Stationen eines Theatermachers
Alle Welt soll Theater spielen oder Immer dort, wo es schwierig ist
Intendanz am Theater im Pfalzbau 2004 – 2014
Erschienen in: Theater! Arbeit! Heyme! – Der Schauspieler, Regisseur und Intendant Hansgünther Heyme (12/2015)
Assoziationen: Akteure Rheinland-Pfalz Hansgünther Heyme Theater im Pfalzbau

Alle Welt rätselte, warum. Hansgünther Heyme entschied sich mit 68 Jahren – in einem Alter, in dem andere sich längst zurückgezogen haben – noch einmal für etwas komplett Neues, für ein „Bespieltheater“. Er, der in Köln, Stuttgart, Essen und Bremen die größeren Bühnentanker der Republik und bis 2003 die Ruhrfestspiele geleitet hat, übernahm 2004 das Theater im Pfalzbau Ludwigshafen – ein reines Gastspielhaus. Mit 1141 Plätzen. Ohne Ensemble, ohne Werkstätten. Ein Theater ohne Theater!
Ende 2014, mit 79 Jahren, am Ende einer elfjährigen Intendanz in Ludwigshafen, legte Heyme dort eine Bilanz vor, die manch andere mit besser ausgestatteten Häusern nicht vorweisen können. Er hat Festspiele ins Leben gerufen, für die er international stilbildende Inszenierungen in die Stadt holte. Er hat vielfältig mit Migranten gearbeitet, die Festwoche Türkei und die ORIENTierungstage begründet, mit griechischstämmigen Bürgern antike Klassiker inszeniert sowie in Koproduktionen mit Theatern in Zagreb und Maribor Aufführungen kroatischer und slowenischer Sprache hierher gebracht. Außerdem hat er es – wie gesagt, ohne eigenes Ensemble – geschafft, das denkbar größte Musiktheaterprojekt, nämlich Wagners Ring, in Ludwigshafen zu realisieren: „für die Menschen der Stadt und mit ihnen“, wie er sagt. Und als Schlusspunkt seiner Intendanz hat er mit rund 70 Laien das Gilgamesch-Epos auf die Bühne gestemmt, eines der ältesten Werke der Weltliteratur, als große, konzertierte Bürgeraktion. Zu Zeiten, da in den Metropolen Debattenbegriffe wie „Stadttheater“, „Bürgerbühne“ und „Migrantenpartizipation“ hoch im Kurs stehen, darf man sagen: Heyme hat vieles davon in Ludwigshafen konkret umgesetzt und zum festen Bestandteil seiner Spielpläne gemacht. „Theater ist demokratische Arbeit“, lautet einer seiner Kernsätze. Und: „Alle Welt soll Theater spielen!“
Wir treffen uns einen Tag vor Silvester 2014, an seinem letzten Ludwigshafener Arbeitstag, im Intendantenzimmer – ein paar Kartons stehen noch herum, sonst ist alles schon leer geräumt, nur die Schlüssel muss er noch abgeben. Abschiedsstimmung? Vielleicht, doch der 79-jährige Heyme redet nicht übers Aufhören. Sondern übers Weitermachen. Er, der zur Generation der Peter Steins und Claus Peymanns zählt und in den 1950er Jahren noch bei Erwin Piscator, einem der Pioniere des politischen Theaters, angefangen hat, erzählt als Erstes von seinem nächsten Großprojekt: Shakespeares Der Sturmwill er machen und zwar im Sommer 2015 mit bulgarischen Zuwanderern in Neckarstadt-West, einem sozialen Brennpunkt Mannheims. „Ich gehe immer dahin, wo es besonders schwierig ist“, sagt Heyme. Und: „Theater erhält einen am Leben.“
Solche Projekte, die heute unter den Begriffen „aufsuchende kulturelle Bildung“ und „site-specific theatre“ firmieren, durchziehen sein Theaterleben wie ein roter Faden. Schon als Schauspieldirektor in Köln arbeitete er, angelehnt an Giorgio Strehlers Mailänder „Piccolo Teatro“, in den frühen 1970er Jahren wöchentlich mit Bewohnern des Stadtteils Chorweiler, der damals größten Hochhaus- und Plattensiedlung in NRW. Später, in Essen ab 1985, wo er die Schließung des Grillo-Theaters verhinderte, zog er mit spezifischen Produktionen „von Kneipe zu Kneipe“. Bei den Berliner Festspielen zur 750-Jahr-Feier 1987 inszenierte Heyme Nathan der Weise als Stationendrama, als Wandertheater entlang der Mauer, als Gang durch die deutsche Geschichte. Und als Leiter der Ruhrfestspiele ab 1991 bespielte er Zechen, Brachen und Fabriken, wertete das Treffen zum Europäischen Festival auf und steigerte die Besucherzahlen von 15 000 auf über 65 000.
In einem Punkt ist er zeitlebens Piscator-Schüler geblieben: „Theater muss politisch sein“, sagt Heyme. Vergleichbar mit den Arbeiten Steins und Peymanns verkörperten auch seine Inszenierungen ab den 1960er Jahren die Anfänge des sogenannten Regietheaters, dessen frühe Vertreter einst von Georg Hensel als „Theaterverhunzer“ denunziert wurden. Mit dem Begriff Regietheater kann Heyme zwar heute „nichts mehr anfangen“, doch wie viele seiner Kollegen setzte er – gegen die unpolitische, ahistorische Ästhetik restaurativer Theatergralshüter – auf kritische Textanalyse, gesellschaftliche Relevanz und expressiv-körperliche Wirkung. „Lust und Schauder, blutverschmiert“, so schlagzeilte die Fachpresse 1964 über seinen Wiesbadener Marat/Sade. Es war die erste einer langen Reihe viel beachteter Inszenierungen, mit denen Heyme zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde.
Wer will, kann in Heymes Bühnenbiografie auch eine Kette von Skandalen entdecken. Seine Umdeutung von Schillers Wilhelm Tell 1965 als gnadenlose 39 Abrechnung mit dem NS-Faschismus – der Rütli-Schwur wurde mit Motiven des Horst-Wessel-Lieds unterlegt – löste heftigen Aufruhr aus, Heyme bekam Einreiseverbot in die Schweiz. An den Münchner Kammerspielen sorgte 1971 seine Inszenierung von Wolf Biermanns Kapitalismuskritik Der Dra-Dra für politischen Wirbel; Heyme erinnert sich bis heute an den denkwürdigen, fünfminütigen, „einfach gigantischen“ Todesschrei des Drachen, den die Brecht-Schauspielerin Therese Giehse dazu im Tonstudio eingespielt hatte – eine geplante Programmheftseite mit Fotos von westdeutschen „Drachen aus Politik und Wirtschaft“ durfte nicht gedruckt werden. In Stuttgart scheiterte 1983 Heymes Dramenprojekt Der Lieblingsnazi über den NS-Generalfeldmarschall Erwin Rommel an dessen Sohn, dem damals amtierenden OB Manfred Rommel. Und in Ludwigshafen, wo Helmut Kohl im Stadtteil Oggersheim wohnt, versuchte die CDU-Ratsfraktion 2005 vergeblich, ein von Heyme angesetztes Gastspiel von Johann Kresniks Ballett Hannelore Kohl – Ich verbrenne von innen zu verhindern.
In seiner über 50-jährigen Theaterlaufbahn – er begann 1957 als Schauspieler und Regisseur in Mannheim, wo er bei Erwin Piscators Räuber-Inszenierung assistierte – hat er so ziemlich alle Kämpfe gekämpft, mit Politikern, mit Sponsoren, mit der Presse. Dass er zuletzt nach Ludwigshafen ging, in eine von monströsen Hochstraßen geprägte Arbeiterstadt, hat auch damit zu tun, dass es die Heimat des Philosophen Ernst Bloch ist. Heyme hat viel hier bewegt, seine Eigen- und Koproduktionen setzten Maßstäbe, erwähnt seien Sophokles’ Ödipus und Antigone, aber auch zeitgenössische Dramen wie Pessach von Laura Forti und Heiliges Land von Mohamed Kacimi sowie Lortzings selten gespielte Revolutionsoper Regina.
Nach elf Jahren Heyme-Intendanz galt das „Bespieltheater“ im Pfalzbau Ludwigshafen als gelungenes „Modell“. Das „Zauberwort“ hieß Kooperation mit anderen Häusern. Nur als Zusammenarbeit – zwischen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz und dem Opernhaus Halle – konnte Heyme zum Beispiel sein logistisches Großprojekt, Wagners Ring (2010 – 2013), hier realisieren, ein „Göttergeschenk“, wie er gerne sagt. Musikalischer Leiter war der Barenboim-Eleve Karl-Heinz Steffens. Entscheidend für die Akzeptanz dieses verrückten Plans war sicher, dass Heyme als Regisseur, Ausstatter und Dramaturg in sparsamer Personalunion diesen Ring als kulturpolitisches Projekt mit breiten Partizipationsmöglichkeiten aufzog. So kreierten Kinder und Jugendliche rund um Zitate von Bloch einen riesigen, 126 Quadrate umfassenden „Vorhang der Hoffnung“, und für die Walküre-Bühne kam eine von der Sprayerszene gestaltete „Wand der Verzweiflung“ zum Einsatz. Selbst das Kostümdesign wurde mittels des Wettbewerbs „Create Siegfried – Was ist heute ein Held?“ zu einer Bildungsaktion ausgebaut. Heymes Selbstverständnis: „Intendanz ist hier immer auch Sozialarbeit.“
Das Gilgamesch-Epos, seine letzte Ludwigshafener Regiearbeit, verdankt sich einem ähnlichen Ansatz. Heyme hat das jahrtausendealte Epos – gespielt wird die Übersetzung des Heidelberger Assyriologen Stefan Maul in einer Spielfassung von Christoph Klimke – als Kollektivprojekt mit 70 Laienschauspielern auf die Bühne gestemmt. In „manch schlafloser Nacht“, erzählt er, habe er befürchtet, dass jemand ausfällt und er eine der Vorstellungen abblasen muss. Doch die hoch motivierten Darsteller sind stets erschienen, auch ohne Auslagenersatz für die Straßenbahn. Und das künstlerische Ergebnis kann sich sehen lassen: Heyme erzählt das Leben des Zweidrittelgottes Gilgamesch, Herrscher von Uruk, als exemplarischen Läuterungsprozess – vom jungen, rücksichtlosen Tyrannen zum leidgeprüften, verantwortungsbereiten Volkskönig. Die Götter residieren auf einem Berg aus Sperrmüllmöbeln und vom Zustand des irdischen Bereichs künden graue, abgeranzte Abfallcontainer. Heyme nutzt den pathetisch gefärbten Tonfall der Darsteller, um die poetische Kraft der archaischen Sprache zur Geltung zu bringen. Lebenspralle Massenszenen, bildstark chiffrierte Erotikmomente, Panthermasken, Off-Sounds (Jan F. Kurth), eine gesungene Totenklage 41 (aus Bohuslav Martinus Oratorium), ein Ballett mit Feuertänzern, ein Mensch in einer Riesenkugel, Trommelrhythmen, chorische Sprechmotetten – das alles formt Heymes Ensemble zu einem großen, sinnlichen, zirzensischen Spektakel, das nicht so tut, als ob es heute spielt, sich aber in vielen Momenten aufs Heute beziehen lässt.
„Ich wusste gar nicht, was ich alles kann“, schreibt eine Laiendarstellerin über die Arbeit an Gilgamesch. So hat Hansgünther Heyme in Ludwigshafen gezeigt, wie sich ein reines „Bespieltheater“, das andernorts oft nur das „Operettenbedürfnis“ weiter Publikumskreise befriedigt, mit städtischem Leben, mit regionaler Identität füllen lässt. Auch bei seinem Abschied, typisch Heyme, nimmt er kein Blatt vor den Mund: Er bekennt mit einer gewissen „Herbheit“, dass er gern noch zwei, drei Jahre weitergemacht hätte. Das Land Rheinland-Pfalz hat ihm schon 2007 den Kulturpreis verehrt. Doris Ahnen, die Kulturministerin, betonte in der Laudatio, „dass Heyme in ganz unnachahmlicher Weise Theaterkultur in Ludwigshafen neu etabliert habe und dabei – modellhaft für andere Städte in Deutschland – gerade auch auf ein theaterferneres Publikum mit Migrationshintergrund zugehe“. Heyme selbst spricht, nicht ohne Stolz, gar von einer „Revolution in dieser Stadt“. Da huscht dann doch, im leergeräumten Intendantenzimmer am Tag seines Abschieds, ein Lächeln über sein Gesicht.