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kirschs kontexte
Diderots Dialektik oder 300 Jahre Vierte Wand
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Philipp Hochmair: Ein Mann, alle Rollen (11/2013)
Als im Oktober der 300. Geburtstag Denis Diderots zu feiern war, konnte man viel über den genialen Projektemacher und Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts lesen, über den Romancier, der schon in der Geburtsstunde des bürgerlichen Romans avantgardistische Gegenentwürfe vorlegte, oder auch über den glänzenden Essayisten, der sich als sprunghafter Denker der Oberflächen um einiges zeitgemäßer ausnimmt als der tiefschürfende, selbstquälerische Jaques Rousseau. Seltsam unterbelichtet blieb allerdings, dass Diderot auch dem Theater ein Erbe hinterlassen hat, das freilich weit zwiespältiger ist – schließlich führte der französische Aufklärer Begriff und Konzept der „Vierten Wand“ ein.
Tatsächlich zeugt es von der ganzen Widersprüchlichkeit des 18. Jahrhunderts, dass derselbe Schriftsteller, der einen so hinreißend in alle Richtungen fliehenden Roman wie „Jacques le fataliste“ schrieb, gleichzeitig etwas so Langweiliges wie diese unsichtbare Bühnenwand entwerfen konnte. Oder sich trotz seines Sinns für Sprünge und Dissonanzen allen Ernstes in Theateraufführungen die Ohren zuhielt, um zu prüfen, ob man den Sinn des Gesprochenen auch allein an den Gesten der Spieler ablesen könne – womit er zum Kronzeugen eines Bebilderungszwangs wurde, der vor allem das Fernsehen so oft unter seinen Möglichkeiten bleiben lässt. Allerdings: Die Aufklärer waren eben nicht so unaufgeklärt, wie spätere Kritiker es haben wollten, und in ihren...