Einfach loslassen
Zu Luk Percevals Inszenierung „Mut und Gnade“ am Schauspiel Frankfurt
von Marion Tiedtke
Erschienen in: Arbeitsbuch 2019: Luk Perceval (07/2019)
Da stehen sie in Alltagskleidern vor einer großen schwarzen Wasserfläche. Ein langes Schweigen folgt, bevor sich ein Gelächter Bahn bricht, das alle nacheinander ansteckt. Sie biegen sich vor Lachen und stürzen sich schließlich in das kalte Nass. Acht Schauspieler, vier Männer und vier Frauen, erleben über zwei Stunden einen Kampf mit dem Wasser und ringen mit Texten, die vom Kampf gegen Krebs erzählen. Es ist kein Roman, es ist kein Drama, es gibt hier keine acht unterschiedlichen Rollen, in die hineinzuschlüpfen die schauspielerische Aufgabe wäre, um Figuren zu beglaubigen: Um all das geht es hier nicht. Es ist vielmehr eine wahre Geschichte, die es auf die Bühne zu bringen gilt.
„Mut und Gnade“ heißt das 1991 erschienene Buch des Amerikaners Ken Wilber. Es ist ein autobiografisches Zeugnis über das Leben und Sterben der Treya Wilber. Der transpersonale Psychologe, Autodidakt und renommierte Theoretiker lernte spät seine zukünftige Frau kennen. Im Sommer 1983 trafen sie einander und nannten es „Liebe auf die erste Berührung“.1 Nach vier Monaten folgte die Hochzeit, nach zehn Tagen als Ehepaar die Diagnose Brustkrebs. Die fünf gemeinsamen Jahre erlebten Treya und Ken als Kampf an den Grenzen von Leben und Tod. Dabei rangen sie meist um ihre...