Look Out
Eine Heilige der Ausschweifungen
Die Bochumer Schauspielerin Jing Xiang übersetzt Emotionen in Bewegung
von Sascha Westphal
Erschienen in: Theater der Zeit: Vorwärts immer, rückwärts nimmer – Schwerpunkt Klassismus (02/2021)
Assoziationen: Schauspielhaus Bochum
Sie ist eine Magierin“, sagt Johan Simons im Nachgespräch zum Live-Stream seiner Inszenierung von Elias Canettis „Die Befristeten“ – und meint damit Jing Xiang. Wer die 1993 in Berlin geborene Schauspielerin auch nur ein einziges Mal in Bochum im Schauspielhaus oder auch auf der kleinen Freilichtbühne im Innenhof der Privatbrauerei Moritz Fiege erlebt hat, weiß sofort, was Simons meint.
Jing Xiangs Auftritte haben tatsächlich etwas Zauberisches. Unabhängig vom Geschehen um sie herum zieht sie sofort alle Blicke auf sich. Manchmal, wie in Herbert Fritschs überaus eigenwilliger Annäherung an Marquis de Sades „Philosophie im Boudoir“, traut man dabei sogar seinen eigenen Augen nicht. In dieser Inszenierung gab es einen Moment, in dem es einem schien, als schwebe sie über dem Boden. Sie trug eine Art Monstranz auf dem Kopf und strahlte etwas Übernatürliches aus: eine Heilige der Ausschweifungen.
Angefangen hat alles in Jing Xiangs Heimatstadt Berlin, zunächst im Rahmen des Ballett-Projekts „Kinder tanzen für Kinder“ der Deutschen Oper. 2009 hat sie begonnen, an der Academy, der Bühnenkunstschule für Jugendliche in Kreuzberg, Schauspielunterricht zu nehmen. Nach drei Jahren ging sie 2013 nach Rostock und schloss an der dortigen Hochschule für Musik und Theater 2017 ihr Schauspielstudium ab. In dieser Zeit sammelte sie auch erste Erfahrungen mit interdisziplinären Projekten. Arbeiten wie „Champagner, Baby“ und das von ihr ersonnene Projekt „O“ waren Teil des Rostocker Lehrplans, der ganz gezielt auf den Austausch zwischen Schauspiel- und Musikstudierenden setzt. Ein ständiges Changieren zwischen den Disziplinen und Formen prägt seither Jing Xiangs Arbeit. Seit sie 2018 mit Johan Simons ans Bochumer Schauspielhaus kam, hat sie vor allem in performativen Produktionen mitgewirkt – von „O, Augenblick“, Tobias Staabs musikalischer Auseinandersetzung mit der traditionsreichen Geschichte des Bochumer Schauspielhauses, über Julia Wisserts Versuch einer post-rassistischen Bühnenutopie „2069 – Das Ende der anderen“ bis zu Anna Stiepanis Adaption von Daniel Defoes Roman „Robinson Crusoe“. Eines ist all ihren Auftritten gemeinsam: eine bemerkenswerte Körperlichkeit, die Raum für Doppeldeutigkeiten schafft.
„Ich will immer sehr viel, stelle mir viele Fragen und versuche dann, das alles im Spiel zusammenzubringen“, erzählt Jing Xiang im Gespräch. Aber diese Erklärung braucht es gar nicht. Es reicht einfach, ihr auf der Bühne zuzusehen, und schon hat man teil an all diesen Fragen und Ideen, die sie sich und ihren Figuren stellt. Dabei braucht sie nicht einmal Worte. So ging ihre Darstellung des Schiffbrüchigen in „Robinson Crusoe“ weit über das Porträt eines Gestrandeten hinaus. Ein Beben und ein Zittern, die ihren ganzen Körper erfassten, reichten aus, um mal von Robinsons Angst, mal von seiner Euphorie zu erzählen. Zugleich betonte ihr körperliches, Emotionen in Bewegungen verwandelndes Spiel aber auch die Distanz zwischen ihr und der Rolle. Man war sich immer bewusst, dass hier eine Frau mit chinesischen Wurzeln diesen weißen Mann spielt. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, ohne den Zeigefinger zu erheben, konnten sie und Anna Stiepani Defoes kolonialistische Vorstellungen offenlegen. Auch das ist Teil von Jing Xiangs Magie. Schauspiel ist nie nur Spiel, sondern immer auch ein Kommentar zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. //