Theater der Zeit

Stippvisite

Spielzeug für deine Fantasie

Die interaktive Installation des TAMTAM objektentheater im Speelgoedmuseum Deventer

Bereits in seiner neuesten Publikation „Theater der dingen” richtet der belgische Theaterrezensent und Publizist Tuur Devens den Blick auf das Spiel mit den Dingen, wenn er das (Objekt-)Theater in der flämischen Theaterlandschaft beleuchtet. Für double kontextualisiert er nun die interaktive Ausstellung „Spelen Met Alles“ („Spielen mit allem“) der niederländischen Objekttheaterkompagnie TAMTAM, die – wie auch die Neuausrichtung des Museums insgesamt – den spielenden Menschen in den Fokus rückt.

von Tuur Devens

Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)

Assoziationen: Europa Puppen-, Figuren- & Objekttheater

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In der alten Hansestadt Deventer befindet sich das größte und älteste Spielzeugmuseum der Niederlande. Es ist in zwei altehrwürdigen, miteinander verbundenen Kaufmannshäusern untergebracht und beherbergt mehr als 13.000 Gegenstände. Nach einer gründlichen Renovierung wurde das Museum im September 2021 unter dem Motto „Der Spielende Mensch“ wieder eröffnet.

Das in Deventer ansässige TAMTAM objektentheater wurde für das neue Museum damit beauftragt, Spielmöglichkeiten für die Kinder zu schaffen, die das Museum besuchen. Auf dem Dachboden stand noch ein altes, großes Kasperletheater, vielleicht konnte TAMTAM damit etwas anfangen? Doch der Vorschlag, damit zu arbeiten, wurde von Gérard Schiphorst und Marije van der Sande, den beiden Gründer*innen von TAMTAM, entschieden abgelehnt. Stattdessen schufen sie etwas ganz Neues: die interaktive Installation, die bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen für viel Spielfreude sorgt.

Labyrinth und Wunderkammer

Die beiden Kaufmannshäuser bilden jetzt ein großes Labyrinth, über Treppen geht man von einem Raum in den anderen. Es gibt altes und neues Spielzeug, von Modelleisenbahnen in verschiedenen Landschaften bis hin zu einem mechanischen zeichnenden Clown aus dem 19. Jahrhundert. Man kann mit Kapla-Holzstücken selbst bauen, mit einer alten Zauberlaterne Bilder projizieren, mit einem Wii-Apparat eine Momentaufnahme der eigenen Körperbewegungen festhalten ... und es gibt so vieles mehr zum Staunen und Spielen! Das alte Spielzeug wirkt für Großeltern oft nostalgisch, während es für die Kinder von heute eine Entdeckung ist – vor allem dann, wenn man selbst mit diesen alten Sachen spielen kann.

Die Wunderkammer ist der erste große Saal des erneuerten Museums. Wenn ich, von den vielen übervollen Vitrinen überwältigt, den Blick schweifen lasse, entdecke ich einen großen Bildschirm: Hände legen eine Perle unter einen Kamm, sie drapieren einen Faden, ordnen zwei Knöpfe zu einem Gesicht mit Augen an, und dann formt ein weiteres Paar Hände einen Bart. Zwei Dreiecke als Ohren verwandeln das Porträt schließlich in eine Katze. Gleich neben dem Bildschirm hebt plötzlich ein Stofftieraffe seinen Arm hoch. An der Decke bewegt sich eine Schnur, doch wer löst die Bewegung aus? Ich schaue nach oben und hinter der Mauer einer offenen Zwischenetage sehe ich ein kleines Kind, das an der Schnur zieht. Ich gehe nach oben. Zwei Kinder stehen an einem Tisch, neben ihnen zwei Dosen mit Alltagsgegenständen und Nippes. Daraus greifen sie eine Zahnbürste, einen Knopf, einen noch größeren Knopf, einen Draht … Sie überlegen, was sie wohin legen sollen, ordnen die Dinge aufs Neue, kommentieren ihre Handlungen, fragen einander: „Siehst du, was ich sehe?“ Sie drücken auf einen roten Knopf, das Bild auf dem Bildschirm der Wunderkammer friert ein. Die Kinder wischen alle Sachen vom Tisch und suchen sich neue Dinge ...

Das Credo von TAMTAM

Über dem Tisch hängt ebenfalls ein Bildschirm, der einen kurzen Film mit Anweisungen zeigt. Doch es ist keine Gebrauchsanleitung; es geht auch hier um das ‚Schauen, Suchen, Finden, Denken, Versuchen, Ändern, …‘ An der Wand steht das Credo von TAMTAM: „Alles kann etwas anderes werden, ein Korken wird Auge, Sonne, Mond oder Pfannkuchen, ein rostiger Nagel spielt Arm, Bein, Baum oder Meeresboden, Spielzeug für deine Fantasie.“

Der niederländische Dichter Lucebert ist vielen Menschen bekannt durch den Vers „Alles van waarde is weerloos.“ („Alles von Wert ist wehrlos“). Es ist ein Zitat, das man oft in Traueranzeigen lesen kann. TAMTAM dreht diesen Spruch um: für das Künstlerpaar kann jedes weggeworfene, kaputte Objekt, das wehrlos hinterlassen wird, von Wert sein. Metallstücke, eine Taucherbrille mit einem gesprungenen Glas, eine Teekanne mit Dellen, alles, aber auch wirklich alles kann – so komisch und verrückt es auch sein mag – für eine Vorstellung dienen. Die Gegenstände müssen jedoch erst auf die Probe gestellt werden, bevor sie eine Rolle bekommen.

In „Rostige Nägel & Sonstige Helden“ sind etwa rostige, krumme und gerade Nägel, Kartonstücke, Metall, ausrangierte Arbeitshandschuhe und Eisendrahtbällchen die Akteure. Auf einem Arbeitstisch mit (kaputten) Objekten erdenken Gérard und Marije viele fantasiereiche Szenen. Eine Figur aus Metallabfall wird zu einem Schloss, dann zu einem Berg, zu einer Brücke und immer so weiter. Das Formenspiel wird auf einen großen Bildschirm projiziert und das alles wird von einer Klanglandschaft untermalt. Es ist ein herrliches Spiel der Metamorphosen.

Dieses Stück war der Ausgangspunkt für die Installation im Spielzeugmuseum. Rostige Nägel und Eisenstücke mit scharfen Kanten waren natürlich zu gefährlich für Kinderhände, darum sind die Dinge, die das Publikum aus den bereitstehenden Aufbewahrungsdosen fischen kann, sicher und kinderfreundlich. Sie bilden das Ausgangsmaterial, um ganze Geschichten mit Objekten zu erzählen. Meist sind es die Kinder, die damit anfangen, doch schnell kann man auch die Großeltern und andere Erwachsene beim Spielen beobachten.

Homo ludens

Der Mensch ist von Natur aus ein spielendes Wesen, so wie er von Natur aus über Sprache verfügt. Das Baby, das Kleinkind, das Kind und auch der*die Erwachsene spielt, wenn auch vielleicht etwas weniger. George Bernard Shaw schrieb: „Wir hören nicht auf zu spielen, weil wir alt werden; wir werden alt, weil wir aufhören zu spielen.“ Glücklicherweise gibt es Künstler*innen, die das Spielen beibehalten. Wie Gérard und Marije von TAMTAM: Mit alltäglichen Gegenständen und Abfall basteln sie, experimentieren sie, erwecken sie Dinge zum Leben.

TAMTAM spielt seit mehr als vierzig Jahren sein Theater der Dinge und lässt uns die Welt aus einem anderen Blickwinkel sehen. Das junge und alte Publikum kann nun ihrem Beispiel folgen, und selbst fantasievolle Welten entdecken, indem sie auch zu Hause herrliche Geschichten erdenken – aus altem Spielzeug, aus Holzstücken, aus Wollresten, ... So verdeutlichen TAMTAM mit ihrem Theater der Metamorphosen den Leitspruch des Museums: „Im Museum wird man entdecken, dass Spielzeug nicht nur unterhaltsam ist, sondern dass es auch viel über uns selbst erzählt.“

www.hetspeelgoedmuseum.nl/de

www.tamtamtheater.nl

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