
Das Festival fokussiert sich in diesem Jahr auf die Darstellung der tschechischen Theaterwelt. Dank steigenden finanziellen Supports des tschechischen Kulturministeriums war es in diesem Jahr nicht nur möglich, bereits fertige Produktionen einzuladen, sondern auch Premieren als eigene Festivalproduktionen zu verwirklichen. Der Anspruch besteht seit je her, nicht bei klassischen Schauspielformaten zu bleiben, sondern auch Kinder- und Jugendtheater, Performances, Tanz und crossmediale Formate anzubieten. Und so kommen um die 25 Produktionen zusammen, verteilt über fast alle Theatergebäude und Kulturorte, die Brno zu bieten hat.
So findet zum Beispiel „Women, Shut up!“ von der Jedl Company aus Prag in der Kapelle der Káznice, einem ehemaligen Gefängnis aus dem Ende des 18. Jahrhunderts statt, das heutzutage überwiegend leer steht. „Ein Stück über eine unverbesserliche Frau“, heißt es im Programmheft. Ein Stück über Růžena Vacková, Professorin, Archäologin, Kunsthistorikerin, politische Gefangene. Sie lehrte an Universitäten und in Gefängnistoiletten. Eine Frau, die – nach sechzehn Jahren – das kommunistische Gefängnis – angeblich – ungebrochen verließ. So der Mythos. Auf der Bühne sehen wir mehr Facetten. Mehr als ein eindimensionales Narrativ. Růžena (hervorragend gespielt von Lucie Trmíková) erzählt uns von Mitgefangenen, von Merina, die einem Offizier ein Stück seines Hinterns abbeißt, als dieser sie foltert. Und von einer Mutter, die in der Hoffnung ihnen würde es dort besser gehen, ihre Kinder tötete und nun darauf wartet, frei zu kommen, um sich an ihren Gräbern zu erhängen. Begleitet von einer Cembalistin und einem Cellisten werden musikalische Momente zu Fluchtstrategien. Vor dem klapprig-rostigen Bett, dessen Liegefläche schneidende Muster auf Růženas Haut zeichnet, sobald sie darauf liegt. Vor dem Wärter, der ihr mit knallgrüner Kampfmontur gegenübertritt, der laut und viel redet, aber nichts zu sagen hat und sie, die so viel erzählen könnte und gesilenced wird. Sie flüchtet sich in gregorianische Choräle (engelsgleich vorgetragen von Filip Dámec), in Folklore-Tänze, in philosophische Überlegungen über das Apeiron, ein Begriff für einen Urstoff, den der Vorsokratiker Anaximander prägte. So verschmelzen der Zigarettenrauch, die hallendenden Klänge der Musiker und die gedimmte Lichtstimmung mit der klerikalen Atmosphäre der Gefängniskapelle. Einem schaudert es mitunter.
Es sind die einzigartigen und dichten Atmosphären, welche die gesehenen Aufführungen miteinander verbinden. So wird in „The Ratcatcher“ von Patrick Sims die Bühne zum Puppenhaus, zur Simultanbühne in der der deutschen Sage nicht nur ein neues Leben eingehaucht wird. In den dunklen unterirdischen Tunneln unter den schönen Häusern der Stadt Hameln herrscht fieberhaftes Leben. In diesem Teufelskreis ist auch der Mensch nur eine Spezies. Die Aufführung konzentriert sich dabei nur auf wenige Worte, versucht sich in der Sprache der Theatermagie – von Schattenspielen über Puppentheater, einem heiligen Käse, Lichteffekten und Geräuschklamauk. Sie versteckt die Schauspieler hinter Masken, um die malerische Natur der Geschichte noch mehr zur Geltung zu bringen.
Ein ganz besonderes Gefühl löst aber die Aufführung „It’s an Angel’s Gift!“ des Drak Theatre aus Hradec Králové aus. Man stelle sich vor, eines Tages fiele ein Engel in das Schlafzimmer zweier Kinder. Er versteht unsere Welt nicht, kennt ihre Regeln nicht. Will eigentlich nur zurück in den Himmel, zurück in die Wolken. Wie können die beiden Kinder ihm helfen? Vor allem, wenn nur wir – das Publikum – und sie – die Kinder – ihn sehen können? Zunächst muss er wohl das Sprechen lernen, doch ein einfaches „AHOI“ (mit diesem Gruß heißt man Freunde und Verwandte in Tschechien willkommen) ist schon müßig. Also versuchen die beiden Kinder einen Weg zu finden, den Engel wieder in den Himmel zu stoßen, zu schubsen, zu werfen. Das Drak Theater findet dafür die schönsten zirkushaften Kunststücke, akrobatische Übungen, für die es von den Zuschauer:innen eine Menge Applaus gibt. Wie aber auch das nicht funktioniert, muss der Engel wohl erstmal bleiben. Also erst mal etwas essen. Und natürlich wird sich auch daraus ein Spaß gemacht, denn wenn schonmal ein Engel im Haus ist, dann müssen seine übernatürlichen Kräfte auch genutzt werden. Es folgt eine gut zehnminütige Choreografie, in dem Stühle durch die Luft geworfen werden und die Mutter (Petra Cicáková) ihnen hinterherjagt. Zunehmend wird aus den Sprints eine Choreografie. Fast ein Pas de Deux zwischen der Mutter und den Stühlen. Es ist faszinierend anzusehen, wie es das Drak Theater schafft, ästhetische Ideen wirklich bis zum Ende auszuspielen. Ihnen den Raum zu geben, den sie brauchen, damit sich aus Aktionen Bilder und daraus folgend Handlung entwickelt, die ans Herz geht. Schlussendlich findet sich die Familie im abendlichen Bad wieder. Ja, es steht eine richtige Duschwanne auf der Bühne. Ja, da kommt Wasser raus. Natürlich machen die Kinder nur Quatsch, bis die Mutter verzweifelt. Sie setzt sich vor die Wanne neben den Engel, im Hintergrund läuft das „Agnus Dei“, und mit jedem Wasserfleck, den die Kinder auf dem Bühnenboden machen, wächst eine Blume. Einige der erwachsenen Zuschauer:innen haben glasige Augen.
Schlussendlich wird es dann doch noch, man möchte sagen, plakativ – zumindest thematisch. Im Divadlo Husa na provázku aus Brno setzt sich Jan Mikulášek mit Juan Goytisolos „The Marx Saga“ auseinander. Er schreibt den neuen „Faust“. Er kommt kaum über die Runden. Er diskutiert mit Kameraden, mit dem Urvater Abraham, aber auch mit animierten Bildern von Bauarbeitern. Er gönnt sich Hydrotherapie. Er spiegelt sich in den Schaufenstern von Pornoläden, fegt durch Moskauer Nachtclubs und zwinkert uns von Bildern aus zu. Er entwischt uns. Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Philosoph und Dichter. Prophet und Betrüger. Liebender Vater. Trauriger Clown. Mikulášek findet für Goytisolos Stück einen neuen Dreh – den des Theaters. Weg vom Blick des Journalisten, der den wiederauferstandenen Marx interviewt, hin zu einem inszenatorischen Ansatz, der die Figur des Karl Marx auseinandernimmt, bis nur noch der Name übrig bleibt. Gespickt mit Interviews von tschechischen Bürger:innen: „Marxismus, das kann viel bedeuten, meistens aber nichts“ oder „ Gute Ideen, doofe Umsetzung“. Die Bilder werden auf einen großen, asymmetrischen Hintergrund projiziert, der vom Publikum aus gesehen gigantisch wirkt. Der gleiche Hintergrund wird genutzt, um ein Sujet Goytisolos aufzugreifen: Mittels Beleuchtung rücken Figuren des Ensembles und der Marx-Familie in den Vor- oder Hintergrund, werfen Schatten auf die Rückwand, die wie Malerei des sozialistischen Realismus wirken. Neben der thematischen Dichte ein ästhetischer Fixpunkt, der sich durch den gesamten Abend zieht, Metaebenen findet.
Vor dem Theater sitzen nach der Vorstellung einige Teilnehmer:innen des Young Critics Workshop des AICT-Kongresses. Ich setze mich mit einem Bier dazu. Sie debattieren über die ästhetische Umsetzung des Romans auf der Bühne, welche Elemente sie vermisst haben, wie der Blickwinkel sich durch die Inszenierung verschoben hat. Wir unterhalten uns eine halbe Stunde über den Abend. Einige von ihnen arbeiten auch als Kulturjournalist:innen oder Theaterkritiker:innen, andere studieren Theaterwissenschaften in Prag. Wir reden darüber, wie wichtig solche Konferenzen nicht nur thematisch sind, sondern und vor allem aus sozialer Sicht. Wir Theaterkritiker:innen kommen selten zusammen, arbeiten oft allein. Und am Ende doch auch in unserer nationalen Blase. Doch gerade in Gesprächen danach wird Theater lebendig. Zeit also, dass auch Deutschland eine eigene Delegation für den AICT bildet und wir aus unserer Vereinzelung in den internationalen Austausch gelangen.
Erschienen am 6.6.2024