Theater der Zeit

Praxis

I'm Sorry but the Princess is in Another Castle – oder: Lasst uns die Märchen befreien!

von Steven Cloos

Erschienen in: IXYPSILONZETT: Märchen (10/2022)

Assoziationen: Dramatik Kinder- & Jugendtheater

Anzeige

Anzeige

Als es im März 2020 für uns alle in den Lockdown ging, konnte mich kein Roman mehr richtig fesseln, kein Sachbuch mein Interesse halten. Die leeren Straßen, die geschlossenen Theaterhäuser, das Gefühl von Ungewissheit waren einfach viel zu real. Es waren vor allem Märchen und phantastische Geschichten, die mich durch diese Zeit begleitet haben. Ich griff zu der Märchensammlung von Hans Christian Andersen, die ich schon seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr in den Händen hatte. Seine Erzählungen von Meerjungfrauen, Zinnsoldaten, der Schneekönigin oder Däumelinchen trugen mich hinaus aus den leeren Städten und hinein in eine Welt voller Magie. Das fühlte sich wie Nachhausekommen an. Denn es sind Märchen, die ich seit meiner Kindheit kenne und mit denen ich aufgewachsen bin.

Wir alle brauchen Geschichten. Unsere Fantasie schenkt uns Hoffnung, Mut oder Trost, weil wir mit ihrer Hilfe dazu in der Lage sind, uns vorzustellen, dass etwas besser werden kann. Wie in vielen Märchen. Am Ende ist der Drache besiegt.

Da ich das Märchenbuch also schon in der Hand hatte, probierte ich mich mit dem Erzählen von Märchen aus. Zeit hatte ich ja. Das war vielleicht nicht besonders originell, aber das waren die Klopapier-Witze auch nicht. So entstanden meine Minutenmärchen für das Stadttheater Ingolstadt. Kleine Stop-Motion-Filmchen, in denen ich Märchen kurz und knapp nacherzählt und sie visuell mit bewegten Zeichnungen unterstützt habe. Alles sehr handmade. Denn mich hat vor allem die Einfachheit des Erzählens und der Ästhetik interessiert.

Auf der Suche nach Geschichten, die ich erzählen könnte, habe ich zum ersten Mal auch Volksmärchen aus Russland, Georgien, Schweden, Island, Japan oder Nigeria gelesen. Dabei sind mir vor allem zwei Dinge aufgefallen: Wahnsinn, wie oft am Ende geheiratet wird und wie oft sich Motive oder Stoffe wiederholen. Nun könnte man denken, dass ich mich unter all den Märchen nur schwer entscheiden könnte. Aber tatsächlich wollte ich viele dieser Märchen so nicht erzählen. Helden, die für ihre mutigen Taten die schönste Tochter des Königs versprochen bekommen? Nein, danke. Bei anderen habe ich es mit Kürzungen versucht, um zumindest stereotypische Zuschreibungen zu streichen. So faszinierend Märchen einerseits auch sind, so problematisch können sie auch sein. Sie werden unter anderem dafür kritisiert, dass sie Stereotype reproduzieren, mit christlichen Elementen vollgepumpt sind, nur selten von starken Frauenfiguren und fast immer aus der heteronormativen Perspektive erzählen. Aber auch wenn sie zum Beispiel von den Brüdern Grimm schriftlich fixiert worden sind, die sie übrigens selbst über vier Jahrzehnte lang immer wieder überarbeitet und verändert haben, muss uns das nicht daran hindern, Märchen neu zu erzählen. Sie neu zu erobern. Oder?

Märchen haben sich schon immer im Wandel befunden. Man kann nur vermuten, seit wann Märchen erzählt werden. Aber sie sollen weiter als alle anderen literarischen Formen zurückreichen. Lange bevor die Märchen, wie wir sie heute kennen, schriftlich festgehalten worden sind, wurden sie mündlich weitergegeben. Das kann man sich wie Stille Post vorstellen. Eine gute Geschichte bleibt im Kopf und wird weiter erzählt. Immer wieder. Dabei wird sie von den Erzählenden und von den Zuhörenden gefärbt, verändert, angepasst und weitergetragen. Und schon findet sich die Geschichte in vielen Varianten auf der ganzen Welt.

Märchen sind uralt. Bis heute halten sie sich durch vielfältiges Erzählen lebendig. Das finde ich als Schauspieler wahnsinnig interessant. Sie können erzählt, vorgelesen, geschrieben, verkörpert, gespielt, getanzt, gesungen, gemalt, verfilmt, vertont, auf die Bühne gebracht, am Computer gespielt oder im digitalen Raum gefunden werden. Egal wo und egal wie, aber Märchen werden überall erzählt. Für viele von uns waren sie vermutlich mit die ersten Geschichten, die wir kennengelernt haben. Wenn ich zurückdenke, dann schwimme ich als kleine Meerjungfrau durch das Schwimmbad meines Opas, fliege als Hexe mit einem Besen durch das Wohnzimmer, liege abends im Bett und lasse mir Märchengeschichten erzählen oder vorlesen. Am liebsten die von Hans Christian Andersen. Die begeistern mich noch immer. Auch weil sich in manchen seiner Kunstmärchen queere Motive herauslesen lassen. So erzählt Die kleine Meerjungfrau von einer Liebe, die nicht erwidert werden kann. Von dem dringenden Wunsch anders zu sein. Von der Sprachlosigkeit über die eigenen Gefühle zu sprechen. Von den Qualen, über die man eben nicht reden kann, weil die Seehexe einem die Zunge herausgeschnitten hat. Andersen schrieb so manches Märchen über das Anderssein. Da gibt es den aussortierten Zinnsoldaten oder auch das hässliche Entlein. Das ist zwar als Erwachsener, der sich gerne mit Texten beschäftigt, literarisch spannend, aber in Märchen nur als „Motiv“ vorzukommen, macht mich gleichzeitig traurig und wütend. Meine Geschichte wurde in den Märchen nicht erzählt. Die von vielen Anderen auch nicht. Das Aufwachsen ohne positiv besetzte Bilder einer queeren Lebensrealität in Geschichten, Medien oder Umfeld sorgte für das schmerzhafte Gefühl des Andersseins. Wo also bleiben die Geschichten von Prinzessinnen, die sich in Prinzessinnen verlieben? Von Prinzen, die aufeinander warten? Wo sind die Geschichten, die offen und sichtbar von all jenen erzählen, die sich außerhalb der Heteronormativität befinden? Wo sind die Protagonist*innen mit Beeinträchtigung und wo die Protagonist*innen of Color?

Als (queerer) Schauspieler, der sich viel mehr queere Sichtbarkeit auf den jungen Bühnen wünscht, finde ich es spannend, wenn wir Märchen spielerisch weiterdenken, sie neu erzählen und die Perspektive wechseln. Das passiert natürlich teilweise schon. So hat der Software-Entwickler Jonathan Plackett einen Algorithmus entwickelt, der die in den Texten gegenderten Figuren vertauscht und nun von Wölfinnen, die Großväter verspeisen oder von Königen, die sich sehnlichst ein Kind wünschen, erzählen. Im digitalen Raum finden sich interessante und innovative Projekte, die Märchen (neu) erzählen und einem jungen Publikum zugänglich machen. Da gibt es Märchen in Leichter Sprache im Sinne der Barrierefreiheit oder interaktive Märchenspiele, in denen Kinder selbst entscheiden, wer jetzt wen rettet. Das Deutsche Theater Berlin stellt in der Produktion ugly duckling die Biografien Berliner DragQueens Andersens Märchen gegenüber. Auch in den Buchhandlungen findet man langsam immer mehr Bücher, die Märchen neu und diverser erzählen. Welche Kraft es haben kann, die Stoffe und Geschichten in die Gegenwart zu holen und ihnen heutige Fragen zu stellen, zeigt ein in Ungarn herausgebrachter Sammelband neu adaptierter Märchen, die von gesellschaftlicher Vielfalt erzählen. Neben einem Hasen mit drei Ohren oder einem Rehkitz, das merkt, dass es ein Rehbock ist und sich ein Geweih wünscht, verlieben sich auch zwei Prinzen ineinander. Das diente dem rechtsnationalen Ministerpräsidenten als Aufhänger für eine Kampagne gegen queere Menschen. Das Buch durfte nicht mehr offen in Buchhandlungen ausgelegt werden, ein Bestseller wurde es aber dennoch. Märchen als Widerstand quasi.

Unsere gesellschaftliche Vielfalt ist kein Märchen. Wir alle sollen gehört, gesehen, gemeint und repräsentiert werden. So wie wir sind. Es gibt so viele Geschichten, die wir viel zu selten oder überhaupt nicht erzählen. Wenn ich sehe, wie viele junge Menschen gegen Rassismus oder für die Rechte queerer Menschen auf die Straße gehen, bin ich immer wieder beeindruckt. Ihr Wunsch nach Repräsentation in Bildung, Medien und Kultur ist laut. Ich glaube, dass Märchen wunderbar dazu geeignet sind, fantasievoll und spielerisch, spannend und einfach von Vielfalt zu erzählen. Lasst uns Sichtbarkeit schaffen und fantastische Utopien auf die Bühne bringen. Dazu einladen, die Welt aus neuen und vielfältigen Perspektiven zu betrachten. Es kann nur bereichernd sein. Gerade weil wir Märchen häufig so früh begegnen, sollten wir uns die Frage stellen, was wir erzählen wollen. Welche Geschichten erzählen wir? Und welche viel zu selten? Statt die Prinzessin immer wieder darauf warten zu lassen, von einem Prinzen gerettet zu werden, ist es viel mehr an der Zeit, die Märchen selbst zu befreien. Und das kann überall dort passieren, wo Geschichten erzählt werden.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Pledge and Play"