Theater der Zeit

Jubiläum

Theater der Zeit 1946:

Zeittheater oder Theater der Zeit?; Objektive Kritik?; Menschliche und künstlerische Persönlichkeit

von Fritz Erpenbeck

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater der Zeit – 30 Jahre (06/1976)

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Auch sie melden sich wieder laut und vernehmlich: jene, die das Zeittheater und ausschließlich das Zeittheater fordern. Alles andere sei verstaubt und vermottet. „Was soll uns das heute?“ lautet ihr Feldgeschrei, „gibt's denn heute nicht wichtigere Probleme?“

Solcher Radikalismus ist verdächtig. Zumindest zeugt er von einer bedenkenlosen Verflachung der Probleme, von mangelhaftem Nachdenken über die Fragen der Kunst. Oder es handelt sich um eine der zahlreichen Begriffsverwirrungen, die durch die Kritik in der Tagespresse nicht geklärt, sondern vermehrrt werden.

Was versteht man unter Zeittheater?

Solche Werke, die ihren Stoff und damit ihre Problemstellung aus der Gegenwart beziehen.

Sehen wir ganz davon ab, daß die meisten Stücke, insbesondere die Schwänke, Singspiele und angeblichen Lustspiele, die laufend von gewandten Literaturkonfektionären als gängige Marktware produziert werden, nur das Kostüm unserer Zeit tragen, tatsächlich aber irgendwann und irgendwo spielen könnten – also keineswegs Zeitstücke sind –, so bliebe dennoch für den Rest, der wirklich Zeitprobleme aufgreift, immer noch zu fragen: Warum eigentlich die Beschränkung auf die Gegenwart, warum diese Einengung, diese Verkümmerung der Kunst?

Es geht nämlich um etwas ganz anderes. Es geht um den Inhalt. Es geht um menschliche Probleme der Gegenwart. Ob sie in das Gewand unserer Tage eingekleidet sind oder nicht, ist dabei von untergeordneter Bedeutung.

Die Forderung hat also nicht zu lauten: Zeittheater – sondern: Theater der Zeit!

Die Problematik des Werks hat gegenwartsnah zu sein; sein Inhalt muß eine starke Beziehung zum Heute haben. Dann ist es Theater der Zeit. Das aber trifft für jedes wahre und große Kunstwerk zu. In diesem Sinne und einzig in diesem Sinne ist es richtig, wenn man davon spricht ein Kunstwerk müsse „zeitlos“ oder „ewig gültig“ sein. Diese „Zeitlosigkeit“, richtiger diese Gültigkeit über die Zeit hinweg hat, so widerspruchsvoll das manchem scheinen mag, ihre Ursache gerade in der stärksten Zeitverbundenheit. Eben weil alle großen Dramatiker stets Theater der Zeit – ihrer Zeit – geschaffen haben, hat es die Zeiten überdauert.

Die Bühnenkunst hat zum Inhalt allein den Menschen mit seinen Leidenschaften und Schicksalen. Der Mensch aber ist ein gesellschaftliches Wesen. Er steht und stand zu allen Zeiten in freundlichen und feindlichen Beziehungen zu seinesgleichen. Diese Beziehungen sind und waren immer durch geschriebene und mehr noch durch ungeschriebene Gesetze bestimmt: durch die jeweilige Gesellschaftsordnung. Sie ist es, die – mittelbar und unmittelbar – den menschlichen Beziehungen zu allen Zeiten ihre spezifische Tönung, ihren eigentlichen Charakter verleiht. Liebe war niemals gleich Liebe. Obwohl die Liebe eines der „ewigen“ Grundthemen aller Kunst ist. Zur Zeit des Matriarchats war sie etwas völlig anderes als , sagen wir, im Serail eines mittelalterlichen orientalischen Potentaten; zur Zeit der Minnesänger wäre der bloße Gedanke an eine gleichberechtigte Kameradschaft zwischen Mann und Frau absurd gewesen; im feudalen Japan unterliegt der Verkauf einer armen Reisbauerntochter an ein Teehaus weder sentimentaler noch westeuropäisch-ethischer Betrachtungsweise. Und das, was hier im großen gilt, gilt nicht minder in der Differenzierung: ein heutiger Jugendlicher wird kaum, obwohl noch keine 50 Jahre vergangen sind, die Problemstellung in Wedekinds „Frühlings Erwachen“ als seine eigene anerkennen; und Hebbels Meister Anton stieße, wäre er der Tischler Kunz aus Berlin-Wedding, nicht auf Erschütterung, sondern bestenfalls auf ein bedauerndes Achselzucken, wenn er erklärte, daß er „die Welt nicht mehr versteht“.

Aber trotz allem lassen wir uns im Theater von den Liebestragödien aller Zeiten und Völker ergreifen und erschüttern, wenn sie gesellschaftlich wahr gestaltet sind. Wir verstehen vollkommen, daß Meister Anton an der „Schande“ seiner Tochter zerbricht, weil Hebbel seine „Maria Magdalena“ nicht allgemein, nicht als irgendeine beliebige, sich irgendwo, irgendwann abspielende Tragödie geschrieben hat, sondern sie ganz konkret in eine bestimmte Zeit, in eine bestimmte Gesellschaftsschicht mit ganz bestimmten Moralbegriffen gelegt hat. Wie wenig man selbst die zarteste, persönlichste Liebesgeschichte „zeitlos“ betrachten kann, erhellt deutlich, wenn man etwa Shakespeares „Romeo und Julia“ mit Gollfried Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ vergleicht. Bei Shakespeare: das unbeugsame Gesetz der Sippe, eine reale, allgemein anerkannte gesellschaftliche Macht, läßt den Kampf der beiden Liebenden um individuelle Freiheit von vornherein zur Tragödie werden. Bei Keller: das Recht der väterlichen Gewalt ist längst auf eine gesellschaftliche Konvention reduziert; dem Glück der beiden Liebenden steht "nur noch der unsinnige Zwist zweier bäuerlicher Dickschädel entgegen; es scheint, als könne sich das Menschenrecht gegen die gesellschaftliche Konvention durchsetzen, als bliebe dem dörflichen Liebespaar die Tragödie erspart. Es brauchte eigentlich „nur“ von der gleichen vulkanischen Kraft der Liebe beseelt zu sein wie Romeo und Julia, warum aber ist es das nicht? Weil Gottfried Keller ein großer realistischer Dichter ist, der genau weiß, daß sich unter den realen gesellschaftlichen Bedingungen des Schweizer Dorfes keine italienischen Renaissancemenschen entwickeln können - weder unter den Vätern, noch unter der Jugend; und die gesellschaftliche Konvention patriarchalischer Bräuche ist deshalb genügend stark, um die gleiche Tragödie herbeizuführen wie in "Romeo und Julia" das harte Gesetz der Sippenfeindschaft und Blutrache - immer ist es bei allen großen Dichtern das Gesellschaftliche, das den Charakter ihrer Figuren und deren menschliches Schicksal bestimmt. Der Klassengegensatz, an dem in „Kabale und Liebe“ das Selbstbestimmungsrecht Luises und Ferdinands zerschellt, kann, weil er von Schiller wahrhaft, das heißt realistisch, gestaltet wird, nur zur Tragödie führen - die gleiche „Mesalliance“ in die heutige Zeit verlegt und ebenso gesellschaftlich wahrhaft behandelt, könnte nur noch Stoff sein für eine Komödie.

Theater der Zeit heißt also nichts anderes als: gesellschaftlich wahres, realistisches Theater. Die Gestalten des Dramas haben zu leben nach den geschriebenen und ungeschriebenen gesellschaftlichen Gesetzen ihrer Zeit, sie haben, bewußt oder unbewußt, zu handeln nach diesen Gesetzen oder gegen sie - erst dann sind sie nicht blutleere Puppen und nicht Personifizierungen irgendwelcher abstrakter Ideen, sondern lebendige Menschen mit ganz konkretem, menschlich reichem und vielfältig nuanciertem Innenleben. Ihre Schicksale ergreifen uns, sie sind uns zeitnah, selbst wenn sie zeitlich - wie etwa „Oedipus“ – bis in die fast sagenhaft ferne Epoche des Mutterrechts zurückreichen.

Man darf also den Satz aufstellen: Jedes große Kunstwerk ist gesellschaftlich wahr. Es entspricht der gesellschaftlichen Realität seiner Zeit, es ist realistisch. Realismus ist demnach das Kriterium jedes Kunstwerks.

Das bedarf - bei der heute herrschenden Begriffsverwirrung - einer Erläuterung: Gesellschaftliches vollzieht sich, man braucht ja nur die Augen aufzumachen und zu beobachten, nicht nach den Gesetzen der formalen Logik, sondern der Dialektik; deshalb kann man im Gesellschaftlichen auch nicht, wie in der Mathematik, Gleichungen umkehren, etwa so: Alle Gerichtsvollzieher sind Beamte - alle Beamten sind Gerichtsvollzieher. Nein, weil jedes große Kunstwerk gesellschaftlich wahr ist, deshalb ist durchaus nicht alles, was gesellschaftlich wahr ist, ein Kunstwerk. Sonst wäre schließlich der gereimte Leitartikel die höchste Kunstform.

Wenn vor kurzem in einer öffentlichen Diskussion über dieses Thema von einem Theaterkritiker, der diese einfache Sache noch nicht begriffen hat, gegen die Forderung des Realismus eingewendet wurde: „Es gibt noch eine höhere Wahrheit als die gesellschaftliche, und das ist die dichterische“ - dann ist das nichts weiter als die mechanische Umkehrung der Gleichung. Es ist die Unfähigkeit, dialektisch zu denken, es ist - was der Betreffende gerade uns vorwirft - starres, dogmatisches Nichtdenken, es ist festgefrorene Denkkonvention, Ressentiment eines zum Umlernen Aufgerufenen. Als ob die Forderung nach gesellschaftlicher Wahrheit die Forderung nach dichterischer - das heißt der jeweiligen Kunstgaltung gemäßer - Gestaltung aufhöbe oder gar ausschlösse! Das genaue Gegenteil ist der Fall. Gesellschaftliche Wahrheit ist die Bedingung sine qua non. Das glauben wir mit unsern oben angeführten Beispielen bewiesen zu haben. Erst auf der Basis gesellschaftlicher Wahrheit, das heißt auf der Basis des Realismus kann die dichterische Gestaltung beginnen und ist die "höhere" dichterische Wahrheit überhaupt erreichbar.

Realismus ist also kein Stil. Auch das muß immer wieder gesagt werden, denn hier hat die gedankenlose Obernahme des französischen Begriffs "realisme" (als Kennzeichnung des Naturalismus Zolas und seiner Epigonen) in der deutschen Literaturtheorie viel Begriffsverwirrung angerichtet, Realismus ist ein Kriterium. Aber als solches kann - und muß es heute - stilbildend wirken, so wie es zu allen Zeiten stilbildend gewirkt hat, „Kabale und Liebe“ ist gesellschaftlich wahr, sein Stil ist von der gesellschaftlichen Wahrheit des Inhalts geprägt; „Alt-Heidelberg“ hingegen, das genau das gleiche Thema behandelt, ist gesellschaftlich unwahr, und von dieser Unwahrheit ist seine Stillosigkeit bestimmt: das Stück ist ein verlogener Schmarren nicht nur im Inhaltlichen, sondern auch im Sprachlichen überall dort, wo das menschlich-gesellschaftliche Problem - Liebe und Klassengegensatz - auch nur im entferntesten angerührt wird.

Stil wird vom Inhalt bestimmt. Alle Versuche, vom Äußerlichen, etwa vom Sprachlichen her zu einem „Stil unserer Zeit" zu kommen, müssen notwendig in formalistischer Spielerei erstarren. Nur das Werk, das realistisch in seinem Inhalt ist, wird, wie das zu allen Zeiten war, auch unsern heutigen Stil prägen helfen. Denn die Eigenart unserer heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse, ihre Strömungen, Unterströmungen und Widersprüche müssen, wenn sie wahrhaft wiedergegeben werden, ihren Niederschlag auch im Stil finden, zu entsprechenden Formen der Gestaltung führen. Werden dabei die paar einfachen, jahrhundertealten Gesetze der Kunst nicht mißachtet - und immer vorausgesetzt, daß der Autor Talent hat -, dann entsteht eine dichterische Wahrheit, die weder „höher" noch „tiefer“ ist als die gesellschaftliche, denn sie ist die gleiche! Ja, Kunst ist, unter anderm, mit den spezifischen Mitteln der Kunst gestaltete gesellschaftliche Wahrheit.

Diese, in all ihrer Widersprüchlichkeit einheitliche, unteilbare gesellschaftliche Wahrheit zum dramatischen Erlebnis werden zu lassen, ist und war stets die Aufgabe des Theaters der Zeit.

TdZ 1/Juli 1946

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