Theater der Zeit

Palucca, der Tanz und das Meer

Die Ausdruckstänzerin und Pädagogin Gret Palucca

von Raimund Hoghe

Erschienen in: Recherchen 150: Wenn keiner singt, ist es still – Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019) (09/2019)

Assoziationen: Tanz Akteure Gret Palucca

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Was wird mit dem Tanz? Gret Palucca stellt die Frage nicht nur einmal, sondern drei- oder viermal, und an verschiedenen Stellen des Gesprächs. Und immer, wenn sie danach fragt, klingt ihre Frage wie: „Was wird mit dem Leben?“

Die geplante Unterrichtsstunde, die sie an diesem Vormittag in ihrer Schule geben wollte, fällt aus. Ihre Haushälterin sei krank, und da könne sie nicht aus dem Haus. Auch das verabredete Gespräch möchte sie jetzt am liebsten absagen. „Ich fühl’ mich nicht gut.“ In der Nacht habe sie überhaupt nicht geschlafen. Die Nachrichten und Bilder vom Golfkrieg seien ihr nicht aus dem Kopf gegangen. „Ich bin seit diesem Krieg innerlich so unglücklich“, bemerkt sie in ihrem Haus in Dresden und fragt: „Wo führt das alles hin – der Tanz?“

Wenn man sie sehe, schrieb ein Kritiker in den zwanziger Jahren über die schon damals Legendäre, „sagt man nicht: wie herrlich ist die Palucca, sondern: wie herrlich ist das Leben“. Als ich sie jetzt auf diese Kraft anspreche, meint sie nur: „Das liegt doch wahrscheinlich im Menschen.“ Nach einer Weile fügt sie hinzu: „Das ist nicht so leicht. Man muss ja mit den ganzen Dingen fertig werden – auch mit der sogenannten Wende. Das ist ja auch nicht: heute so, morgen so. Das ist alles nicht so einfach.“ Sie sieht mich an: „Ich müsste ausführlich mit Ihnen sprechen.“ Nur heute sei das leider nicht möglich. „Was machen wir denn nur?“

Tanzen.

Was Tanz für sie gewesen sei, frage ich sie. „Tanzen – das hat eben zu mir gehört. Das ist für mich so selbstverständlich gewesen. Ich hab’ mich immer bewegen wollen, und ich hab’ auch immer tanzen wollen. Aber dass das irgendetwas Besonderes ist, das hab’ ich nicht so empfunden. Ich hatte Glück, dass ich zu Mary Wigman kommen konnte. Wenn man zu einem Meister kommen kann, zu dem man restlos ja sagen kann als junger Mensch –.“ Sie lässt den Satz offen und sagt dann: „Das ist ein ganz natürlicher Weg gewesen.“

Als Kind habe sie Rollschuhläuferin werden wollen, hat die 1902 in München geborene Tochter eines Apothekers einmal erzählt. Die 89-Jährige lächelt, als ich sie daran erinnere. „Rollschuhläuferin, ja, ich bin Rollschuh gelaufen. Und man wollte zum Zirkus – wie viele Kinder.“ Nach einer Pause fährt sie fort: „Meine Eltern sind nach Amerika, als ich sechs war. Ich hatte noch einen Bruder, der ist dann leider verunglückt. Wir haben dann in San Francisco gelebt – da war das auch mit dem Rollschuhlaufen. Ich bin auch in Amerika zur Schule gegangen.“ Doch schon nach anderthalb Jahren kehrte die Familie zurück nach Europa. „Wir sind dann gleich nach Dresden, weil das eine internationale Stadt war. Ich muss zurückdenken –.“ Gret Palucca unterbricht. Fast verwundert bemerkt sie: „Hach, so lang lebe ich schon.“

In Dresden habe sie auch ihren ersten Ballettunterricht bekommen, 1914, an der Staatsoper „bei Heinrich Kröller“. Sie buchstabiert seinen Namen. „K-r-ö-l-l-e-r. Das war ein sehr guter Tänzer und Ballettmeister.“ Doch die vorgegebenen Haltungen und Positionen des klassischen Balletts entsprechen der eigenwilligen Palucca nicht. „Das hat mir irgendwie nicht gelegen. Ich wollte meine eigenen Ideen und Phantasien zeigen, und das ging nicht bei dem strengen klassischen Training. Dann hab’ ich auch keinen Unterricht mehr bekommen, weil das keinen Sinn hatte. Und dann sah ich zum ersten Mal Mary Wigman und war begeistert.“ Über diese Begegnung schrieb sie schon vor Jahren: „Es ist sehr schwer, der heutigen Generation klarzumachen, was für uns damals Mary Wigmans erstes Auftreten bedeutete. Es war so etwas unerhört Neues, etwas so Elementares, dass mir sofort klar wurde: Entweder kann ich bei ihr tanzen, oder ich lerne es nie! Hier war der neue Tanz, der meinem Ideal entsprach.“

Als die Ausdruckstänzerin 1919 eine Schule in Dresden eröffnet, wird die 17-jährige Palucca eine ihrer ersten Schülerinnen und Mitglied ihrer Tanzgruppe. Mit ihr geht sie auf Tournee, ist im Rahmen der Gruppe und mit Solotänzen zu sehen und macht sich schließlich 1924, gerade 22 Jahre alt, selbstständig. „Ich war glücklich bei der Wigman, froh, dass ich endlich die richtige Meisterin gefunden hatte. Aber“, erklärte sie einmal in einem Interview, „an einem bestimmten Punkt spürte ich eben genau, dass ich nun meinen eigenen Weg gehen musste.“ Das tat sie. Konsequent und mit großem Erfolg. Publikum und Kritik feierten sie gleichermaßen.

„Die Palucca ist in jedem Tanz echt und hell und herrlich in ihrer kraftvollen Lebensbejahung. Sie hat eine unbeschreiblich reine Anmut, eine wundervoll hohe Heiterkeit und einen erschütternden Ernst“, schwärmte ein zeitgenössischer Kritiker. Und ein amerikanischer Beobachter fand: „Ihre Technik ist ungeheuer und wird niemals zum Selbstzweck. Sie ist nie eine Virtuosin, obwohl sie eine sein könnte. Da ist ein Charme des Verhaltens, eine lyrische Erhebung, die dem Schwergewicht der teutonischen Atmosphäre einen Sprung versetzt“ – was dann im Nazideutschland als „artfremd“ und „entartet“ galt. Bei der Uraufführung ihres Films Serenata erzwangen randalierende SA-Männer 1933 in Berlin die Absetzung des Films; ab 1939 durfte die Tänzerin mit den griechisch-ungarischen Vorfahren nicht mehr in staatlichen oder städtischen Einrichtungen auftreten. Zwar gab es noch Auftritte der international gefeierten Solistin, doch durften die in Deutschland nicht mehr lobend erwähnt werden.

1939 wurde von den Nazis auch die Schule geschlossen, die die 23-jährige Palucca 1925 in Dresden aufgemacht hatte. „Ich hab’ von mir aus keine Schule machen wollen, aber es haben sich von allein junge Menschen gemeldet. Und da hab’ ich eben angefangen, zu unterrichten – und das ist so allmählich die Schule geworden“, berichtet sie und sagt: „Ich hänge an der Schule und hab’ mir große Mühe gegeben, sie richtig zu führen. Es ist ja alles nicht so leicht gewesen – die ganzen Zeiten, die schwer waren, die Nazizeit – ich hab’ das ja alles nicht mitgemacht.“ Gleich nach dem Krieg, in dem sie bei den Bombardements auf Dresden bis auf zwei ausgelagerte Kisten allen Besitz verlor, tanzte und lehrte sie wieder. „Ich hab’ Karteikarten an die Bäume geheftet, dass ich wieder unterrichte. Ich hab’ mit zehn Schülern angefangen am 1. Juli ’45 – meine Güte, ich leb’ ja schon viel zu lange“, sagt sie lachend und ihre Augen blitzen und gucken fragend nach Widerspruch.

Warum sie schon 1950 aufgehört habe, zu tanzen? „Ich wollte unter keinen Umständen zu den Menschen gehören, die zu lange etwas ausführen. Schon als junger Mensch habe ich gesagt: Zu einer bestimmten Zeit höre ich auf“, antwortet sie und fügt dann hinzu: „Ich hatte das Glück, dass ich genauso gern tanze wie unterrichte. Das war ein sehr schöner Übergang von der Tänzerin zur Pädagogin – als Tänzerin soll man doch nicht zu lange tanzen.“ Sie lächelt. „Der Körper ist unsere Sprache und ich wollte nicht …“ Sie überlegt und räumt dann ein: „Ich hab’ vielleicht ein bisschen zu früh aufgehört. Das war vielleicht ein Tick, dass ich nicht so lange tanzen wollte.“

Alle Möglichkeiten des Tanzes hatte sie „erleben, ausleben, austanzen“ wollen und „bis an die Grenze vorstoßen und mich des unendlichen Umfangs und der unendlichen Tiefe vergewissern, die im Tanz beschlossen liegen“. Aufmerksam verfolgt wurde ihr Vorstoß zu den Grundlagen des Tanzes nicht zuletzt von bildenden Künstlern. Die Bauhaus-Meister sahen in der Palucca eine Schwester. „Wir sprechen von Gestaltung, von Gesetzmäßigkeiten der Gestaltung – wir versuchen eine neue Ästhetik zu formulieren – und noch fehlen uns die elementaren Grundlagen der Gestaltung selbst. Sie werden aber langsam erobert. Auf dem Gebiet des Tanzes ist Palucca bisher die einzige, die das zu realisieren anfängt, was von vielen oft und oft als Forderung aufgestellt wurde. Sie ist die klarste unter den heutigen Tänzerinnen“, schrieb László Moholy-Nagy und entdeckte in ihrem Tanz „das neu gefundene Gesetz der Bewegung, exakteste Gefüge von immer raumlebendiger Spannung. Palucca verdichtet den Raum, sie gliedert ihn: der Raum dehnt sich, sinkt und schwebt – fluktuierend in allen Richtungen. Und sie wächst, spannt, lockert, multipliziert sich. Der Raum ist ihr immer gegenwärtig, ohne dass sie sich zentral herausstellt.“

„Dass diese Künstlerin sehr wichtig ist“, war auch für Paul Klee keine Frage. Nach einem Tanzabend der Palucca in Weimar, zu dem nahezu alle Lehrer und Schüler des Bauhauses gekommen waren, berichtete er: „Gerade der Umstand, dass alles Allzuindividuelle, Zufällige überwunden und ins Typische gesteigert war, brachte ihr das sonst nicht immer einstimmige Lob unserer damaligen Weimarer Gesellschaft.“ Mit Klee und seiner Familie war die Palucca später eng befreundet – wie auch mit Kandinsky, der 1926 einen Text und vier Zeichnungen zu ihrer Arbeit veröffentlichte. „Paluccas Tanz ist vielseitig und kann von verschiedenen Standpunkten beleuchtet werden“, notierte er in der Zeitschrift Das Kunstwerk. „Was ich aber hier unterstreichen möchte, ist der selten genaue Aufbau nicht bloß des Tanzes in der zeitlichen Entwicklung, sondern in erster Linie der exakte Aufbau einzelner Momente, die durch Momentaufnahmen fixiert werden.“ Die von Charlotte Rudolph fotografierten Momentaufnahmen der tanzenden Palucca nahm Kandinsky schließlich als Ausgangspunkt für seine analytischen Zeichnungen und schuf mit ihnen eine eindrucksvolle Hommage an die damals 24-jährige Tänzerin.

„Ich hab’ viel Glück gehabt“, stellt die 89-Jährige rückblickend fest. „Für mich ist sehr schön gewesen, dass ich so viel Kontakt zur bildenden Kunst und Architektur hatte. Ich mochte immer gern, dass es nicht so einseitig ist. Ich hab’ viel gelernt dadurch. Ich gebe mir auch große Mühe in der Schule, dass die Schüler nicht nur ans Tanzen denken, sondern sich weiterbilden in jeder Beziehung. Die jungen Leute, die ich heute unterrichte, sind zehn, elf Jahre – wenn die genügend geistige Nahrung kriegen, merke ich, dass die unheimlich gut darauf reagieren.“ Neulich habe ihr zum Beispiel eine Schülerin eine Kunstpostkarte mit einem Porträt von Franz Schubert gebracht, „weil sie wusste, dass ich unter den Romantikern Schubert am meisten schätze. Das sind solche Sachen, die ich mir gern erhalten will“, erklärt sie sanft und berichtet nicht ohne Stolz: „Die malen auch, wenn ich mit ihnen über Farbe spreche. Ich bin da ja auch ein Laie, aber ein bisschen verstehe ich doch.“

In den zwanziger Jahren habe sie Kandinsky einmal Zeichnungen ihrer Schüler geschickt. „Da sind sie so Raumwege gegangen und haben sich überlegt, wie sie in Farbe eine Diagonale ausdrücken würden. ‚Das ist fabelhaft, wie natürlich und selbstverständlich und wie richtig das ist‘, hat mir Kandinsky geschrieben – und ich mach’ das jetzt wieder mit den Kindern. Ich möchte, dass sie sich auch mit bildender Kunst beschäftigen, ein bisschen mehr Allgemeinbildung bekommen. Ich halte das für so wichtig, dass, wenn sie später rausgehen aus unserer Schule, dass sie auch als Persönlichkeit etwas zu unserer Kultur dazutun und nicht nur tanzen, tanzen.“

Palucca wendet sich an Max, ihren Hund, der die ganze Zeit neben ihr gesessen hat. „Nun sag’ du doch mal was – wie Frauchen ist, was Frauchen macht.“ Sie sieht hoch und lacht wie ertappt. „Ich bin ein Tiermensch.“ Ihr Gesichtsausdruck verdüstert sich. Sie erinnert sich wieder an den im verseuchten Golf schwimmenden Wasservogel. „Ich hab’ fortwährend dieses Tier gesehen im Öl. Es hat mich fertiggemacht – diese verklebten Flügel. Ich verstehe das nicht, dass sie das Öl ins Meer schütten. Es macht mich vollkommen fertig, dass Menschen – dass so etwas möglich ist, dass man mit solchen Mitteln arbeitet in der heutigen Zeit. Ich kann mich da nicht nur mit meiner Person beschäftigen – das nimmt mich auch mit.“ Zwischendurch sagt sie leise: „Nicht so viel reden, lieber handeln.“

Gret Palucca streichelt ihren Hund und lächelt. „Dass ich auf einen Mops gekommen bin …“ Früher habe sie immer große Hunde gehabt wie die ungarischen Hirtenhunde. Der Mops sei jetzt ihr elfter Hund. „Sie können nicht ohne Tier sein“, habe ein Tierarzt ihr einmal gesagt. „Das gibt’s ja, angeborene Tierliebe. Auch ein bösartiger Hund tut mir nichts“, erklärt sie und meint: „Ich hätte Tierpfleger werden müssen.“ Sie sieht mich an. Was sie für mich tun könne? Ob ich etwas trinken möchte? Sie geht in die Küche und bereitet Tee.

„Es ist so schwer, immer die richtigen Dinge zu sagen“, stellt sie bei ihrer Rückkehr fest. „Ich weiß nicht, was ich erzählen soll. Ich will mich ja auch nicht immer wiederholen. Ich bin nämlich kein Mensch, der viel spricht. Ich bin froh, dass dieses Buch rausgekommen ist damals.“ Sie weist auf einen Ausstellungskatalog auf einem ihrer Bücherborde. Künstler um Paluccawar der Titel der Ausstellung, die anlässlich ihres 85. Geburtstages in Dresden gezeigt wurde; im Katalog dazu hatte sie ausführlich erzählt von ihren Begegnungen mit Kandinsky und Klee, Dix und Moholy-Nagy, Feininger und Jawlensky, Gropius und Mies van der Rohe, Ernst Ludwig Kirchner, der sie malte, und El Lissitzky, der wie viele andere Künstler längere Zeit Gast in ihrem Haus war. Dass sie den schwer lungenkranken Lissitzky bei sich aufnahm, habe ihren Mann, Friedrich Bienert, damals sehr aufgeregt. „Er hatte Angst vor Ansteckung.“ Die von 1924 bis 1930 mit dem Sohn der legendären Kunstsammlerin Ida Bienert verheiratete Palucca war da weniger ängstlich. „Ich habe gesagt, dass mir die Krankheit egal ist, wenn es um einen Maler geht, der mich interessiert.“

Auch von zwei sehr besonderen Bildern in zwei sehr besonderen Räumen hatte sie 1987 im Interview mit den Dresdner Ausstellungsmachern gesprochen: von einer Arbeit Mondrians und einem Aquarell von Paul Klee, „an dem ich sehr, sehr hing. Das passte genau in mein Zimmer in der Bürgerwiese, ein merkwürdig hellblaues Zimmer. Die Farbe hatte Kandinsky angegeben und auch kontrolliert. Wenn Menschen, die ein bisschen sensibel waren, zu mir kamen, sagten sie immer: ‚Wie können Sie bloß darin leben, das ist so wahnsinnig klar, da kann man sich überhaupt nicht verstecken.‘“ Doch sie wollte sich ja nicht verstecken und suchte die Klarheit – die sie auch bei Mondrian realisiert fand. Im Übungsraum ihrer Wohnung, in einem schneeweißen Saal, über einem schwarzen Flügel, hing ab Mitte der zwanziger Jahre seine Komposition I mit Blau und Gelb. „Das war eine Zeit, in der ich gern so getanzt hätte, wie Mondrian gemalt hat.“ Nicht zuletzt seine Präzision faszinierte sie. „Das Bild war für mich von Anfang an ein Kunstwerk. Ich fand es sehr klar und die Proportionen besonders schön.“ Danach habe sie keine Bilder mehr aufgehängt. „Wenn ich nicht ein Bild habe, das Mondrian entspricht – ich würde auch einen Klee aufhängen –, dann bin ich nicht interessiert.“

Die Palucca sieht sich um in ihrem einfach eingerichteten schmucklosen Büroraum. „In meinen früheren Saal passte der Mondrian. Aber wie soll ich denn hier …? Da hänge ich lieber nichts auf als irgendeinen Druck.“ Doch kürzlich habe sie von den Eltern einer Schülerin einen sehr schönen Kalender mit Impressionisten bekommen, über den sie sich sehr gefreut habe – wie sie sich auch heute noch über Kunstpostkarten freuen kann, die sie seit ihrer Kindheit mit großer Begeisterung sammelt. „Wenn ich abends im Bett lag, bin ich oft aufgestanden und an meine Karten gegangen und habe mir eine herausgezogen und sie betrachtet. In dieser Form habe ich bildende Kunst kennengelernt. Dann habe ich im Lexikon nachgelesen, das hat mich unheimlich gereizt.“

Die Auseinandersetzung mit bildender Kunst oder Musik sei für sie anregender, „als wenn ich mich irgendwie mit Tanz beschäftige. Das ist ganz eigenartig – das hab’ ich immer gehabt“, stellt die Palucca fest und sagt ganz unpathetisch: „Musik ist für mich lebensnotwendig. Ob klassische oder moderne oder zeitgenössische Musik, das spielt keine Rolle. Musik ist für mich in jeder Beziehung – brauch’ ich einfach zum Leben.“ Doch nicht nach jeder Musik würde sie tanzen. So würde sie von ihren Schülern nie verlangen, nach der Musik von Bach zu tanzen. „Haydn vielleicht, aber schon mit Mozart ist das schwierig. Wie wollen sie das als Tänzer noch vervollkommnen? Das ist doch nicht so einfach. Ich weiß noch ganz genau, dass mir einmal der Paul Klee gesagt hat: Das dürften wir nie machen – Bach tanzen. Das ist so vollendet, dass wir nichts dazu tun können“, sagt sie und weiß: „Es wird ja heute viel Bach getanzt – ja, die Zeiten haben sich geändert.“ Das Tempo, mit dem sich jetzt manches in der ehemaligen DDR zu verändern scheint, macht sie nachdenklich. „Wir sind natürlich glücklich, dass wir diese fürchterliche Zeit vorüber haben. Aber ich verstehe nicht, wenn ein Mensch eine Überzeugung hatte, dass er sich plötzlich ändert – das braucht doch Zeit.“ Auch wenn es nun vorwärts gehe: „Das ist nicht von heute auf morgen zu machen. Lebensmittel und was es jetzt alles gibt – das ist ja nicht alles.“

Geschichte hinterlässt Spuren – auch in den Körpern. Gret Palucca sieht das auch bei ihren Schülern. „Es macht sich natürlich die ganze schwere Zeit bei den jungen Leuten bemerkbar, dass sie die ganzen Jahre, vierzig Jahre unter einem Zwang gearbeitet haben – das muss man alles wieder lösen, dass sie freier werden. Ich möchte, dass sie von sich aus schöpferisch sind. Ich merke auch, dass sie das wollen und dass das geht – sie müssen einfach die Nahrung bekommen“, erklärt die Pädagogin, aus deren Schule unter anderem die Regisseurin Ruth Berghaus, der Choreograf Tom Schilling und die Tänzerin Arila Siegert hervorgingen.

Lange Zeit war die Palucca die Einzige, die in der DDR modernen Tanz unterrichtete. Dass ihre Ideen vom Neuen Künstlerischen Tanz nicht unbedingt den Vorstellungen linientreuer Parteifunktionäre entsprachen, konnte sie schon 1950 feststellen: Wegen Missachtung der Massenerziehung und Massenarbeit wurde sie von der SED offiziell gerügt. Doch die Mitbegründerin der Akademie der Künste der DDR ließ sich nicht einschüchtern. Zur braven Propagandistin eines deutschen Nationaltanzes nach sozialistischem Einheitsparteimuster eignete sich die Ausdruckstänzerin nicht. 1952 legte sie wegen administrativer Eingriffe der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten die Leitung ihrer 1949 verstaatlichten Schule nieder. Und als 1953 zum Richtfest für den Neubau des im Krieg zerstörten Schulgebäudes eingeladen wurde, stand der Name Palucca nicht auf der Liste der Eingeladenen – obwohl sich befreundete Kollegen wie Brecht, Helene Weigel und Paul Dessau für sie eingesetzt hatten. Erst als Kulturminister Johannes R. Becher sie 1954 wieder zur künstlerischen Leiterin der Schule berief, konnte die später mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen bedachte Palucca weiterarbeiten. Funktionäre merkten zwar immer mal wieder an, dass ihre Tänzer „nicht genügend im sozialistischen Sinne erzogen“ würden, doch das stand sie durch. „Hab’ ich ganz gut durchgehalten“, meint sie rückblickend.

Warum sie in Dresden geblieben sei, werde sie oft gefragt. Ihre Antwort: „Ich hab’ immer sehr an Dresden gehangen.“ Und: „Ich hab’ immer gesagt: Warum gehen die vielen Menschen weg? Die müssten doch eigentlich helfen, dass es hier weitergeht.“ In der neuen Situation hoffe sie, dass es jetzt auch weitergehe mit ihrer Schule. „Ich denke immer, dass man in Dresden eine Spezialschule machen könnte – dass da nicht nur trainiert wird, dass ein bisschen mehr auch künstlerisch gearbeitet wird, dass ein bisschen was passiert. Das müsste man allmählich fertigbringen – aber es ist sehr, sehr schwer. Es fehlt uns natürlich auch an Menschen. Wir müssten auch an der Schule mehr Gäste haben, mehr Pädagogen. Aber das wichtigste für die Schule ist jetzt, dass wir einen neuen künstlerischen Leiter finden.“ Ob er alles verändern wolle oder fortführen wolle, was bisher erarbeitet wurde, finde sie nicht entscheidend: „Da darf man nicht kleinlich sein.“ Angesprochen auf ihre Offenheit, sagt die 89-Jährige sehr bestimmt: „Das muss man sein. Die Hauptsache ist, dass es gut ist. Wir müssten nur die Persönlichkeit finden. Aber das ist unheimlich schwer“, bemerkt sie und fragt: „Wie kommt es denn, dass es so schwer ist, eine Persönlichkeit zu finden? Was ist das nur mit dem Tanz?“

„Bewegt euch. Tanz müsst ihr leben, erleben. Da muss etwas in euch vorgehen“, rief die Palucca kürzlich ihren jüngsten Schülern im Unterricht zu. Sie versuche, so zu arbeiten, dass ihr moderner Unterricht dem Anfang der fünfziger Jahre in den Lehrplan aufgenommenen klassischen Tanz nicht schade. „Das muss in einer guten Weise zusammengehen. Das muss sich ergänzen. Man darf nicht gegeneinander arbeiten.“ So ist auch ihre Suche nach neuen Bewegungen nicht unbedingt eine Kampfansage an das klassische Ballett gewesen. „Ich hab’ ja nicht gesagt: Ich bin modern und will mit klassisch nichts zu tun haben. Der klassische Tanz wird einfach gebraucht. Aber der muss sich auch weiterentwickeln. Der kann nicht mehr sein wie vor dreißig Jahren – es geht ja alles weiter in der Welt.“ An anderer Stelle sagt sie noch: „Der klassische Tanz, der muss doch technisch einfach sehr gut sein – sonst ist es schrecklich.“

Um sich ausdrücken zu können als Tänzer, sind Disziplin, Konzentration und Präzision für sie selbstverständlich. „Der Körper muss sprechen. Tanz ist nun einmal – die Sprache ist halt der Körper. Im Grunde müssen sie immer in Form sein, weil ihr Körper ihr Instrument ist. Die müssen ihren Körper von oben bis unten beherrschen. Da können sie auf der anderen Seite nicht viel anderes machen – aber wir brauchen heute Persönlichkeiten“, erklärt sie und es klingt fast beschwörend. „Den Schülern sag’ ich immer wieder: Ihr müsst eure Augen und Ohren offenhalten. Die haben ein achtjähriges Studium, arbeiten von früh bis abends – aber die müssen auch mal raus in die Natur.“ Die als Tänzerin so sprunggewaltige Palucca tat das ihr Leben lang. „Wir sind überall hingegangen“, erinnert sie sich und lächelt wieder ihr mädchenhaftes Lächeln. Die Wigman habe ihr immer gesagt: „Du kannst machen, was du willst, aber früh um acht stehst du ordentlich da und arbeitest.“

Im Gegensatz zu früher lebe sie ja heute sehr zurückgezogen, bemerkt die Palucca und wirkt doch in keinem Moment, als habe sie sich zur Ruhe gesetzt. „Ich mag ja alles nicht, was konventionell ist“, sagt sie einmal und sieht dabei aus, als sei sie noch immer zu jedem Abenteuer bereit. Und wenn sie vom geliebten Meer spricht, ist es ganz nah. Im Februar sei sie oft auf Sylt, und im Sommer müsse ich sie einmal an der Ostsee besuchen, da sei sie immer auf Hiddensee. Das sei ihre zweite Heimat. „Ich bin ein Mensch fürs Meer“, erklärt sie und das Zimmer wird weit und ihre Augen strahlen – bis sie sich wieder an die Kriegsbilder vom verseuchten Meer erinnert. Da käme sie nicht gegen an. „Was sagt meine Freundin immer: ‚Du musst dich nicht so kümmern.‘ Aber wie kann man das? Es geht ja alles kaputt.“

„Was kann ich Ihnen denn nur mitgeben?“, fragt die Palucca und sieht sich unruhig um. Ich denke an einen ihrer Bewunderer aus den zwanziger Jahren, der damals über die Tänzerin schrieb: „Es scheint so, als gäbe sie alles her, was sie geben kann, und gewissermaßen tut sie das auch, und doch ist sie ganz sichtbar voller Zurückhaltung, sie ist für mein Empfinden ein innerlich außerordentlich reicher Mensch und leidet daran, das zu unterschätzen, was sie ganz einfach naturgegeben ist, oder was sie ohne alle sichtbare Bemühung geben kann.“ Das Einfache, sagte sie einmal, sei das Schwerste.

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