Theater der Zeit

Zwischenrufe

Reale Utopien

von Kübra Gümüşay

Erschienen in: Zeitgenoss*in Gorki – Zwischenrufe (03/2023)

Foto: Von re:publica from Germany - #rpTEN - Tag 2, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=62488186

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Wie lebt es sich in einer gerechteren Welt? Einer, in der Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Klassismus und andere Formen von Unterdrückung Vergangenheit sind? Ich weiß es nicht, doch ich habe eine Ahnung davon, wie wir dahin kommen können. Durch Orte, an denen Menschen den Mut aufweisen, es anders zu machen als bisher. Durch die nahezu dreiste Kühnheit, sich Ideale nicht nur auf die Fahne zu schreiben, sondern sie auch zu erproben. Zu scheitern. Zu lernen. Zu spielen. Zu erfühlen. Zu ertasten. Wege zu bahnen hinein in eine Welt, die erstrebenswert ist. Lebenswerter als die gegenwärtige. Kühn und mutig, das ist das postmigrantische Theater. Das sind die Menschen am Gorki Theater.

Denn wenn soziale und politische Gerechtigkeit tatsächlich unsere Zukunft werden soll, „dann wird sie durch das bewusste Handeln von Menschen herbeizuführen sein, die gemeinsam agieren, um sie zu verwirklichen“, schreibt der Soziologe Erik Olin Wright in seinem Buch Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus. Wenn wir uns von dem Gedanken lösen, Ideale müssten überall und auf einmal realisiert werden, können wir uns die Freiheit schaffen, jetzt schon Räume zu öffnen, in denen wir Utopien, so gut es geht, ausprobieren. Wohl wissend, dass dieses Ausprobieren nur bedingt gelingen kann. Wright nennt diese Orte „reale Utopien“.

Diese Orte befinden sich an den Grenzen unserer Gesellschaft, den Rändern. Sie sind utopisch, weil sie nicht institutionalisiert und gesellschaftlich etabliert sind, sondern marginalisiert. Sie sind jedoch zugleich real, weil sie im Jetzt und Hier, unter den gegenwärtigen Bedingungen tatsächlich existieren. Diese Orte, reale Utopien, können Wohnexperimente, NGOs, Netzwerke, Kollektive sein, die sich beispielsweise einem neuen Zusammenleben, ökologischem Wirtschaften oder einer gerechteren Sprache gewidmet haben. Sie können – und ich denke, sie sollten – aber auch Orte der Kunst und Kultur, also Theater sein. Orte, an denen wir die Zukunft üben, sie erfühlen und erproben können. An denen wir in dieser Gesellschaft als Erwachsene die Legitimation haben, Normen zu sprengen, Fantastisches zu erdenken und durch Spiel in die Realität zu übersetzen. Orte, an denen wir Geschichten erzählen können, die bislang unerzählt sind. Aus Perspektiven, die unbetrachtet sind. In Zeiten, die ungeschehen sind. In Utopien, die (noch) unerlebt sind. Orte, an denen wir die Welt verrücken können, ohne für verrückt erklärt zu werden.

In dem Moment, in dem wir uns in Welten hineinschreiben und -spielen, die imaginiert sind, in dem Moment, in dem wir sie performativ leben, erleben wir sie. Diese Welten werden real.

In größter Dankbarkeit, dass das Gorki real ist und Wege bahnt, in Verbundenheit und in Solidarität.

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