Theater der Zeit

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Die große Fusion

In Mecklenburg-Vorpommern soll ab 2018 das „Staatstheater Nordost“ fünf Standorte vereinigen – politischer und künstlerischer Nutzen sind jedoch unklar

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel oder Performance? – Walter Hess und Matthias Lilienthal über die Debatte um die Münchner Kammerspiele (02/2017)

Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Akteure

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Von Greifswald, Stralsund oder gar Putbus ist es eine lange Reise nach Neustrelitz oder Neubrandenburg. 170 Kilometer, das sind mehr als zwei Stunden Fahrt – pro Strecke. Die fünf Orte verbindet nicht viel, außer der Tatsache, dass sie im Osten Mecklenburg-Vorpommerns liegen. Das aber soll genügen für ein hierzulande noch nicht da gewesenes riesiges Theaterkombinat. Riesig? Jedenfalls von der Fläche – in welche Richtung sich die künstlerische Qualität entwickelt, wenn tatsächlich umgesetzt wird, was als Grundsatzentscheidung der Gesellschafter des neu zu schaffenden Staatstheaters Nordost bereits für 2018 beschlossen wurde, bleibt offen.

Zukunftsweisende Strukturreform oder doch wieder bloß bürokratisches Monster, das keine Kosten spart, sondern unerwartete Mehrkosten produziert? Was passiert, wenn das bisherige Modell der beiden Verbünde, das Theater Vorpommern mit Stralsund, Greifswald, Putbus auf der einen und Neustrelitz-Neubrandenburg auf der anderen Seite, in eine Fusion mündet? Die eher ernüchternden Resultate der Kreisgebietsreform sollten der Landespolitik zu denken geben. Die hat jedoch ihre Zuschüsse für die Theater in Mecklenburg-Vorpommern (seit 1994 eingefroren oder „stabil“, wie man es im Kultusministerium in Schwerin nennt) an Strukturreformauflagen geknüpft, die es umzusetzen gilt. So steht man hier vor der Herausforderung, dem Gespenst der räumlichen Überdehnung zu trotzen und das Theater – wie es Politiker gern sagen – „zukunftsfähig“ zu machen.

Quo vadis Stadttheater? So könnte ich Dirk Löschner fragen, ihn, der seit vier Jahren Intendant auf vorpommerschem Terrain ist und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zwischen Putbus und Greifswald inzwischen kennengelernt hat. Das war anfangs schwer und ist auch nach vier Jahren nicht leicht. In Vorpommern gehen die Uhren noch langsamer als anderswo, weiß Dirk Löschner. Aber immerhin: Sie gehen. Und auch das Theater hat sich in dieser Zeit einen neuen Stellenwert beim Publikum erarbeitet. Wie steht es um den künstlerischen Anspruch, der das geistige Zentrum einer Stadt mitprägt?

Während der Zugfahrt von Berlin nach Greifswald, durch menschenleere Landschaften, vorbei an Anklam und Angermünde, kreiste ein Satz von Robert Walser unablässig in meinem Kopf: „Man sah den Wegen am Abendlicht an, dass es Heimwege waren.“ Diesen Satz hatte Stephan Hermlin dem Buch „Abendlicht“, seiner politischen und künstlerischen Selbsterkundung, vorangestellt. Eine melancholische Reise durch historische und geografische Zustände. Heimat, inmitten von Globalisierung? Das hat immer auch etwas Befremdendes, lauter Orte der seelischen Unruhe, ganz und gar nicht heimelig. Ein partikularer Stachel im universalen Welt-Leib. Auch darum geht es in Vorpommern, wo die Fragen vielleicht spezieller, aber nicht kleiner als in den Metropolen sind. Wenn man über bewusst gewordene Identität spricht, gilt vor allem auch hier: Die erkenntnisbringende Eule der Minerva beginnt ihren Flug bekanntlich erst in der Abenddämmerung. Kommt sie darum zu spät?

Theater als Kunstform und zugleich als zu bewahrende wie reformbedürftige Institution, das ist wie ein gelingender Zusammenklang von Innen und Außen. Eines ohne das andere verlöre seinen Sinn. Was also wird gespielt am Theater Vorpommern – und was vermag dieses Spiel an Wirkungen auszulösen?

Mit Reinhard Göber, seit dieser Spielzeit Oberspielleiter am Theater Vorpommern, erlebt der bildungsbürgerliche Anspruch am Haus gerade eine publikumswirksame Renaissance. Göber studierte Anfang der achtziger Jahre an der Humboldt-Universität zu Berlin Theaterwissenschaften und arbeitete danach an insgesamt 23 Theatern in Ost wie West als Dramaturg und Regisseur. In Lübeck war er Oberspielleiter – und veranstaltet dort immer noch die größte privat organisierte Lesenacht hierzulande. So einen wie ihn braucht das Theater Vorpommern gerade jetzt – einen, der aus dem Osten kommt und den Westen kennt. Ein Heimkehrer? Doch in welches Niemandsland? Es scheint höchste Zeit, geschichtliche Widersprüche, die mit dem Ende der DDR einhergingen und in die Biografie jedes Einzelnen eingriffen, zu rekapitulieren. Was heißt – aus einem Abstand betrachtet – Treue, Verrat, Heldentum und Opportunismus? Darüber gilt es zu reden – nicht anklagend, nicht abwehrend, aber ohne Tabus. So hatte es Dirk Löschner gefordert.

Welch vielgestaltiges soziales Ost-West-Biotop: Aufsteiger und Absteiger dicht beieinander – alte, vom Leben gekränkte Ost-Eliten der Universitätsstadt treffen auf eher frivole Neureiche, die in der Nachwendezeit sozialisiert wurden und Ost-West-Fragen antiquiert finden. Doch eines verbindet sie: Man ist gern selbstgerecht hier oben. Aber als Theatergänger auch wieder zu gebildet, diesem ersten Impuls zu folgen. Man hat scheinbar längst überwundene Krisen tief in sich weggesperrt und wartet heimlich doch darauf, mit ihnen befreit aufspielen zu können. Das bedarf einer Bühne.

Da muss endlich ein Knoten platzen, so dachte Dirk Löschner, als er 2012 mit „Die Ballade vom traurigen Café“ am Theater Vorpommern eine neue Ära begründen wollte und erst einmal richtig Ärger mit aufgebrachten Bürgern bekam. Man fühlte sich angegriffen: Was soll die Elendsszenerie auf der Bühne, hält uns dieser Regisseur etwa für sozial und moralisch deformiert? Ein Missverständnis, aber kein zufälliges, weiß er heute.

Man war – in der Region ebenso wie im Theater selbst – mitten in einer Phase des Übergangs und ist es noch. Aber die reflexartige Abwehr ist nach und nach einem distanziert-interessierten Blick auf das eigene Herkommen gewichen. Und nun, da sich das Theater Vorpommern so eins wie lange nicht mit seinem Publikum weiß, kündigt sich schon der nächste große Einschnitt an. Schadet oder nützt eine so große Strukturreform dem Theater? Die Stunde der Praktiker kommt jetzt, aber die Skepsis vieler Beteiligter bleibt. Der thematische Bogen in dieser Spielzeit von Lutz Seilers „Kruso“ bis zu Ibsens „Volksfeind“ spiegelt das Unbehagen. Letzteres scheint ein ewig junger Klassiker an der Ostsee zu sein, sowohl Rostock als auch Schwerin hatten ihn in den letzten Jahren im Repertoire. Wie wichtig dieser Klärungsprozess ist, zeigt die Tatsache, wie wirkungsvoll die AfD mit dem Gefühl des Abgehängtseins, des Nicht-Gefragt-Werdens Politik macht.

Dass das Theater Vorpommern dieses Problem ernst nimmt, bezeugt das Spielzeit-Motto: „Macht Theater“. Nur drei Buchstaben fehlen zur Ohnmacht, der Bankrotterklärung des Theaters als gesellschaftlicher Gestaltungskraft. Auch dies ist eine reale Gefahr, dann nämlich, wenn die beteiligten Gesellschafter den Fusionsprozess zum Anlass nehmen wollen, Zuschüsse weiter zu kürzen. Aber wer Zukunft gestalten will in diesem reichen Land und immer nur weiter Reichtum privatisiert, der spielt mit dem Feuer des gesellschaftlichen Unfriedens – ein Zustand, in dem Demokratie als Wert am Ende allzu vielen sogar entbehrlich scheint.

In welchem Land wollen wir leben? Da ist die Frage nach der Arbeit als Basis gesellschaftlichen Friedens nicht nebensächlich. Reinhard Göber hat für diese Spielzeit fünf verschiedene Monodramen-Abende konzipiert. Das sind jeweils zwei Monologe pro Abend – von Judith Schalanskys „Der Hals der Giraffe“ bis zu Christa Wolfs „Medea“. Solcherart literarische Diskussionsangebote finden ihr Publikum. In der vergangenen Spielzeit kamen 192 000 Zuschauer, das ist nicht wenig, bedenkt man, dass Stralsund und Greifswald zusammen nur 120 000 Einwohner haben.

Vor den beiden Monodramen „Leaving Ziller Valley“, inszeniert von Reinhard Göber, und Lothar Trolles „Die 81 Min. des Fräulein A.“ (Regie Arnim Beutel) treffe ich den Oberspielleiter im Foyer. Bereitet ihm die unklare Theatersituation ab 2018 (auch er ist nur für zwei Jahre engagiert) nicht Unbehagen? Göber lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Er habe schon als Anfänger Ende der achtziger Jahre mit dem Theater Parchim eine mecklenburgische Stadt erobert, verstehe sich durchaus als Raumpionier. Natürlich gehört dazu eine gewisse Furchtlosigkeit angesichts von ungewissen Übergangsprozessen, die es zu gestalten gilt.

Dazu passt der Trolle-Text. Was träumt das Fräulein A., und wer ist das überhaupt? Eine Verkäuferin, das scheint klar, vielleicht auch mehrere. Nahe liegt auch, dass dieser Typus Verkäuferin eher in die beiden Versorgungsketten HO (Handelsorganisation) oder Konsum gehört, mit der die DDR den Mangel umverteilte, als in die Gegenwart der Supermärkte mitsamt ihrem Überfluss an Waren. In denen gibt es bekanntlich viel zu viel, aber nichts, was man nicht kaufen kann, Stoff für Träume etwa. Und Lothar Trolles „Die 81 Minuten des Fräulein A.“ ist ein einziger Tagtraum von Schichtbeginn bis Ende – bis das wahre Leben beginnt, oder auch nicht.

Wen interessiert eigentlich noch, was eine Kassiererin, wahlweise auch Aufpackkraft an den Regalen, so träumt, während die Zeit quälend langsam vergeht, fast schon stillsteht? Es war einst ein wichtiges Thema – nicht nur im Osten, auch im Westen. Was heute schnell als Unterschicht abgestempelt wird, galt einmal als Humus des Neuen. Ist das so falsch?

Imposant wie Frederike Duggen, allein mit dem Text auf der fast leeren Bühne, sich nicht klein macht, aber die Unscheinbarkeit in Kittelschürze, grüner Leggins und Turnschuhen benutzt, eine besondere Art von Eindringlichkeit herzustellen. Innenperspektive wechselt mit Außenperspektive: Sie beschreibt sich selbst mit eigenen und fremden Worten, ein Reflexionsraum entsteht so mitten im Solo-Spiel eines zwischen den Wirklichkeitsebenen oszillierenden Zustands. Ein Wechselbad der Identitäten angesichts des Eingeständnisses: „Da kommt niemand, der dir Hoffnung macht, dass auch anderes Leben möglich ist.“

Ein anderes Monodrama heißt „Der Hals der Giraffe“, nach dem Buch der gebürtigen Greifswalderin Judith Schalansky über eine autoritär-biologistische Ost-Lehrerin in ihrem letzten Dienstjahr. Deren Motto: „Es gibt die Zuchtwahl und sonst nichts. Schwache mitschleifen? Wozu die Heuchelei? Nicht jeder kann es schaffen. Blindgänger sind in jedem Jahrgang dabei, und sie sind nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behindert. Parasiten am gesunden Klassenkörper.“ Klingt das nun besonders gestrig oder schon wieder nach sich faschistoid überschlagendem Neoliberalismus von morgen? Brauchen wir neue Eliten oder dringender eine bessere Volksbildung für alle?

Ein überfordertes Wandertheater wäre der Ruin

Dirk Löschner weiß nicht genau, ob mit dem Beschluss für ein Staatstheater Nordost etwas zu Ende geht oder eine belastbare Brücke in die Theaterzukunft Mecklenburg-Vorpommerns gebaut werden kann. Die Details, in denen der Teufel steckt, sind noch offen. Der alte Haustarifvertrag ist Ende 2016 ausgelaufen. Der neue Gesellschaftervertrag wird gerade verhandelt. Die Rückkehr zum Flächentarifvertrag ist mit diesem gewollt. Wichtig ist für Löschner, dass die Qualität der Kunst bei all den logistischen und strukturellen Herausforderungen nicht in den Hintergrund gerät. Es darf auch nicht sein, dass sich einzelne Standorte als Gewinner, andere als Verlierer fühlen. Die beiden Orchester etwa sollen fusioniert werden, mit Sitz in Neubrandenburg, das sieht das Konzertpublikum in Stralsund mit Sorge. Gegenwärtig haben beide Orchester zusammen 125 Stellen, künftig sollen es 105 in einem großen Orchester sein. Das ist – wenn man es gut macht – nicht unbedingt schlecht für die Kunst. Abenteuerlich nennt es Löschner dagegen, wenn die Zentralwerkstätten 130 Kilometer von den Produktionsorten der Sparten entfernt sind. Das ist nur ein Beispiel für das, was es zu bedenken gilt, wenn man sich für ein so großes Theaterkombinat entscheidet.

Eines wissen die beiden die Fusion vorbereitenden Intendanten Dirk Löschner und Joachim Kümmritz für Neubrandenburg/Neustrelitz genau: Ein von Anfang an überfordertes Wandertheater wäre der Ruin der Stadttheatertradition. Darum planen sie – entgegen des Gutachtens der Beratergesellschaft Metrum – zwei Schauspielensembles für das neue Staatstheater Nordost mit Sitz in Greifswald und Neustrelitz, wo der Fusionsunmut besonders groß ist.

Wären schrittweise Kooperationen nicht günstiger als gleich die große Fusion? Löschner schüttelt den Kopf. Günstiger ohnehin nicht, die Frage sei jedoch immer, was man wolle. Aber wer glaube, mit einer Fusion Geld zu sparen, der gehe falsch an das Thema heran – und irre sich sowieso. Die Landesregierung ernannte nach der Wahl zwar einen Staatssekretär für Vorpommern, eine Art Statthalter, weil man in Schwerin erkannte, dass hier das Problem der AfD besonders brisant ist – doch substanzielle Korrekturen der eigenen Politik, die das Dilemma schließlich mit verschuldet hat, blieben bislang aus. Noch ist bei der Ausgestaltung des Staatstheaters Nordost, dessen Name zwar gut klingt, aber mehr auch noch nicht, Zeit dafür. Aber sie läuft. //

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