Theater der Zeit

Vorwort

von Amelie Mallmann

Erschienen in: Wagen wir die Wildnis – Theater für junges Publikum in Brandenburg und Sachsen-Anhalt (06/2012)

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„Wagen wir die Wildnis!“ ist eine Aufforderung, in Zeiten von demografischem Wandel, Überalterung und städtischem Leerstand Ideen für ein Theater der Zukunft zu entwickeln: Ein Theater, das mit einschneidenden sozialen Umwälzungen produktiv umgeht, die Wildnis – oder besser gesagt: Kargheit – mit Leben füllt, sie als Chance begreift, die eigenen ästhetischen Ansprüche nicht zurückschraubt und sich als öffentliches Forum in der Mitte einer Stadt versteht. Entgegen aller Widerstände. Denn nicht nur die dramatisch veränderten Bevölkerungszahlen geben nach wie vor zu denken, sondern auch die finanziellen Rahmenbedingungen werden immer enger, wie das Nachwort als eindringliche Warnung beschreibt. Welche Möglichkeiten bleiben überhaupt noch für engagierte Theaterarbeit? Und wer wird zukünftig überhaupt noch „junges Publikum“ sein? Die Bundesländer Brandenburg und Sachsen-Anhalt haben zwei Jahrzehnte lang eine enorme Abwanderungswelle erlebt. Laut einer Studie des Statistischen Landesamtes waren 2008 bereits 33 Prozent der Bevölkerung allein in Dessau-Roßlau über sechzig Jahre alt. Bis 2025 soll sich die dortige Bevölkerung um 14,8 Prozent reduziert haben. Wer ist also das neue Zielpublikum für die Theater, wenn die Jungen lieber gehen als bleiben?

Die Soziologin Claudia Neu bedauert jedoch, dass die Debatte um den Bevölkerungsschwund „immer von einer Rhetorik des Verlusts und des Niedergangs geprägt“ sei und schlägt deshalb vor: „Wagen wir die Wildnis!“*

 

Bei den 9. Theatertagen der Länder Sachsen-Anhalt und Brandenburg in Dessau im September 2011, die unter eben diesem Motto stattfanden und die den inhaltlichen Ausgangspunkt des vorliegenden Hefts bilden, ist tatsächlich von Resignation keine Spur: Gemäß dem Ziel des Festivals, diesmal ausschließlich Produktionen für Kinder und Jugendliche zu zeigen, boten die Theater der beiden Bundesländer eine beachtliche Bandbreite an Themen, Handschriften und Auseinandersetzungen. Siebzehn gut besuchte Inszenierungen, viele unter Mitwirkung von jugendlichen Amateuren, forderten zu einem genauen Blick heraus: Was wird erzählt und wie? Welchen Raum nimmt das Kinder- und Jugendtheater im Repertoire der Theater ein? Wie gehen Dramaturgen und Theaterpädagogen auf das Publikum zu? Und wie „wild“ – im Sinne von frei – kann ein Theater tatsächlich gedacht werden, ohne Publikum zu verlieren?

 

Geplant war eine Dokumentation der Landestheatertage in Dessau. Doch um einen profunderen Einblick in die Szene zu bekommen, weiteten wir unseren Blick: Ausgehend von einer Untersuchung der Angebote für junges Publikum begannen wir, grundsätzlicher nach der Theaterarbeit in Brandenburg und Sachsen-Anhalt und dem Verständnis von „Wildnis“ zu fragen. Welche statistischen Erhebungen zu den Interessen heutiger Jugendlicher in Brandenburg existieren beispielsweise? Wir wollten wissen, welche Wellen das viel beachtete Projekt „Social Capital“ des Maxim Gorki Theaters tatsächlich in Wittenberge schlagen konnte. Wir besuchten das Theater am Rand im Oderbruch, um zu sehen, wie ein Theater nach ökologischen Prämissen in der „Wildnis“ gebaut wurde. Wir baten die Dramenautoren Philipp Löhle und Oliver Kluck um Erinnerungsberichte, wann und wie sie „Wildnis“ in ihrer Biografie erlebt haben. Und wir interessierten uns für das Thema Stadtentwicklung: Nach welchen Kriterien wird z. B. entschieden, ob man die Unverwechselbarkeit einer Stadt belassen oder sie „revitalisieren“ möchte?

All diese Seitenwege entfernten uns zunächst scheinbar vom Schwerpunkt „Theater für junges Publikum“, ergaben aber in der Summe ein weitaus differenzierteres Bild der Theaterarbeit in Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Zusammengekommen ist also eine Vielfalt an Texten, die aus verschiedenen Blickwinkeln – von Theaterleitern, Dramaturgen, Theaterpädagogen und -autoren, aber auch von Wissenschaftlern – beschreiben, befragen, diskutieren oder fordern. Sie überschreiten thematisch die Grenzen der Landestheatertage und verschaffen einen Überblick darüber, welche Angebote die Theater in den beiden Bundesländern den Bewohnern ihrer Stadt unterbreiten. Der oft verwendete Slogan „Theater für alle“ trifft hierbei für die Theaterkonzeptionen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt in hohem Maße zu: Hans-Joachim Frank, Künstlerischer Leiter des theater 89 in Berlin, arbeitet seit fast 15 Jahren in der Außenspielstätte im brandenburgischen Niedergörsdorf mit der großen Beteiligung von ortsansässigen Laien; am Theater der Altmark eröffnet ein Festival mitten im Stendaler Zentrum einen mutigen Dialog über Ängste und lässt die Bürger auf großen Portraitplakaten sprechen; in Potsdam hat man die Trennung der Sparten in „junges“ und „Erwachsentheater“ aufgehoben und erreicht dadurch eine altersmäßige Durchmischung des Publikums; in Naumburg gehören Bürgerprojekte und das Bespielen städtischer Räume zum festen Bestandteil des Spielplans ...

„Theater für alle“ heißt, das Publikum genau zu kennen und immer neue Angebote zu unterbreiten, um das Theater als attraktiven und integralen Bestandteil einer Stadt und Region zu etablieren und zu festigen. Dabei steht zuweilen die künstlerische Innovation nicht an erster Stelle, sondern der enge Bezug zu den Themen der Umgebung und ihrer Menschen. Egal, ob jung oder alt.

 

Diese Publikation soll als Würdigung der oft unter schwierigen Bedingungen stattfindenden Theaterarbeit beider Bundesländer verstanden werden, die es mit einem völlig anderen Publikum und anderen Herausforderungen zu tun haben als die Großstädte der Nation. Das Zentrum unserer Betrachtungen bildet das Theater für junges Publikum, von hier aus schwärmen wir gedanklich aus: Die soziologischen, stadtplanerischen, theaterwissenschaftlichen und landschaftsphilosophischen Reflexionen laden gemeinsam mit den konkreten Berichten aus der Praxis dazu ein, sich ein differenziertes Bild über die derzeitige Situation der Theater in Brandenburg und Sachsen-Anhalt zu machen.

 

Amelie Mallmann
Berlin, 22. Februar 2012

 

P.S.: Ein überaus großer Dank gilt an dieser Stelle Anna Volkland, die mit ihrer unermüdlichen redaktionellen Mitarbeit wesentlich zum Gelingen dieses Inserts beigetragen hat.

* Pötzl, Norbert F.: „Der Reiz der Leere“, in: www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-49324487.html, 24. Oktober 2006.

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