Theater der Zeit

Thema

An die Welt glauben

Vom Aufstand und seinen Sackgassen – ein Porträt des Regisseurs, Autors und Sängers Schorsch Kamerun

von Sebastian Kirsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)

Assoziationen: Akteure Dossier: Musik im Schauspiel Schorsch Kamerun

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Vielleicht kann die heutige Utopie erst einmal nur darin bestehen, sich physisch zu verabreden“, hat der Musiker und Regisseur Schorsch Kamerun vor Kurzem einmal gesagt, und auf den ersten Blick mag der Minimalismus dieser Worte entmutigen: Ist diese magere Forderung wirklich alles, was vom einst so groß angelegten Projekt der Emanzipation geblieben ist? Oder zur Not auch von den Versprechen einer sich als subversiv verstehenden Pop-(Sub-)Kultur, zu deren exponierten Vertretern Kamerun als Sänger der Goldenen Zitronen und als Mitbetreiber des Hamburger Golden Pudel Club ja immer gehört hat? Bei genauem Hinsehen steckt aber mehr in der Feststellung als die dürren Worte anzeigen, nämlich eine präzise politische Haltung, die ihre Widerständigkeit gerade aus der illusionslosen Einschätzung der gesellschaftlichen Lage bezieht und die sich in Kameruns Fall zudem in grundsätzliche ästhetische Entscheidungen übersetzt. Denn wollte man einen gemeinsamen Zug vieler Bühnenarbeiten nennen, die Kamerun geschaffen hat, seitdem er im Jahr 2000 von Stefanie Carp gefragt wurde, ob er im Hamburger Schauspielhaus Hubert Fichtes Roman „Die Palette“ inszenieren wolle, dann könnte man vielleicht sagen: Ihr Verbindendes besteht in der Suche nach Begegnungen, die, selbst wenn sie erst einmal winzig oder sogar kläglich erscheinen, mögliche Anfänge sein können, Ereignisse mit unkalkulierbaren Folgen. Jedenfalls zieht sich die Idee der physischen Verabredung durch Kameruns Theater, um sich zugleich an den Gepflogenheiten des gewöhnlichen Schauspiels zu reiben – und zwar notwendigerweise, denn letzten Endes ist mit ihr ein chorisches Moment angesprochen, das zu verhindern und abzutöten nach wie vor der Zweck des gesamten protagonistischen Bühnenapparates ist.

Es ist also kein Zufall, wenn in Kameruns Rauminstallationen, die häufig auch begehbar sind, immer wieder ganze Gruppen von Menschen mitwirken, die mit dem normalen Theateralltag und ‑betrieb nichts zu tun haben. Manchmal sind diese Menschen schlicht nur da, finden sich zu temporären Gemeinschaften zusammen, führen einfache Alltagshandlungen aus, räumen Aktenordner hin und her oder bauen Stühle auf. Dann wieder lesen sie Texte vor oder tragen zu den Musiken bei, ohne die Kameruns Räume und Umgebungen nicht denkbar wären. Ein Kritiker schrieb darum einmal treffend, Kamerun sei der „Erfinder des begehbaren Konzerts“; Kamerun selbst nennt als wichtigen ästhetischen Einfluss seiner Theaterinstallationen die Umgebungsuntersuchungen und Zustandsvideos des niederländischen Künstlers Aernout Mik. So konnte man zum Beispiel in der Konzertinstallation „Der entkommene Aufstand“ in Köln (2011) ein fünfzigköpfiges Camp à la Occupy durchstreifen; in der neuesten Produktion „Alle im Wunderland“ in Oberhausen sind zahlreiche Bürger der hochverschuldeten Stadt auf der Bühne anwesend, um dort das Carroll’sche Wunderland mit der trostlosen Zauberwelt der Oberhausener Centro-Shoppingmall zu überblenden; und in der bemerkenswerten Installation „Westwärts“ nach Rolf Dieter Brinkmann, die 2008 bei der Ruhrtriennale zu sehen bzw. zu durchwandern war, füllten gar 150 Beteiligte die Maschinenhalle in Gladbeck, wo sie nichts anderes taten als das, was Brinkmann in seinem gleichnamigen Gedicht beschrieb: Alles macht(e) weiter.

 

Pop kommt immer zu spät

Tatsächlich spürt man in diesen Arbeiten, wie sehr Kameruns eigentliches Interesse eben dem Moment der physischen Begegnung gilt, der gemeinsamen Zeit mit den Beteiligten, die, wie er einmal gesagt hat, eher als gelebte denn als geprobte Zeit in die Produktionen eingehen soll. Dieses Moment steht darum auch regelmäßig über einer „perfekten“ Ästhetik – wobei Kamerun natürlich weiß, dass die Verklärung des Unperfekten, Spontanen, auch des bewusst Dilettantischen mittlerweile zum Ideenarsenal des Neoliberalismus gehört und die Beuys’sche Idee, dass jeder ein Künstler sei, heute terroristische Züge angenommen hat. So mag das Miteinander der Mitwirkenden hier vielleicht schlicht wirken, doch gerade in seiner Schlichtheit ist es eben extrem aufwendig zu bewerkstelligen. Und es kann sehr schnell geschehen, dass alles fürchterlich schiefgeht, dass sich beispielsweise Schauspieler mit ihren üblichen Sprechund Sendetechniken gnadenlos gegen die mögliche Vielstimmigkeit durchsetzen und die chorischen Momente der Bühneninstallationen brutal ersticken. Und doch: Gerade im Vergleich zu vielen anderen Theaterprojekten mit sogenannten „Laien“, die den immer ratloseren Stadttheatern häufig als Alibi dienen, um ihren angeblichen Willen zur Partizipation zu demonstrieren, gibt es auch in Kameruns schwächeren Arbeiten zuverlässig einen Augenblick, in dem die Utopie der physischen Verabredung ihre Kraft entfalten kann.

Sicher kann man darüber spekulieren, inwiefern diese Qualität mit Kameruns grundsätzlicher Unabhängigkeit vom Theaterbetrieb zusammenhängt, mit seiner Außenperspektive, die er sich trotz langjähriger Theatererfahrung bewahrt hat. Kamerun spricht in diesem Zusammenhang jedenfalls von einer „Naivität“, die ihn immer wieder frisch anfangen lasse und ihn nach wie vor neugierig auf sein jeweiliges Gegenüber mache. Und wirklich ist seine ganze Herangehensweise von dieser Neugier geprägt: Seine Stücke, die sich häufig auf konkrete Umgebungen und unmittelbare Anlässe beziehen, ohne dabei journalistisch zu werden, basieren immer wieder auf ausführlichen Gesprächen und Interviews mit den Beteiligten; aus diesen Dokumenten entstehen Texte und auch Bühnenlieder, bei denen es Kamerun vor allem darauf ankommt, sie nicht als Produkt des einen Autors auszugeben. Stattdessen weisen sie sich deutlich als zusammengesetzt aus; Zitat und Wiederholung sind ihre wichtigsten Mittel – Mittel also, die seit Andy Warhol oder eben Rolf Dieter Brinkmann zur Popästhetik im besten Sinn gehören. Wobei Kamerun gerade durch das Moment des Zitathaften darauf beharrt, dass „Pop immer zu spät kommt“. Es geht also gerade nicht um ein Theater, das Pop sein möchte, indem es ungebrochene Gegenwartsbehauptungen aufstellt oder „die Bühne rocken“ will. Dem steht schon das Sperrige, Hämmernde der Bühnenkompositionen entgegen, die manchmal serielle Techniken aufnehmen, manchmal auch von ferne an Hanns Eisler erinnern und insgesamt recht wenig mit klassischen Popsongs zu tun haben. (14 Bühnenlieder aus den letzten zwei Jahren sind übrigens gerade unter dem Titel „Der Mensch lässt nach“ als eigene CD erschienen; siehe dazu auch die Songtextkritik auf S. 24.)

Nimmt man all das zusammen, dann ist es vielleicht nicht zu weit hergeholt, in Kameruns „Naivität“ eine Haltung zu erkennen, die der französische Philosoph Gilles Deleuze 1990 in einem Interview auf die Formel „An die Welt glauben“ brachte: „Der Glaube an die Welt ist das, was uns am meisten fehlt; wir haben die Welt völlig verloren, wir sind ihrer beraubt worden. An die Welt glauben, das heißt zum Beispiel, Ereignisse hervorzurufen, die der Kontrolle entgehen, auch wenn sie klein sind, oder neue Zeit-Räume in die Welt zu bringen, selbst mit kleiner Oberfläche oder reduziertem Volumen.“ Doch diese Worte haben auch in einem anderen Sinn etwas mit Kamerun zu tun. Denn Deleuze äußerte sie vor dem Hintergrund seiner Suche nach Begriffen für einen gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch, dessen Konturen sich bereits 1990 deutlich anzeigten und der mittlerweile Alltag ist: Unter dem Stichwort des Übergangs von „Disziplinar-“ zu „Kontrollgesellschaften“ diagnostizierte Deleuze eine radikale Krise der althergebrachten Institutionen wie Schule, Universität, Fabrik und Familie (und gerade in Deutschland wäre auch das Stadttheater zu ihnen zu zählen). Ihre Apparate würden einer Reform nach der anderen unterworfen, während es in Wahrheit nur noch darum gehe, „ihre Agonie zu verwalten“. Und zugleich würden neue, gesichtslose Kräfte und „Kontrollsprachen“ die einstmals geschlossenen Milieus dieser Institutionen aufbrechen, um die Unternehmensform noch in die privatesten Beziehungen und Verhältnisse eindringen zu lassen.

 

Wo das Unnormale das Normale ist

Fast 25 Jahre später weiß man nur zu gut, wie das prototypische Mitglied der Kontrollgesellschaften aussieht: Es ist vernetzter und zugleich vereinzelter denn je, versucht, sich durch eine Landschaft aus Institutionen zu hangeln, die aus dem letzten Loch pfeifen; zugleich steht es unter dem beständigen Druck, sich in schlecht bis nicht bezahlten Jobs selbst zu verwirklichen, und weiß keinen konkreten Adressaten, an den sich ein wirksamer Protest richten könnte. Der alltägliche Irrsinn dieser subjektiven Verfassung ist nun aber tatsächlich eines der großen Themen Schorsch Kameruns: Wie entgeht man der Erschöpfung, in die der permanente Imperativ, unkonventionell und „kreativ“ zu sein, notwendig führt? Was kann die Abweichung von der Norm in einer Gesellschaft bedeuten, in der seit Langem schon „das Unnormale das Normale“ ist (wie es in Kameruns Konzertinstallation „Sender freies Düsseldorf“ heißt)? Und welche möglichen Widerstandsformen sind in dieser Situation denkbar? Immer wieder arbeitet Kamerun sich daher am Thema des Aufstands und seinen Sackgassen ab, befragt noch einmal historische Formen der Rebellion – wie in seinem Münchner Theaterkonzert über die Dichter der Räterepublik (2009), zu dem es übrigens auch ein schönes Gespräch mit Alexander Kluge gibt – und bezieht sich mit Brinkmann auf einen Poeten, der bereits um 1968 die Alltagshöllen erahnte, in die die Umwendung vom Industrie- zum Konsumkapitalismus führen musste.

Natürlich entspringt die gesteigerte Aufmerksamkeit für die Schwierigkeiten der kontrollgesellschaftlichen Einrichtungen auch Kameruns (künstlerischer) Biografie. Schließlich hat er speziell im Umfeld der Hamburger Hafenstraße in den achtziger Jahren die Gesten des politischen Protests oder einfach nur der Provokation gut genug kennengelernt, um beurteilen zu können, was an ihnen nicht mehr greift. Oder wie Kamerun häufig sagt: Der Punkgestus hatte sich spätestens in dem Moment erledigt, als die erste CDU-Politikerin mit roten Haaren im Bundestag auftauchte. Wie verzwickt die Situation indes wirklich ist, wird dann spürbar, wenn Kamerun, der ja einer der Protagonisten der Gegenkultur ist, bei einer Podiumsdiskussion in Oberhausen empört erklärt, das Centro, das nicht nur die dortige Innenstadt endgültig ruiniert hat, sondern auch noch die Unverfrorenheit besitzt, seine „Coca-Cola-Oase“ als öffentlichen Raum anzupreisen, sei „heute die Gegenkultur“. Und nicht minder seltsam fühlt es sich an, wenn er anschließend gegen diesen Unort den staatlichen Bildungsauftrag des Stadttheaters verteidigt, obwohl er mit dessen feudal-hierarchischer Organisation und künstlerischer Ödnis durch und durch hadert. Aber auch das gehört zu den Widersprüchen, aus denen Kamerun seine Abende baut – und die einem im Übrigen niemals die Naivität rauben sollten, die es braucht, um „an die Welt zu glauben“. //

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