Theater der Zeit

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Auftritt

Ruhrfestspiele Recklinghausen/Theater Münster: Ein Krieg führt immer zum nächsten

„Es ist nie Sommer im Ruhrgebiet“ von Guido Wertheimer (UA) – Regie Guido Wertheimer, Bühne Shahrzad Rahmani, Kostüme Ayana Lechelt, Video Ana Iramain, Musik Gustavo Obligado

von Stefan Keim

Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Dossier: Festivals Guido Wertheimer Theater Münster Ruhrfestspiele Recklinghausen

„Es ist nie Sommer im Ruhrgebiet“ von Guido Wertheimer in eigener Regie, Uraufführung der Ruhrfestspiele Recklinghausen und dem Theater Münster. Foto Jürgen Landes
„Es ist nie Sommer im Ruhrgebiet“ von Guido Wertheimer in eigener Regie, Uraufführung der Ruhrfestspiele Recklinghausen und dem Theater MünsterFoto: Jürgen Landes

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Ein in Argentinien geborener Autor erforscht seine Familiengeschichte: Guido Wertheimer ist Hausautor am Deutschen Theater in Berlin, war es zuvor am Theater Münster und hat für seine Theaterstücke schon einige Preise bekommen. Seine Urgroßmutter stammt aus Recklinghausen und ist 1939 quasi in letzter Sekunde vor den Nazis nach Argentinien geflohen. Diese Geschichte hat Wertheimer nun recherchiert und die Uraufführung von „Es ist nie Sommer im Ruhrgebiet“ bei den Ruhrfestspielen selbst inszeniert.

Filmaufnahmen aus der Zeit des Nationalsozialismus flackern über den Vorhang. Deportierte Juden, stolze Offiziere in Uniform, ihre lachenden, blonden Kinder. Guido Wertheimer hat im Video-Archiv des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe eine Menge Material ausgegraben. Die Bilder leiten hin zur Geschichte seiner Urgroßmutter Julia Studinski. Die Familie hatte in Recklinghausen ein erfolgreiches Schuhgeschäft. So konnten sie Julias musikalisches Talent fördern. Sie war eine hochbegabte Pianistin. „Es ist nie Sommer im Ruhrgebiet“ ist zugleich eine Reise in Guido Wertheimers Familiengeschichte und ein Abend über die Musik.

Die Familie zieht nach Berlin, im Dezember 1939 bekommt die inzwischen erwachsene und verheiratete Julia die Möglichkeit, mit Mann und Kind nach Argentinien auszuwandern. Der gesamte Besitz – auch der inzwischen angeschaffte Steinway-Flügel – bleibt in Deutschland zurück. Auch die Eltern kommen nicht mit. Als sie später von der Ermordung ihres Vaters in einem Lager und dem Tod ihrer Mutter hört, spielt Julia nie wieder Klavier. Sie beginnt ein neues Leben in Argentinien – ohne die Musik. Schnitt.

Der zweite Teil des Stücks springt zurück in Julia Studinskis Jugend in Recklinghausen. Nun spielen Daryna Mavlenko und Pascal Riedel ganz psychologisch einen Dialog zwischen Tochter und Vater. Der Vorhang, auf den vorher die Filme projiziert wurden, bleibt hängen, ist aber nun durchsichtig. Eine optische Trennung.

Guido Wertheimer wechselt zwischen Fakten und Fiktion, zwischen dokumentarischen Szenen und Träumen. Sein Stück ist eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Erinnerung an sich, eine behutsame Annäherung, eine Spekulation, wie es gewesen sein könnte. Bevor er im dritten Teil seine eigene Reise nach Recklinghausen beschreibt, zum Schuhgeschäft, das es bis heute gibt. Er findet eine Verkäuferin, die sich wahrhaftig an den Namen der ehemaligen Besitzer erinnert. Sie lässt ihn sogar in den vierten Stock, in die ehemalige Wohnung der Studinskis, die natürlich heute ganz anders aussieht.

Auf der Rückfahrt im Zug begegnet Wertheimer einer Gruppe betrunkener Jugendlicher, die rechte Parolen brüllen und eine Bierflasche zerschmeißen. Ein Splitter trifft seine Hand, sein Blut tropft auf den Sitz – und damit das seiner Urgroßmutter, wie Wertheimer schreibt. Hier wird er etwas überdeutlich. Doch sonst hat er ein feinfühliges, oft lyrisches Stück geschrieben, das wenig Dramatik und viele Gedanken enthält. Und das man auch als Versuch verstehen kann, Erinnerungen zu erhalten, obwohl die meisten Zeitzeugen nun verstorben sind.

Für die ukrainische Schauspielerin und Musikerin Daryna Mavlenko allerdings sind die Kriegstraumata ganz nahe. Sie ergänzt Guido Wertheimers Familiengeschichte durch ihre persönlichen Erinnerungen an den Beginn der russischen Invasion. Im Stück hat sie als Julia Studinski gesagt: „Papa, du weißt genau, dass ein Krieg immer zum nächsten führt. Dieses Land hat ein schlimmes Schicksal. Man muss keine Prophetin sein, um zu sehen, was auf uns in den nächsten Jahren zukommt.“ Wenn Daryna Mavlenko auf Ukrainisch von ihren eigenen Erlebnissen erzählt, ist klar, dass diese Sätze für sie konkrete und aktuelle Realität sind.

Erschienen am 29.5.2025

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