Themen – Identitätspolitik
Gegenstimmen
Fünf Felder der Identitätspolitik in zehn Jahren Festspielprogramm
von Thomas Oberender
Erschienen in: CHANGES – Berliner Festspiele 2012–2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit (10/2021)
Assoziationen: Berliner Festspiele
Im Rückblick auf das Festspielprogramm zwischen 2012 und 2021 fallen „Langzeitthemen“ auf, die über die Jahre hinweg in zahlreichen Aufführungen, Ausstellungen und Diskursveranstaltungen eine Form von kontinuierlich geführter Auseinandersetzung prägen. Neben Themen wie Nachhaltigkeit, dem Verhältnis von Werk zu Format oder von Ost zu West dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung ist auch die Identitätspolitik ein aufschlussreicher Filter, um die Wandlungen im Veranstaltungsprofil der letzten zehn Jahre besser zu verstehen.
Die verschiedenen identitätspolitischen Konzepte und Praktiken verbindet nachfolgend die Annahme, dass Identitätspolitik stets mit einer Gewalterfahrung zu tun hat, deren Diagnose und Bearbeitung sowohl der Handlungsmotor für diverse Akteur*innen ist, genauso wie sie auch die damit verbundene Gemeinschaftsbildung prägt. Die Spätmoderne, so schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten, setzt in ihrer Hyperkultur, ihrem Postindustrialismus von Wissens- und Kulturökonomie, ihrem kuratierten Lebensstil, ihrer Geschlechtergleichberechtigung, ihren Märkten und Projekten und ihrer liberalen Politik stets eine „pazifistische Gesellschaft“ und eine extreme „psychische Selbstkontrolle“ der Individuen in ihrem Alltag voraus. (Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Suhrkamp Verlag 2019, S. 425). Konflikte sind für Reckwitz in der Spätmoderne Konflikte „um Sichtbarkeit und Wertzuschreibungen“ (Ebd., S. 430). Wenn die Kultur der Digitalität, wie sie Felix Stalder in seinem gleichnamigen Buch beschreibt, vor allem vom Zuwachs an Wahlmöglichkeiten geprägt ist, das heißt von neuen Möglichkeiten zur Teilhabe, so muss diese Teilhabe stets auch erkämpft werden. Dies erfordert eine erhöhte Sichtbarkeit und eine Bedeutungs- oder Wertkonstruktion, die die eigenen Ansprüche legitimiert. Diese Dynamik erweist sich somit als eine der wesentlichen Triebkräfte und Mechanismen der spätmodernen Identitätspolitik. Ihr Kompass ist heute vor allem eine erhöhte Sensibilität für physische, psychische oder staatlich und institutionell ausgeübte Gewaltmomente.
Dies beginnt für Reckwitz mit der Gewalt in der Ehe, der Gewalt zwischen Eltern und Kindern, diskriminierender verbaler Gewalt, Belästigung und Mobbing, schließt aber auch die Gewalt der Mehrheitsgesellschaft gegenüber einer Vielzahl von Minderheiten ein, die auch in einer liberalen Gesellschaft unterschiedlichste Formen der Marginalisierung und Abwertung erleben. Viele dieser Erfahrungen weisen tief in die Geschichte unserer Erziehungs-, Wirtschafts- und Kolonialsysteme zurück. Die aktuellen Erfahrungen von Gewalt zu bekämpfen, bedeutet daher zugleich, die verdrängte oder geleugnete Geschichte historischer Gewaltstrukturen sichtbar zu machen und zu problematisieren. So verbindet sich diese identitätspolitsche Auseinandersetzung eng mit dem für die Spätmoderne signifikanten Kampf um Sichtbarkeit, Differenz und Einzigartigkeit. Er wird zudem von sozialen Medien unter den Vorzeichen der Aufmerksamkeitsökonomie beschleunigt und intensiviert.
Die für die klassische Moderne typische Zuversicht, in einer Welt des Fortschritts zu leben, hat sich nach Andreas Reckwitz genauso aufgelöst wie ihre Grundannahme, dass eine zivilisierte Gesellschaft auf einer Konstruktion von etwas Allgemeinem beruht, das ihr die sie stabilisierenden Grundsätze und Regeln stiftet. Was ist in einer Gesellschaft, deren Ideal das Besondere wurde, noch von verbindender und verbindlicher Wirkung? Der sozialen Logik des Allgemeinen, wie sie die klassische Moderne prägte, kommt in der Gesellschaft der Singularisierung für Andreas Reckwitz nur noch die Rolle einer ermöglichenden Infrastruktur zu. „Das Soziale“ bildet sich heute entweder in „heterogenen Kollaborationen“, etwa in Projekten und Netzwerken, oder in „Neogemeinschaften religiöser, ethnischer oder politischer Art“ aus.
„Say it loud, say it clear …!“
Projekte und Netzwerke prägten die Festspielarbeit der letzten zehn Jahre offensichtlich genauso wie die Diskurse und Aktionen von diversen „Neogemeinschaften“ – von der Mitwirkung in der Bewegung Die Vielen bis zur Auseinandersetzung mit Phänomenen wie den Kulturstöraktionen der Identitären und den Online-Gemeinschaften von QAnon. Ohne tiefer auf die Hintergründe, die vielfältige Praxis und die Fragestellungen der Formen und Foren von Identitätspolitiken einzugehen, sollen in diesem Kapitel vor allem die wiederkehrenden Themenfelder betrachtet werden, die sich grob in fünf Schwerpunkten beschreiben lassen. An erster Stelle fällt die Konstanz von Arbeiten und Formaten auf, die sich der Aufarbeitung des westlichen Kolonialismus widmen. Neben ihnen gab es kontinuierlich Veranstaltungsformen zu den Themen der Geschlechtergerechtigkeit und Genderpolitik, der Ost-West-Thematik, der Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus und Neofaschismus, zu anderen Zeitpolitiken und zum politischen Aktivismus im Bereich des Umweltschutzes, dessen Hauptziel die Nachhaltigkeit ist, deren Programmgeschichte in diesem Buch ein eigenes Themenkapitel gewidmet wird.
Am Anfang der hier betrachteten Dekade stand die Auseinandersetzung mit dem Thema Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus in der Arbeit Exhibit B des südafrikanischen Künstlers Brett Bailey – einer theatralen Begegnung mit lebenden ‚Exponaten‘ im ehemaligen Wasserturm im Prenzlauer Berg 2012, die im Rahmen des neu gegründeten Festivals Foreign Affairs stattfand. Die Podiumsdiskussion „Calling Africa – Fiktion und Wirklichkeit“ widmete sich dem gleichnamigen Themenschwerpunkt im Programm des Jazzfestes Berlin von Bert Noglik 2013 und stellte die Frage: „Was bedeutet das ständig im Um- und Aufbruch befindliche Afrika für das globalisierte Europa, und sind uns die Menschen aus Afrika genauso willkommen wie ihre Musik?“ Intensiv geführt wurde im gleichen Jahr die Blackfacing-Debatte um die Aufführung von Sebastian Baumgartens Die heilige Johanna der Schlachthöfe beim Theatertreffen 2013.
Das Thema Theater und Postkolonialismus wurde 2015 zum Festivalschwerpunkt des Theatertreffens mit Spezialveranstaltungen wie „Wer sind wir in der weißen Welt“ und dem Thementag „Say it loud, say it clear …!“, der einen Kampfruf der Flüchtlingsbewegung aufgriff, die bei ihrem Marsch nach Berlin Solidarität einforderte. Im gleichen Jahr reagierten die Berliner Festspiele auf die sogenannte Flüchtlingskrise und die krisenhaften Zustände vor den Meldestellen des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in Berlin mit einer Open-Air-Ausstellung mit Fotocollagen des Berliner Künstlers Jens Ullrich unter dem Titel „Refugees in a State Department“, deren Arbeiten in der Edition 19 der Berliner Festspiele abgebildet wurden. Ebenfalls 2015 führte das Festival Foreign Affairs einen Workshop mit dem Kollektiv The Laboratory of Insurrectionary Imagination (Lab of ii) durch, das sich zwischen Kunst und Aktivismus, Poesie und Politik bewegt und, wie es im Ankündigungstext hieß, berüchtigt ist für Aktionen wie Fahrrad-Demonstrationen während des Klimagipfels in Kopenhagen, das Rekrutieren einer Armee von Clowns im Rahmen einer Tour durch Großbritannien und das Veranstalten von Kursen in postkapitalistischer Kultur. Das Lab of ii, hieß es auf unserer Website, ist keine Institution und keine Gruppe, weder ein Netzwerk noch eine NGO, sondern ein loser Zusammenschluss von Freund*innen, die die Schönheit des gemeinsamen, kreativen Widerstands erkennen.
Die Kunst des Protests – Der Protest der Kunst
2016 präsentierten der Martin-Gropius-Bau und Foreign Affairs im Haus der Berliner Festspiele einen Künstler*innenschwerpunkt zum Werk von William Kentridge mit apartheidskritischen Arbeiten wie Ubu and the Truth Commission von der Handspring Puppet Company mit William Kentridge und Jane Taylor und More Sweetly Play The Dance von William Kentridge. Im gleichen Jahr zeigte das Festival auch die feministische Nachtausstellung Urban Mermaid von Nelisiwe Xaba.
Für die Ausstellung „Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976–1989“ über dissidente Kunst in der DDR war das Jahr 1976 der Ausgangspunkt. Denn die damals erfolgte Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann durch die DDR-Staatsführung hat zu einer langfristig folgenreichen Politisierung von Künstler*innen und im Kulturbereich Arbeitenden geführt. In unterschiedlichen Sparten wurde in der Ausstellung des Martin-Gropius-Baus die Wechselwirkung zwischen „Geist“ (künstlerischer Freiheit) und „Macht“ (repressivem Regime) aufgespürt. In der westdeutschen Museumslandschaft ist Kunst mit DDR-Bezug – eine Kunst, die gänzlich quer zu Erfolgskriterien und Marktmaßstäben entstanden ist und eine singuläre kunsthistorische Situation spiegelt – bis heute kaum vertreten.
2017 zeigte der Martin-Gropius-Bau die Ausstellung der Fotografin Regina Schmeken unter dem Titel „Blutiger Boden. Die Tatorte der NSU“. Das Festival MaerzMusik – Festival für Zeitfragen widmete sich dem Thema „Decolonizing Time“. In ihm brachte der künstlerische Leiter Berno Odo Polzer das Phänomen Zeit in Zusammenhang mit verschiedenen Formen der Kolonialität, der Chrono-Politik der Moderne, den Gender-Problematiken in der zeitgenössischen Musik und ihren oftmals normativen Geschichtsverständnissen. Das Format „Shifting Perspectives“ des Theatertreffens widmete sich im selben Jahr unter dem Titel „Uncertain Identities“ dem Gespräch über Lebensformen, gesellschaftliche Zuschreibungen und Identitätspolitik.
Im Rahmen der Konferenz „The Art of Democracy“ und des Stückemarkts 2017 zeigte Arne Vogelgesang seinen Video-Essay Quelle: YouTube. Er präsentiert darin Teile einer Gesichts-Geschichte rechter Internetpropaganda. In Vogelgesangs geführtem VR-Ausflug brachte er zudem einzelne Gäste auf virtuelle Tuchfühlung mit der Realität postpolitischen Vloggens. Der Werkstattversuch verstand sich als Anregung für zivilgesellschaftliche Diskussionen über Strategien der „Gegenrede“ und des „(Keine) Bühne Bietens“ für rechte Propaganda. Im gleichen Stückemarkt-Programm fand der Workshop „The failure of Eastern European intellectuals after the fall of the Berlin wall“ der Autorin Petra Hůlová statt. Nach dem Ende des Eisernen Vorhangs, so ihre These, wurde das „rückständige“ Osteuropa zum Ziel der intellektuellen westeuropäischen Dominanz. Es solle nicht nur lernen, sich im Kapitalismus zurechtzufinden, sondern auch das „debile“ kommunistische Gedankengut loswerden. Dieser Workshop räsonierte unmittelbar mit der „Gegenbilder“-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau und den Beiträgen der Berliner Festspiele im dreißigsten Jahr der deutschen Wiedervereinigung.
Eine der intensivsten Debatten, die um das Festspielprogramm entbrannte, war mit dem Projekt DAU des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky verbunden. Dessen Herzstück sollte die Weltpremiere von 13 Kinofilmen werden, die aus über 700 Stunden 35-mm-Filmmaterial entstanden waren. In einer ukrainischen Filmstadt hatten ca. 400 Menschen für zweieinhalb Jahre in einer fiktionalen, der Sowjetunion zwischen 1938 und 1968 nachempfundenen geschlossenen Welt gelebt. Der Kameramann Jürgen Jürges hatte sie begleitet und wurde für diese Arbeit 2020 mit dem Silbernen Bären der Berlinale ausgezeichnet. Im Zentrum von DAU stand die Biografie des einzigen sowjetischen Nobelpreisträgers, des Physikers und Erotomanen Lew Landau, gespielt von dem Dirigenten Teodor Currentzis. Teil der Berliner Uraufführungspläne war, die Berliner Mauer innerhalb eines kleinen Areals inmitten der Stadt über Nacht noch einmal aufzubauen und in ihrem Schatten für wenige Wochen eine ähnlich andersartige Zeit und Welt entstehen zu lassen, wie sie während des Kalten Kriegs bestanden hatte – nicht zuletzt in der Hoffnung, die Traumata dieser Epoche, die Berlin wie keine andere Stadt der Welt geprägt und zerrissen haben, durch eine kollektive Befreiung vom Symbol der Mauer zu bearbeiten. Dieses große Ost-West-Programm konnte in Berlin nicht realisiert werden, die Premiere fand wenig später in Paris statt.
Für MaerzMusik – Festival für Zeitfragen 2018 verband Berno Odo Polzer das Thema der Zeitlichkeit mit dem der Migration. Unter anderem wurde ein neues Werk von George Aperghis mit dem Titel Migrants aufgeführt sowie Salims Salon des Komponisten Hannes Seidl, in dem vier Musiker*innen verschiedener Kulturen in einem artifiziellen Setting miteinander musizierten. Das Jazzfest Berlin setzte 2018 den Schwerpunkt Afrofuturismus und begann mit einem Eröffnungsvortrag des Kurators, Aktivisten und Autors Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der in einer Tour de Force die Black-Liberation-Rhetorik der 1960er-Jahre mit der jüngsten postkolonialen Identitätspolitik zusammenschloss und eindringlich daran erinnerte, dass Jazz eine Kunst des Protests ist, der die Weißen den sozialen Aspekt austreiben wollen.
Das Theatertreffen setzte 2018 den Schwerpunkt „UNLEARNING PATRIARCHAT“ und wurde mit einer Keynote von Felwine Sarr eröffnet. In „Réouvrir les futurs / Reopening the future / Zukunft neu öffnen“ sprach der Schriftsteller, Ökonom und Philosoph über ein gerechtes Morgen, über Demokratie heute und die Frage, wie man die Gedanken dekolonisieren kann. Aufsehen erregte im Theatertreffen 2018 auch die Aufführung von Josef Bierbichlers Roman Mittelreich in der Inszenierung von Anta Helena Recke. Bereits im Theatertreffen 2017 war Mittelreich beim Theatertreffen gezeigt worden, allerdings in der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler an den Münchner Kammerspielen. In der Tradition der Appropriation Art, die Ende der 1970er-Jahre normative Kategorien der Kunstwelt infrage stellte, hatte Anta Helena Recke diese Inszenierung, ebenfalls an den Münchner Kammerspielen, kopiert und dabei ein bedeutendes Detail verändert: Ihr Cast bestand ausschließlich aus Schauspieler*innen of Colour. Während auf der Bühne die bereits bei Bierbichler bzw. Mahler verhandelten Themen wie Privilegien, Ausgrenzung und Verdrängung neu und doppelt ins Schwingen gerieten, forderte die „Kopie“ eine Reflexion der eigenen Wahrnehmungsmuster sowie der Institution Theater und ihrer strukturellen Rassismen.
„Welchen Geschichtsnarrativen begegnen wir?“
Die Frage nach Provenienz und Restitution verband sich 2018 mit der Ausstellung „Bestandsaufnahme Gurlitt“ im Gropius Bau. Die über 1500 Kunstwerke, die der zurückgezogen lebende Sohn des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt (1895–1956) von seinem Vater geerbt hatte, standen unter dem Verdacht, Raubkunst aus der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu sein. Nach dem Krieg konnte Hildebrand Gurlitt, ungeachtet seiner Dienste für das NS-Regime, weitgehend an seine Vorkriegskarriere als Museumsmann anknüpfen. Gurlitts Werdegang wurde in der Ausstellung eine Reihe exemplarischer Biografien seiner Zeitgenoss*innen gegenübergestellt. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Schicksalen der meist jüdischen Künstler*innen, Sammler*innen und Kunsthändler*innen, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden.
2019 begann MaerzMusik – Festival für Zeitfragen mit Performances von Hassan Khan und Jace Clayton zur Eröffnung der Ausstellung „Julius Eastman: Let Sonorities Ring“ im SAVVY Contemporary und mit The Electric Harpsichord von Catherine Christer Hennix im silent green. Aufgeführt wurden drei Werke für vier Klaviere von Eastman und eine Performance nach Frantz Fanon von Uriel Barthélémi mit Texten von Hassan Khan. Das Projekt „Tele-Visions. A Critical Media History of New Music on TV 1950s–1990s“ präsentierte im silent green Schätze aus über 40 Fernseharchiven, die die Geschichte der musikalischen Avantgarde der 1950er- bis 1990er-Jahre erzählen. Aktuelle Berichterstattung, Dokumentar- und Porträtfilme, Konzertmitschnitte, Talkshows und künstlerische Formate wie Fernseh-Opern aus Europa (darunter der ehemaligen DDR), den USA, Lateinamerika und Nordafrika zeichneten ein massenmedial verbreitetes Bild der westlichen Kunstmusik, von der Nachkriegszeit bis in die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Welchen Geschichtsnarrativen begegnen wir? Was ist die jeweilige Position ihrer Erzähler*innen? Welche Perspektiven ergeben sich aus zeitlicher Distanz, nicht zuletzt hinsichtlich aktueller Fragestellungen bezüglich Diver- sität, Ungleichheit der Geschlechter, Intersektionalität, Kolonialität und weißer Vorherrschaft? Wie verhält sich, fragten die Veranstalter*innen weiter in ihrem Programm, die Entwicklung der musikalischen Avantgarde zu den gesellschaftlichen Bruchlinien der jüngeren Geschichte, von Klassismus, Sexismus und Rassismus bis hin zu epistemischen und ästhetischen Ausgrenzungen?
Beim Theatertreffen stellte Max Czollek 2019 in seiner Keynote Wessen Heimat? die Fragen: Mündete die Zusammenführung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) 1989/90 wirklich in ein „Deutschland“, das zur neuen Heimat für ein neues deutsches „Wir“ wurde? Wer ist mit diesem „Wir“ gemeint und wer nicht? Welches Potenzial liegt im Heimatbegriff, wie lässt er sich von rechten Ressentiments befreien, und welche neuen Allianzen wachsen aus gemeinsamen Erfahrungen?
Zugleich sorgte das Theatertreffen für großes Aufsehen, als seine Leiterin Yvonne Büdenhölzer die Quote von mindestens 50 Prozent Frauen in den Regiepositionen der 10er Auswahl des Festivals, die eine Kritiker*innenjury vornimmt, einführte. Auf die Frage des Journalisten Peter Laudenbach nach ihren Motiven antwortete sie: „Zwischen 1964, dem ersten Jahrgang des Festivals, und 2019 stammten insgesamt nur 11,7 Prozent der zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen von Regisseurinnen. Nach einer aktuellen Untersuchung stammten in der Spielzeit 2014/2015 etwa 70 Prozent aller Inszenierungen an deutschen Theatern von Männern, und nur etwa 30 Prozent von Frauen. Das bildet sich auch in der Auswahl des diesjährigen Theatertreffens ab, mit zwei Inszenierungen von Regisseurinnen und einer Arbeit eines vorwiegend weiblichen Kollektivs. Das ist ein Missverhältnis, das wir nicht fortsetzen wollen.“ (Süddeutsche Zeitung, 1. Mai 2019) Die Entscheidung korrespondierte mit der Entwicklung des Programms des Jazzfestes Berlin 2018 unter seiner neuen Leiterin Nadin Deventer. In ihrem ersten Jahr als Festivalleiterin wurden die Leading Acts zu 100 Prozent mit Frauen besetzt. Auch das Ausstellungsprogramm von Stephanie Rosenthal – der neuen Direktorin des Gropius Baus, der fortan nicht mehr Martin-Gropius-Bau heißt – legt sein Augenmerk vor allem auf Positionen internationaler Künstler*innen und präsentierte seit 2018 keine Einzelausstellung eines weißen Mannes. Dieser Umstand trat jedoch hinter dem vielschichtigen Programm des Hauses zurück und wurde, anders als die feministische Programmpolitik von Nadin Deventer und die neuen Jurygrundsätze des Theatertreffens, kaum diskutiert.
Der Diskussion zur ostdeutschen Theatergeschichte beim Theatertreffen ging im März 2019 eine symbolträchtige Initiative voraus. Die Programmreihe „Immersion“ hatte aus Anlass des 30. Jubiläums der deutschen Wiedervereinigung den Begriff aus dem ästhetischen Raum ins gesellschaftliche Feld verschoben und sich mit der Revolution, die 1989 zur Öffnung der Grenze führte, beschäftigt. Das Verschwinden dieser Grenze und Ineinanderfließen von zwei Kulturen war sicher eine der intensivsten Erfahrungen von Immersion in der jüngeren Geschichte unseres Landes. Drei Tage wurde im Haus der Berliner Festspiele der Palast der Republik symbolisch neu errichtet: Als ein „Palast der Gegenerzählungen“ voller Diskurs, Performance, Musik und Film, der die Ereignisse der Wende- und Nachwendejahre neu betrachtet hat. Entstanden sind drei Tage fast ununterbrochenes Programm mit dem Ziel, unterschiedliche Perspektiven auf Empowerment zu vermitteln – von der Revolution von 1989 bis zu den Allianzen für ein neues Europa von heute, die die Aktivist*innen der Bürger*innenbewegung der Friedlichen Revolution mit den jungen Aktivist*innen von heute zusammengebracht haben. Den Palast der Republik auferstehen zu lassen, ohne ihn zu verklären, war das Anliegen des Eröffnungsabends, der mit einer Ideenrevue an die progressiven Impulse der neuen Verfassung erinnerte, wie sie 1989/90 am Zentralen Runden Tisch der DDR entwickelt wurde. In „parlamentarischen Ausschüssen“ wurde am Folgetag aktuellen politischen Konflikten nachgegangen, die in Verbindung zu den Ereignissen der Wendejahre stehen. Dem gegenübergestellt wurde ein Paraparlament, das jenseits der großen Bühne repräsentationaler Politik einen Raum für andere Formen der politischen Praxis öffnete. Der „Palast der Republik“ endete am dritten Tag mit Überlegungen zu einer Erneuerung des Gesellschaftsvertrags und schloss abends mit dem „Musikpalast“, einem Live-Mixtape, das gleichzeitig Laboratorium und Live-Seminar neuester Musik war.
Zum 30. Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer 2019 untersuchte im Gropius Bau die Gruppenausstellung „Durch Mauern gehen“ auf Teilung und Spaltung basierende Machtstrukturen und richtete den Blick auf die damit verknüpften Erfahrungen und Auswirkungen auf individueller und kollektiver Ebene. Mit „The Black Image Corporation“ zeigte Theaster Gates im Gropius Bau eine partizipative Fotoausstellung, die das weitreichende Erbe der Archive der Johnson Publishing Company erforschte – einem Verlag, der zur Gestaltung der ästhetischen und kulturellen Sprache afroamerikanischer Identität wesentlich beigetragen hat.
2020 versammelte die Gruppenausstellung „Masculinities: Liberation through Photography“ unter anderem Arbeiten von Laurie Anderson, Richard Avedon, Rotimi Fani-Kayode, Isaac Julien, Annette Messager sowie Wolfgang Tillmans und untersuchte, auf welche Weise Männlichkeit seit den 1960er-Jahren erlebt, performativ hergestellt und sozial konstruiert wird.
In Es ist zu spät stellten Arne Vogelgesang und Marina Dessau im Theatertreffen 2021 die Wirksamkeit von Theater angesichts der Klimakatastrophe infrage. Parallel dazu zeigten die Berliner Festspiele auf ihrer neu geschaffenen Plattform Berliner Festspiele On Demand Vogelgesangs Videoessay This Is Not a Game , der verblüffende Verbindungen zwischen Alternate Reality Games, der LARPing-Szene und dem Mythos QAnon im Kontext US-amerikanischer Politik aufzeigt. Im Herbst 2021 präsentiert der Gropius Bau die erste umfassende Einzelausstellung Zanele Muholis in Deutschland. Muholi bezeichnet sich selbst als visuelle*r Aktivist*in und dokumentiert seit den frühen 2000er- Jahren das Leben der Schwarzen LGBTQIA+-Community Südafrikas in eindrücklichen, intimen Fotografien.
Dieser abrissartige und unvollständige Parforceritt durch das identitätspolitische Themenfeld der Programme der Berliner Festspiele der letzten zehn Jahre müsste erweitert werden um die internen Abstimmungen und Umsetzungsprozesse zur Einführung von genderneutralen Toiletten, zu Gendersternchen, Pronomen in E-Mail- Signaturen, neuer Kund*innen-Ansprache, Workshopangebote zum Thema Diversität, die Gründung einer Diversitäts-AG, die Einrichtung einer Diversitäts-Beauftragtenstelle, interne Überlegungen um Themen wie Blackfacing, #MeToo, diskriminierungsfreie Bewerbungsverfahren, Workshops zu Barrierefreiheit und Coachingangebote für den befürchteten Fall von rechtsextremen oder identitären Störaktionen bei Festspielveranstaltungen. Es fehlt die ausführliche Auflistung unserer Allianzen mit gesellschaftspolitischen Initiativen wie Den Vielen, Black Lives Matter und anderen mehr.
Dennoch macht diese skizzenhafte Übersicht identitätspolitischer Programmelemente eine Entwicklung in der Arbeit einer Kurator*innengeneration deutlich, die eher bei den Formaten ansetzt, um ihre thematischen Schwerpunkte in spezifische Veranstaltungsstrukturen zu übersetzen. Aufschlussreich ist dazu auch das Verzeichnis der Formate der letzten zehn Jahre in diesem Buch. Es bleibt darüber hinaus zu diskutieren, ob sich manche Genres eher für kuratorische Zugriffe eignen oder ihrer bedürfen als andere. Warum entstehen in Programmen um klassische Orchesterwerke weniger neue Formate, während aktuelle Musik oft schon in seiner Komposition mit dem Format des Konzerts als solchem experimentiert?
Nachfolgend veröffentlichen wir Beiträge, die im Zusammenhang mit einigen der hier angeführten Veranstaltungen entstanden und für uns noch immer inspirierend sind. Sie stehen beispielhaft für eine Reflexion des Kampfes um Sichtbarkeit und Wertekonstruktionen im Sinne von Andreas Reckwitz, also für Versuche, die gewaltvollen Momente unserer Gesellschaftsstrukturen zu thematisieren und auf die Tendenz der Kulturalisierung von politischen und ökonomischen Konflikten zu reagieren, die somit zu identitätspolitischen Konflikten werden – zu Konflikten um die Herstellung des Gemeinsamen. „Allein wäre ich zu nichts gut“, schrieb Julian Beck in seinem Buch Das Theater leben (S. 29, original The Life of the Theatre , 1972). „Das Theater ist eine Übung in Gemeinschaft. Ein Einzelner kann es nicht machen, es wird von vielen für viele gemacht.“ Und genauso ist es mit Festspielen – auch ihre Angebote sind Übungen in Gemeinschaft.