Theater der Zeit

Auftritt

Theaterhaus Jena: Ein durchlässiges Gesamtkunstwerk

„Herscht 07769“ nach László Krasznahorkai – Regie Daniele Szeredy, Bühne und Kostüme Luca Szabados, Musik Thari Kaan, Video Davide Di Lorenzo, Dramaturgie Zsófia Varga

von Michael Helbing

Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken Theaterhaus Jena

Florian Herscht wartet in Kana auf Angela Merkel: Máté Borsi-Balogh als Titelfigur in der Jenaer Krasznahorkai-Adaption. Foto: Joachim Dette/Theaterhaus Jena
Florian Herscht wartet in Kana auf Angela Merkel: Máté Borsi-Balogh als Titelfigur in der Jenaer Krasznahorkai-Adaption.Foto: Joachim Dette

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Nun hat er es also doch auf Jenas Theaterbühne geschafft: der auch in dieser Stadt spielende, vor allem aber vor deren Toren siedelnde Roman „Herscht 07769“ des Ungarn László Krasznahorkai. Diesen einfallsreichen Koloss von Text mit einem einfältigen Koloss von Kerl im Zentrum wollte schon das Kollektiv Wunderbaum nach 07745 Jena holen, als es das Theaterhaus leitete; eine Kooperation mit Meiningens Staatstheater stand im Raum. Doch gingen die Rechte der Uraufführung nach 07407 Rudolstadt, wo sie dann vor zweieinhalb Jahren mit großem Ensemble stattfand (TdZ 1/2023).

Ungefähr auf halbem Weg zwischen beiden Städten am und im mittleren Saaletal durchfährt man 07768 Kahla, von Krasznahorkai literarisch verfremdet zu 07769 Kana, aber ebenso an der B 88 gelegen, ausgerechnet. Schließlich gilt die 88 als Neonazi-Code für „Heil Hitler“. Und für Kana, die kleine Perle in scheinbarer Idylle, gilt: „Hier sind fast alle Nazis, selbst die, die nichts davon wissen.“

Das fußt auf realen Hintergründen und Begebenheiten. Auf dieser Basis hat Krasznahorkai „den heutigen deutschen Roman geschrieben“, wie nicht nur Kollege Ingo Schulze findet. Es geht darin, in einem einzigen Satz, der sich wie ein atemloser Wortschwall ohne Punkt, aber mit vielen Kommas absatzlos über mehr als 400 Seiten zieht, um Pläne für ein Viertes Reich und Johann Sebastian Bach als „Prophet des Deutschtums“. Es geht auch um mit Graffiti geschändete Thüringer Bach-Stätten und den tödlichen Brandanschlag auf eine von einem brasilianischen Paar betriebene Tankstelle.

Menschen verschwinden spurlos aus der Stadt, Wölfe tauchen in der Gegend auf. Und mittendrin: Florian Herscht, körperlich über-, geistig unterentwickelt, ein sanfter Riese, der von seinem „Boss“ bei der Fassadenreinigung fast wie ein Sklave gehalten wird, ihm das aber als Fürsorge und Gutherzigkeit auslegt. Nervös macht ihn der bevorstehende Weltuntergang, vor dem er Kanzlerin Merkel dringend warnen muss; er hat da beim Physiklehrer Köhler das Ding mit Materie und Antimaterie falsch in den Hals gekriegt. Bis er allerdings dahinterkommt, dass der Boss, als Chef auch einer blöden Nazibande, hinterm Brandschlag steckt. Aus dem tollpatschigen, aber klotzigen Typen bricht fortan, wie es im Roman heißt, der Kämpfer hervor. Er lässt blutig die Apokalypse los …

Alejandro Quintana hatte die komplexe und personalintensive Geschichte vor allem inhaltlich auf Rudolstadts Bühne gewuchtet, mit sechzehn Schauspielern und einem Musiker. Zu einer adäquaten Form fand er in der eher klassisch angelegten Spielweise nicht. Die tritt dafür jetzt bei Daniele Szeredy umso deutlicher hervor, mit nur vier Schauspielern und einer Musikerin sowie einem Mann an der Videokamera. So, wie das hier in Jena binnen zwei atmosphärisch dichten, hochkonzentrierten und regelrecht spannenden zwei Stunden daherkommt, hätte es allerdings beim in Summe ästhetisch wohl etwas anders orientierten Rudolstädter Publikum, das sei zugestanden, kaum funktioniert.

Auf Jenas Studiobühne funktioniert‘s prächtig. Die neue künstlerische Leitung im Theaterhaus (TdZ 10/2024) hat es insgesamt auf Formenvielfalt im Programm abgesehen. Szeredy, der ihr angehört, packt sie in eine einzige Inszenierung, als durchlässiges Gesamtkunstwerk mit einer gewissen Überwältigungsästhetik zeitgenössischer Prägung: viele Mittel in gleichwohl auf Wesentliches reduzierter Umgebung.

Mit einer großen hängenden und einer kleineren fahrbaren Leinwand zum Beispiel, für Spielszenen auf der Bühne, die via Live-Video eine zweite Perspektive in Schwarzweiß erfahren. Oder: Florian steht vor einer Leinwand, die einen Bahnsteig zeigt, als er vergebens auf Angela Merkel wartet; das Gesamtbild ergibt sich dann auf der anderen. Oder: Schlaglichtartige Szenen in der „Burg“, dem Nazinest, spielen komplett hinter dieser Leinwand und sind auf jener zu sehen.

Das hat alles Sinn und Verstand. Es hat eine Ordnung und nimmt den veränderlichen Fluss der Erzählung, in der die Stimmungen kippen, in sich verändernden Darstellungsformen auf. Dabei ist man zu radikalen, oft genug sehr überraschenden, aber immer zwingend wirkenden Entscheidungen gelangt, welche Figuren, Szenen und Stränge aus dem Roman es ins Theater schaffen, und welche nicht

Schauspiel, Video, Musik und Gesang. Ein szenisches Sprechkonzert am Ende und darin Rudolstadt am ähnlichen. Und auch: ein Lektüreabend. Denn den Text, der zudem auf Englisch erscheint, kann man auf Deutsch jederzeit mitlesen, auch wenn das nicht nötig ist. Nötig erscheint es mitunter, weil zwei der vier Schauspieler Ungarisch sprechen. Sie stammen aus dem Örkény-István-Theater in Budapest, wo, innerhalb eines Austausches, gerade zwei Jenaer Spieler in einer anderen Romanadaption besetzt sind: „Sokszor nem halunk meg“ (Wir sterben nicht oft) nach Andrea Tompa.

Máte Borsi-Balogh lässt seinen Florian tragikomisch als gutmütigen, aber leicht erregbaren Brocken durch die Szenerien tapsen. Der weiß nicht, wohin mit sich und all den Gedanken, die auf ihn einströmen. Selbst voller Unruhe, findet er als eiskalter Rächer im Finale zu einer beunruhigenden Ruhe. Dort trifft er auf die Endgegnerin: Tünde Kóka als kühler Killernazi Karin, nachdem sie zuvor, als Frau Ringer, die heißblütige Oppositionelle im Städtchen und eine verbale Nazikillerin war.

Zwei Männerrollen für Luana Velis: Sie ist ein Boss von mephistophelischer Prägnanz und Pointiertheit, als Lehrer Köhler einfach eine kurze Erscheinung wie aus einer Parallelwelt. Und Saba Hosseini als Nadir, die hier zur Wirtin in der Stammkneipe vergrößerte Tankstellen-Pächterin, als integrierte Außenseiterin: Sie ist oft dabei, gehört nie dazu, bleibt aber präsent über den Tod hinaus.

Sie alle, nebst Thari Kaan an der aufheulenden E-Gitarre: ein starkes, kleines Ensemble in einem ganz starken Abend. Krasznahorkais Roman hat eine, hat seine Entsprechung im Theater gefunden.

Erschienen am 4.4.2025

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