Theater der Zeit

Auftritt

Nationaltheater Mannheim: Das Monster triggert zärtliche Gefühle

„Frankenstein“ nach dem Roman von Mary Shelley – Regie Nazli Saremi, Bühne Nora Müller, Kostüme Marco Pinheiro

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Nazli Saremi Mary Shelley Nationaltheater Mannheim

„Frankenstein“ von Mary Shelley am Nationaltheater Mannheim.
„Frankenstein“ von Mary Shelley am Nationaltheater Mannheim.Foto: Maximilian Borchardt

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Einsam steht Frankenstein im Raum. Eine Plastikmaske entstellt das Gesicht. Lockige Haare hängen ihm wirr ins Gesicht. Der Ausgestoßene atmet schwer. Licht- und Schattenspiele lassen die Szenerie unheimlich wirken. „Soll ich die Menschen achten, wenn sie mich verachten?“ Die Frage verhallt ungehört im Raum. Die Geschichte des Geschöpfs, das aus Leichenteilen zusammengesetzt sein soll, hat die englische Schriftstellerin Mary Shelley in ihrem 1818 veröffentlichten Roman erzählt. Damit begründete sie nicht nur das Science-Fiction-Genre. Gestern wie heute triggert das Monster die grausamsten Fantasien seines Publikums. Solche Zuschreibungen verwischt Nazli Saremi im Studio des Nationaltheaters Mannheim in ihrem poetisch schaurigen Regiedebüt. 

Die Faszination von Shelleys anmutiger Sprachkunst überstrahlt die Textfassung. Gemeinsam mit ihrem Regieteam hat Saremi den Gruselklassiker in einen Bilderbogen vom Sterben der Lebensträume und Gefühle übersetzt. Monströse Motive sucht das Publikum in Marco Pinheiros Kostümen vergeblich. Mit angedeuteten Rüschen und Gehröcken zitiert er die Mode des frühen 19. Jahrhunderts. Minimalistisch kalt hat Nora Müller den Bühnenraum konstruiert. Auf zwei Ebenen begegnen sich die Figuren. Sie verstehen einander nicht. Stimmungen spiegelt die Künstlerin nicht nur mit Schattenspielen. Wenn die Gefühle die Menschen überfluten, arbeitet sie mit Videokunst und gerade die Schnittstellen zwischen Theater und Film wirken besonders virtuos.   

„Glaube mir, ich bin nicht böse, in meiner Seele wohnen Güte und Liebe; aber ich bin allein, so furchtbar allein.“ Wenn der Syrer Omar Shaker in der Rolle des Frankenstein seinem Schöpfer Victor diese Worte entgegenschleudert, wirkt er fremd. Der leichte Akzent des Schauspielers, der seit 2015 nach der Flucht aus Syrien in Deutschland lebt und in Hannover studierte, lässt den politischen Diskurs anklingen, wenn er sein Fremdsein reflektiert. Wenn er auf der Bühne herumirrt, erinnert er an einen Geflüchteten, der Halt sucht. Regisseurin Nazli Saremi hat mit der Lesung „Die Unbeugsamen“ an mehreren Theatern die Protestbewegung im Iran nach dem Tod von Jina Masha Amini in Gefangenschaft offen unterstützt. In „Frankenstein“ verzichtet sie auf direkte politische Bezüge. Sensibel spürt sie den seelischen Verletzungen der Figuren nach, die hinter Shelleys Horrorfantasien stehen. 

Ein Hit aus den 1970er-Jahren bringt das Lebensgefühl der Menschen eindringlich auf der Bühne auf den Punkt. Im Hintergrund ist Blondies „Heart of Glass“ zu hören – der Song zieht sich wie ein Leitmotiv durch die 80-minütige Regiearbeit. Elektronisch verzerrt, klingt der eingängige Pop-Sound gequält. Wie Scherben ritzen die Worte Wunden in die Herzen der Menschen. Großartig fächert Omar Shaker die unterschiedlichen Facetten seiner Frankenstein-Figur auf. Mal ist er Monster, dann verletzliches Kind. Er zittert, schluchzt und bettelt um Liebe. Augenblicke später erschlägt er den kleinen Bruder seines Schöpfers, der ihn als „grausames Monster“ brandmarkte. In dieser Rolle wächst Justin Leontine Woschni über sich hinaus. Blitzschnell lässt Woschni ein harmloses Ballspiel in ein verbales Wortgefecht umschlagen. Zerfressen von Vorurteilen in der Familie, entwickelt die Figur eine zerstörerische Kraft. 

Die romantische Figur Elisabeth Lavenza, Ziehtochter der Familie Frankenstein, setzt Sarah Zastrau der kalten Welt entgegen. Wie im Traum bewegt sie sich zwischen Glück und Verzweiflung. Zugleich ist sie eine starke und entschlossene Frau. Das ist in Shelleys Vorlage anders. Da ist sie ihrem Adoptivbruder und Verlobten Viktor treu ergeben. Sarah Zastrau begehrt gegen den Mann auf, der sie unterdrückt. Sie droht, ihn zu verlassen. Mit rhetorischer Überlegenheit entlarvt die Schauspielerin den Machtmenschen: „Denkst Du eigentlich nie an jemand anderen als Dich selbst?“ Das lässt ihn kalt. Teilnahmslos notiert der Wissenschaftler, der den Tod besiegen und aus Leichen neue Menschen formen will, seine Erkenntnisse in ein Tagebuch. Mit Blicken und Gesten geizt Patrick Schnicke in dieser schwierigen Rolle bewusst. Seine Emotionen liegen nicht nur auf Eis, er tötet sie ab. Das verrät die Körpersprache. Dem Grenzgänger gelingt das großartige Porträt eines Besessenen, den die Angst vor seiner eigenen Kreatur bis zur Tatenlosigkeit lähmt.  

Nazli Saremis Neuentdeckung von Mary Shelleys „Frankenstein“ lässt aufhorchen. Manchmal wirkt die Dramaturgie der Debütantin noch zu brav. Zu gleichförmig plätschert der Plot vor sich hin. Der Reiz ihrer Inszenierung liegt in den Figuren. Für die schauspielerischen Höhepunkte sorgt das Ensemble. Der jungen Regisseurin gelingt es nicht nur, hinter der Fassade des Horrorromans die Menschen wiederzufinden. Ebenso zeugt die Textfassung, die sie mit ihrem Team auf die Bühne bringt, von Respekt und Sprachgefühl. In einer Zeit, da die realen Katastrophen- und Kriegsbilder in den Medien jede Vorstellungskraft sprengen, findet Saremi zu den Augenblicken der Liebe zurück. Dabei zerrt sie den Roman aus dem frühen 19. Jahrhundert nicht gewaltsam in die Gegenwart. Ihre Perspektive ist zeitlos. Sie interessieren die Schicksale der Opfer einer Gesellschaft, der die Würde des Einzelnen nichts gilt. So wirft sie ethische Fragen auf, die In Zeiten von Gen-Forschung und Fremdenhass aktueller denn je sind.         

Erschienen am 20.1.2023

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