Ägypten
In der Schwebe hängen: Ägyptisches Theater nach dem 25. Januar
von Sarah Enany
Erschienen in: Recherchen 104: Theater im arabischen Sprachraum – Theatre in the Arab World (12/2013)
Assoziationen: Theatergeschichte Afrika
In den 1990er Jahren wandte sich eine Gruppe unabhängiger feministischer Theatermacherinnen an den Vorstand eines bedeutenden Kulturzentrums eines europäischen Landes und bat um finanzielle Mittel für ihr Frauen-Theaterprojekt. „Aus zuverlässigen Quellen weiß ich, dass Theater keine genuine ägyptische Kunst ist“, sagte der hochrangige europäische Beamte, „und daher finanzieren wir nur indigene ägyptische Kunstformen wie Geschichtenerzählung und Puppenspiel.“
Glücklicherweise hat sich diese enge Sicht heute größtenteils verändert und die Zeit ist vorüber, in der die koloniale Wahrnehmung Hand in Hand mit repressiven ägyptischen Gesetzen unwissentlich das freie Theater zu ersticken versuchte. Wie in vielen Ländern weltweit existieren jetzt auch in Ägypten traditionelle Theaterarten neben, und manchmal auch zusammen mit, neuen und andersartigen Formen: Stand-up Comedy, Geschichtenerzählung und traditionelles ägyptisches Schattentheater, auf der klassischen Guckkastenbühne werden ägyptische und ausländische Texte gespielt. Aber das sagt natürlich nichts über die Qualität dieses Theaters aus.
Zwar gibt es eine staatliche Aufführungsstätte, die sich aktuell „Avant Garde Theatre“ nennt, aber es ist allgemein nachvollziehbar, dass die offiziellen staatlichen Produktionen seit den frühen 1990er Jahren den bereits gesetzten „Avantgarde“-Trends freier Theatermacher folgen. Trotz der so genannten „Goldenen Sechziger“ war das Theater der damaligen Zeit in Wirklichkeit von der Regierung produziert, Politik-gesteuert betrieben und ideologisch geprägt, um Präsident Nassers neue Ideologie zu verbreiten und als Sicherheitsventil für Dissidenten zu dienen. Allerdings war dies für die Künstler nicht immer besonders sicher, da viele von ihnen ins Gefängnis kamen. Was das Theater tat, war sorgfältig alles zu meiden, was unter die Devise „das Persönliche ist politisch“ fällt. Weder wurde der
Versuch unternommen – in welcher Form auch immer – den traditionellen, patriarchalen und familiären Status quo herauszufordern, noch wurde das religiöse Gebot, den Machtrepräsentanten zu gehorchen oder die Rolle der Frau in Frage gestellt, etwa indem etwas Unkonventionelles über Sexualität geäußert worden wäre.
Die 1970er Jahre waren nicht besser: Präsident Sadats neue, konservative Ideologie und seine Fügsamkeit den Islamisten gegenüber, führten zu einer fast völligen Vernachlässigung des Theaters. Die so entstandene Lücke schlossen kommerzielle Musicals, die von einem golf-arabischen Publikum besucht wurden und – florierten.
Von daher kann von den heutigen freien Theatermachern nicht wirklich behauptet werden, dass sie an eine bereits existierende ägyptische Tradition anschließen würden. Sie leiteten die meisten ihrer kulturellen Ideen und künstlerischen Methoden von denen ihrer Avantgarde-Kollegen weltweit ab – sei es von Freire, Grotowski, Boal oder noch anderen –, ebenso wie von Quellen außerhalb des Theaters, wie dem Kino und der bildenden Kunst.
Einen unterstützenden Einfluss hatte das – von konservativen Philologen seinerzeit immer wieder verunglimpfte – heute nicht mehr existierende Cairo International Festival for Experimental Theatre (1988–2010). Insbesondere in seinen frühen Jahren erwies sich das Festival als eine Inspirationsquelle für eine ganze Generation jüngerer Theatermacher. Es bot vielen ihre erste und einzige Plattform, um im internationalen Theaterbetrieb Beachtung zu finden.
Dem Slogan „das Persönliche ist politisch“ zu folgen, erwies sich als eine riskante Angelegenheit. Trotz der Versuche einiger Schriftstellerinnen, dem weitgehend patriarchalischen und phallozentrischen ägyptischen Theater einen feministischen Zug zu verleihen, dauerte es bis in die 1990er Jahre, bis solche alternativen Theatergruppen wie Effat Yehias Caravan und Nora Amins La Musica entschieden feministisch orientierte Aufführungen auf die Bühne brachten, die viele Tabus und persönliche Themen berührten. Maher Sabry war der erste Dramatiker und Regisseur, der schwule und lesbische Liebe auf eine einfühlende Art und Weise auf der Bühne darstellte. Trotz ihres Mutes befinden sich diese freien Theatermacher stets in einem harten Existenzkampf, der allzu oft mit dem Exil oder Konkurs endet – es sei denn, sie haben einflussreiche Freunde oder das Glück, jemanden zu kennen, der gut Förderanträge schreiben kann. Sabry wurde nach seinem Einsatz für Schwulenrechte von der Staatssicherheit gejagt und ins US-amerikanische Exil gezwungen; Amin verbringt einen Großteil ihrer Zeit damit, Workshops im Ausland zu leiten; Effat Yehia und die Dramatikerin und Regisseurin Dalia Basiouny haben eine Zuflucht in der American University in Kairo gefunden, während Dalia el-Abd – wie viele ihrer Tänzer- und Choreografen-Kollegen – nur auftreten kann, wenn sie einen Spielort in einem ausländischen Kulturzentrum findet. Andere Künstler sind schlichtweg in Vergessenheit geraten.
Es wäre sehr einfach, nun einen orientalistischen Blick auf diese Entwicklungen zu werfen und diese dem Druck der „islamischen“ Kultur und dem dazugehörigen Konservatismus zuzuschreiben. Die Erklärung ist wie immer nuancenreicher. Trotz eines tief verwurzelten patriarchalischen Erbes war Ägypten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Tat Zeuge bedeutender Bemühungen um eine Liberalisierung. Zum Beispiel rissen – während der Revolution von 1919 – Frauen ihre Gesichtsschleier herunter, bei einer großen öffentlichen Demonstration gegen die heimliche Kollaboration der Monarchie mit der britischen Kolonialmacht, während Fatma Rushdi, Gründerin einer eigenen Theatergruppe, demonstrierenden Studenten Zuflucht gewährte, die vor den Gewehren der Briten flohen.
Ob diese Versuche Erfolg gehabt hätten, wenn man sie hätte gewähren lassen, können wir heute nur vermuten. Jedenfalls wurden derartige Volksaufstände durch die selbsternannte „Revolution von 1952“ im Keim erstickt, die in Wirklichkeit ein Staatsstreich des Militärs war, das die Macht an sich riss und nie wieder abgab. An der Oberfläche war Nassers Regime sehr liberal und ermutigte die Frauen, „sich aufzulehnen und neben den Männern zu kämpfen“, wie es in einer Zeile eines damals vom Staat produzierten Liedes hieß. In Wirklichkeit aber gab es einen omnipräsenten und andauernden Terror der Spione des Staates, die tatsächlich überall lauerten.
Seit 1952 wurde jede eigenständige, kreative Vision systematisch zerschlagen und es gab einen ständigen Hang dazu, Regierungsposten – insbesondere solche mit Entscheidungskompetenzen – mit den am wenigsten qualifizierten Personen zu besetzen. Dies führte zu einer mittlerweile 60 Jahre andauernden Tradition der Ausgrenzung, in der die Entscheidungsträger in erster Linie aufgrund ihrer Loyalität gegenüber dem Regime ausgewählt wurden und die ihr ureigenes Interesse an der Erhaltung des Status quo hatten; diejenigen aber, die dazu in der Lage gewesen wären, auf einer solchen Position frische und eigene Vorstellungen zu entwickeln, wurden beiseite geschoben.
Dies erklärt, wieso es trotz der Revolution möglicherweise eine Verschwendung von Energie bedeuten würde, zu versuchen, den Staatstheaterapparat in nächster Zukunft zu reformieren, so lange dieser von Anhängern des alten Regimes durchsetzt bleibt, die sich mehr um ihre Gehaltszahlungen sorgen als um die Qualität der Vorstellungen – und zwar auf jeder erdenklichen Organisationsebene.
Vor diesem Hintergrund ist es kaum eine Übertreibung, festzustellen, dass die treibende Kraft der Entwicklung des ägyptischen Theaters die unabhängigen Künstler sind.
Doch selbst wenn aller Enthusiasmus unabhängiger Theaterproduktionen zusammenkommt, bleibt ein dringender Bedarf an passenden Spielorten, die für alle offenstehen. Obwohl die ägyptische Bevölkerung nun fast 90 Millionen Menschen zählt, übersteigt die Zahl aller aktuell betriebenen Theater nicht einmal 50 – wenn man einmal von den unregelmäßig bespielten Kulturhäusern und -palästen (Relikten aus der sozialistischen Ära) in den Provinzen sowie den behelfsmäßig eingerichteten Räumen absieht, die von ausländischen Kulturzentren allenfalls für zwei, drei Aufführungen zur Verfügung gestellt werden. Auch hier sorgt einmal mehr der unabhängige Sektor selbst für Abhilfe: durch das Sawy Cultural Center (wenn es auch für seine Selbstzensur bekannt wurde), das Rawabet und
andere mit der Townhouse Gallery verbundene Veranstaltungsstätten – in Alexandria Mahmoud Abou-Doma‘s Teatro und die Garage des Jesuitischen Zentrums.
Was Proberäume angeht, gibt es das Studio Emad Eddin von Ahmad Al Attar, das allerdings für eine Stadt mit 15 Millionen Einwohnern wie Kairo allein nicht ausreichen kann, zumal die anderen Orte ständig in ihrer Existenz bedroht sind.
Ein guter Aspekt der ägyptischen Revolution des 25. Januar ist – immerhin und trotz des allgemeinen Fortbestands des Status quo –, dass die alte rechtliche Regelung, die jede Form von Straßentheater unterband, bevor es entstehen konnte – dieser Artikel der Notstandsgesetze, welcher „öffentliche Versammlungen“ von mehr als fünf Personen verbot –, abgeschafft wurde schon aus den ersichtlichen praktischen Gründen. Der Aufstand vom 25. Januar 2011 durchbrach das öffentliche Versammlungsverbot und brachte eine ganze Welle von spontaner Theateraktivität hervor. Daraus entstand schnell ein neues Genre: quasi-dokumentarisches und mit Zitaten arbeitendes Theater; Improvisationskunst benutzten Künstler und Aktivisten in ganz Ägypten, verstärkt jedoch rund um den Tahrir-Platz und andere Orte in Kairo. Diese Performance-Aktivitäten wurden zumeist während der großen Demonstrationen, die zum Sturz Mubaraks führten, im öffentlichen Raum aufgeführt. Sonstige Veranstaltungsorte waren alternative Plätze, wie etwa die Innenhöfe oder Gärten historischer Stätten.
Zu den prominentesten Darbietungen dieser Art zählen Hany Abdel-Nassers als komödiantisches Musical realisiertes politisches Kabarett Seiten aus der Erinnerung des Platzes, Dalia Basiounys Geschichte von Tahrir, Abeer Alis John Doe, Hamada Shushas Ein Abend mit der Revolution, Amr Qabeels Geschichte vom Platz und Mohamed Abdel-Fattahs Haala Group, die sowohl als Künstler, als auch als Demonstranten am Tahrir-Platz aktiv waren. Die Rawabet Gallery gab an zwei Abenden Künstlern die Möglichkeit, öffentlich davon Zeugnis abzulegen, wie sie an Demonstrationen teilgenommen hatten, inhaftiert und von der Militärpolizei in den Kellern des Ägyptischen Museums gefoltert wurden – Laila Soliman hatte diese Aussagen unter dem Titel No time for art zusammengestellt.
Dies geschah kurz nachdem das Staatstheater – der Form halber – auf den fahrenden Zug aufgesprungen war. Obwohl man auf jedes staatliche Theater, das die „Revolution feiert“, getrost verzichten kann – wie etwa Abdel-Moneim Kamels Pyramide und die Revolution am Cairo Opera House oder Mohamed el-Gheitis vom Staatstheater produziertes Rosen aus dem Garten. All das ist primitiv, geht beschämend mit den jüngsten Ereignissen um, die Lieblingskünstler des alten Regimes würdigen den gesellschaftlichen Wandel nur mit Lippenbekenntnissen, während sie gleichzeitig die letzten ägyptischen Pfund aus den staatlichen Töpfen in Anspruch nehmen. (Der Autor der letztgenannten Produktion beging einen schrecklichen Fauxpas, indem er die Familien der jungen Opfer, die auf dem Tahrir-Platz getötet worden waren, zu der Aufführung einlud, während er die Bilder der Getöteten ausstellte und ihren Tod auf der Bühne nachstellen ließ. Jeden Abend war das Auditorium von Wutschreien und Seufzern erfüllt, wie der künstlerische Leiter des Theaters bestätigte. Der Aufführungsort dieser Travestie: Das Comedy Theatre. Das Schicksal, so scheint es, hat einen Sinn für Humor.)
Beim Verfassen dieses Textes, zwei Jahre nach der Revolution, die mittlerweile vom Militärrat und den Islamisten für sich in Anspruch genommen wird, hat sich eine Stimmung der Desillusion breitgemacht. Dies war deutlich spürbar in vielen Aufführungen wie in Isis Mon Amour (von Mohamed Abul Su‘ood, Premiere am El-Hanager Arts Center), in welcher die Figur des „General-aller-Zeiten“ feststellte, dass „wir noch immer die Bühne beherrschen: Wir haben nur die Schauspieler ersetzt“ – indem eine totalitaristische Herrschaft durch die andere abgelöst wurde. Das Fehlen jeglichen Impetus des Wandels oder jeglicher Agenda auf Seiten der gegenwärtigen Machthaber, die Bedingungen der Theaterleute zu verbessern, bedeutet – Revolution hin oder her –, dass das Schicksal des ägyptischen Theaters nach wie vor in der Luft hängt.
Übersetzt aus dem Englischen: Mehdi Moradpour