Theater der Zeit

Schauspielhaus Hamburg: Aufgespießte Schmetterlinge hinter Plexiglas

„Die acht Oktavhefte“ von Franz Kafka – Regie Thom Luz, Bühne Duri Bischoff, Musikalische Leitung Mathias Weibel, Dramaturgie Ludwig Haugk

von Peter Helling

Assoziationen: Theaterkritiken Hamburg Thom Luz Franz Kafka Schauspielhaus Hamburg

Lars Rudoplh in „Die acht Oktavhefte“, in der Regie von Thom Luz Foto: Sandra Then
Lars Rudoplh in „Die acht Oktavhefte“, in der Regie von Thom LuzFoto: Sandra Then

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Dieser Abend ist ein Missverständnis. Denn: Wie bildet man Textsplitter Franz Kafkas, Notizen, durchgestrichene Halbsätze, Einkaufslisten, Vokabelübungen, die keiner inneren Logik folgen, auf der Bühne ab? Geht das überhaupt? Die acht Oktavhefte sind lose Skizzen, die Kafka mit Bleistift zwischen 1916 und 1918 geschrieben hat. Das Missverständnis besteht im Phänomen der Zeit. Kafkas Texte gehorchen keiner Zeit. Sie sind auf unheimliche Art ohne Anfang, ohne Ende. Ihr Wesen ist das Fragment. Kein oben, kein unten. Das große Missverständnis dieses Theaterabends besteht darin, dass sich Kafkas Zeitlosigkeit mit einem Schauspielabend von einer konkreten Dauer, mit begrenztem Raum, mit Anfang, mit Ende, mit „Spot an“ und „Licht aus“ kaum bebildern lässt. 

Thom Luz gibt sich alle Mühe, seinem Image als junger Theaterzauberer gerecht zu werden. Er erfindet eine eigene Bühnenhandlung. Die besteht darin, dass schwarz gekleidete Bühnenarbeiter und Bühnenarbeiterinnen – später sind sie Teil eines Chores – Bühnenteile aus dem Hintergrund auf die erschreckend leere Bühne tragen. Auf der sitzt weit, weit hinten Lars Rudolph mit Trompete, diagonal vorne am Bühnenrand, ein Korrepetitor am Klavier, Daniele Pintaudi im Frack, den Rücken zum Publikum. Zwischen ihnen füllt sich der Raum mit großen Papierbahnen, mit Gerüsten, Leitern, Fensterrahmen. Videos werfen kurz Textfetzen an die Wände, die man nur erahnen kann, Schreibmaschinengeräusche dringen aus dem Klavier. Das Ensemble betritt ungeordnet die Bühne, wirkt verwirrt, wirft fragende Blicke, halb Gäste halb Gastgeberinnen und Gastgeber. So entsteht ein erstes Setting. Doch dann? Die Bühnenhandlung reibt sich ungut mit den Texten, die so zart, fragil und manchmal banal sind, dass sie sich schlecht ins Korsett einer Bühnenzeit pressen lassen. Vergleichbar mit Schmetterlingen, die auf eine Nadel gespießt und hinter Plexiglas gepresst werden. Auch wenn Thom Luz höchst musikalisch inszeniert, Groschenmusik aufruft, Gassenhauer, Operette, Schlager zitiert, die auch Kafka gemocht hat (musikalische Leitung: Mathias Weibel), schafft er kein szenisches Äquivalent zu den Texten. Die bleiben alleine. 

Plötzlich stellt sich ein Schauspieler, eine Schauspielerin vorn an den Bühnenrand, hebt an zu sprechen, doch ein riesiges Megaphon, das aus dem Bühnenhimmel hängt, tutet die Sätze kaputt: ein Nebelhorn, das bewusst jedes dramatische Sprechen unterbindet. Es sieht aus wie ein fahler Mond über einer schlafenden Stadt. Motive aus Kafkas Leben, aus seinen Romanen blitzen in abstrakten Situationen auf – da steht Michael Weber als unerbittliche weißbärtige Vaterfigur vor Lars Rudolph, der einen Handlungsfixpunkt des Abends darstellt: ein gealterter Schuljunge in Hochwasserhosen und kurzem Jäckchen (Kostüme: Tina Bleuler), Trompete in der Hand. Irgendwann setzt sich links wie durch Theatermagie ein Zimmerofen zusammen, der Junge steckt seinen Kopf hinein. Und der Blick aus dem überdimensionalen Fenster geht in einen altstädtischen Hinterhof. Der Suizid steht immer als Möglichkeit im Raum. Man versteht schnell, dass Thom Luz jedes „Drama“ aus seiner Traum-Bühnenwelt verbannen will. Nur – wieso braucht er dafür Kafkas Textsplitter? „Jeder Mensch trägt ein Zimmer in sich. Diese Tatsache kann man sogar durch das Gehör nachprüfen“ ist so einer. Thom Luz nimmt ihn ernst, seine Bühne verwandelt sich in das besagte Zimmer. Dabei war es nur eine Notiz. Ein Schmetterling. Ein Hauch. Der Regisseur will laut Programmheft darin eine Geschichte entdecken. Und hier hört der Theaterzauber auf. 

Zahlreiche Türrahmen stehen da in einer Reihe, Türen ohne Wände – aber die Bühne kann eben nur begrenzt viele davon aufbieten: Die Bühne braucht andere Mittel, sonst hechelt sie den geschriebenen Worten Kafkas hoffnungslos hinterher. Eine Treppe ragt plötzlich hinten auf, geht ins Nichts. Ein Mann, Jan-Peter Kampwirth mit gruselig verstellter Stimme, stellt sich darauf als Toter vor. Nähert sich dem alten Jungen von hinten, ein Gespenst offenbar, aber das ist alles zu konkret, zu illustriert. Die Bühne von Duri Bischoff wird zum Labyrinth aus beigen Holzteilen. Aber Thom Luz‘ Theaterbilder halten den Sätzen wie „Morgen fährt Baum weg“ oder „Ein Käfig ging einen Vogel suchen“ nicht stand. Sie reproduzieren das Kafka-Klischee des Ausgestoßenen, des Außenseiters. Und damit wird der Abend immer wieder zu Kafka-Kitsch. 

Der oben erwähnte Chor singt geisterhaft ein französisches Chanson, „A Batignolles“ von Aristide Bruant, in andauernder Wiederholung – der Chor bleibt nicht auf der Bühne stehen, er geht quasi unsichtbar, aber sehr hörbar um den Zuschauerraum herum, durch die Foyers. Leider sind das Theatermittel, die man schon deutlich stärker gesehen hat.  Christoph Marthaler hat sie in höchster Virtuosität erfunden. Nur erschafft Marthaler eine eigene Bühnenwirklichkeit, kreiert immer eine eigene Zeit. Thom Luz bebildert Kafka, nimmt die Notizen zu heilig – dadurch werden die Texte nicht frei. Am Schluss steht das Zimmer von Franz Kafka sozusagen fertig gebaut auf der Bühne. Das alte Kind von Lars Rudolph legt sich ins Bett, über sich ein schwebendes Klavier, es wird auf ihn fallen, wenn eine Kerze das tragende Seil durchschmort hat. Ein wuchtiges Bild. Damit wird aber eine Psychologie in Kafkas Texte gelegt, die diese nicht gut vertragen. In der Summe sind es aufgespießte Schmetterlinge. Es bleibt ein Missverständnis.

Erschienen am 9.3.2023

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