Look Out
Dunkle Materie
Die Schauspielerin Sarah Moeschler forscht nach dem Unsichtbaren im Theater
Erschienen in: Theater der Zeit: Thema Ukraine: Serhij Zhadan „Lieder von Vertreibung und Nimmerwiederkehr“ (04/2022)
Assoziationen: Performance Akteure

In einem Video-Poem für ihre Aufführung „_darkened by barbara“ wandert Sarah Moeschler durch einen langen schwarzen Tunnel, auf dessen Wänden ihre Hand Zeichen aus Licht hinterlässt. Ihre „Kosmische Ballade mit rauschendem Hintergrund der Wahrheit“, die irgendwo zwischen den Orkantiefs Ylenia, Zeynep und Antonia im Februar 2022 am Theater an der Ruhr Premiere hatte, ist eine Liebeserklärung an das Unsichtbare. Grundlage der Performance, die zugleich ihre Abschlussarbeit für eine Schauspielausbildung an der Hochschule der Künste in Bern ist, ist ein selbst programmierter Algorithmus. Als R_ταυ ٢.١. firmiert dieser als ihr Ko-Autor und hat sechs Gedichte beigesteuert. Vorbild für die Figur, die sie selbst spielt, ist die US-amerikanische Astrophysikerin Vera Rubin, die in den 1970er Jahren eine Pionierin in der Erforschung der Dunklen Materie wird – ihr, der unterschätzten, kämpferischen Naturwissenschaftlerin widmet sie den selbst entwickelten Abend, der in der Camera Obscura in Mülheim gezeigt wird und davon berichtet, „wie ich mich fühle in der Welt“. Feministische, queere und rassistische Themen verdichten sich zu poetischen Bildern und Texten. Denn Kunst und Wissenschaft zu verbinden, ist für Sarah Moeschler eine Herzensangelegenheit. Allzu verständlich, denn die gebürtige Schweizerin ist promovierte Virologin. Sie studierte Biologie an der Universität Neuchâtel und machte ihren Master in Biomedizin an der Universität Lausanne. Für sie als Wissenschaftlerin war Hautfarbe nie ein Thema, nun erfährt sie – und das überrascht sie sehr –, wie wichtig das Aussehen für ihren Beruf als Schauspielerin ist. „Erscheinungsbild: karibisch“ wird sie auf ihrer offiziellen Sedcard ausgezeichnet. Aber „Theater soll doch ein menschliches Abenteuer sein!“ Und Lernen, Träumen, Nahrung, Flexibilität und Konzentration. Sie, die im Kanton Neuenburg aufgewachsen ist, das mit den beiden benachbarten Städten La Chaux-de-Fonds und Le Locle als Wiege der Uhrmacherei gilt, fand erst mit 25 Jahren zum Theaterspielen. Aber die Kraft und Energie des Theaters war wohl schon immer da, nur nicht sichtbar, wie die Dunkle Materie, die Sarah Moeschler „Barbara“ nennt und ins Zentrum ihrer Aufführung gestellt hat. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Toulouse, auf sich allein gestellt in einem langen heißen Sommer, dreht sich plötzlich der Schlüssel um, als sie eines Abends die Schauspieler Stanislas Nordey und Audrey Bonnet im Radio hört. France Culture überträgt „La Clôture de l’amour“ vom Theaterfestival in Avignon, zwei Monologe über das Ende einer Liebe, die Pascal Rambert seinen beiden Hauptdarstellern auf den Leib geschrieben hat. Von da an geht Sarah Moeschler fast täglich in die Theaterabteilung der Stadtbibliothek. Als sie ein Plakat entdeckt, das einen Theaterworkshop ankündigt, greift sie zu. Eine tiefe und geheimnisvolle „Leidenschaft für das Theater“ packt sie: Sie besucht Abendkurse und finanziert ihr Schauspielstudium in Fribourg, Lausanne und schließlich in Bern mit Workshops für Kinder und Jugendliche und wissenschaftlicher Beratung für Firmen. „Versuch’s mal!“ So lautet der Rat einer Dozentin, die beobachtet, wie Sarah Moeschler alles aufsaugt, ausprobiert, was ihr entgegentritt: „Schauspielerin wird man nicht durch eine Schule, sondern durch die Menschen, die man trifft.“ Die beiden Monologe von Stan und Audrey gehören bald zu ihren Vorsprechrollen – sie spielt den männlichen Part in deutscher Sprache, den seiner Freundin auf Französisch. Am Schauspielhaus Bochum gastiert Sarah Moeschler in Johan Simons’ „Ödipus, Herrscher“ und für „Die unendliche Geschichte“, inszeniert von Liesbeth Coltof. Mit Beginn der Spielzeit 2021/2022 ist sie im Ensemble des Mülheimer Theaters angekommen und erobert sich Deutsch als ihre neue, zweite Bühnensprache: „Es ist anstrengend, aber genau das gefällt mir!“ Die Tochter einer Lehrerin und eines Uhrmachers spricht in „Nathan. Death“ von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, inszeniert von Philipp Preuss, mit einer musikalischen und glasklaren Genauigkeit, die wohl nur jemand mitbringt, der nicht in seiner Muttersprache agiert. //