Essay
Der Krieg und die „Kulturrevolution“
Der Angriff auf die Ukraine ist auch ein Feldzug gegen die russische Kultur und das Theater
Das Theater in Russland erlebte bis zum 24. Februar 2022 eine Blütezeit. Vielfalt der Formen bei guter Finanzierung und Attraktivität für internationale Regisseure – das alles ist in kürzester Zeit in einer Art beschleunigtem Stalinismus vernichtet, so die frühere Direktorin des NET-Festivals in Moskau und Chefredakteurin der Zeitschrift Teatr Marina Dawydowa, die diesen Beitrag im Berliner Exil schrieb.
von Marina Dawydowa
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)
Assoziationen: Europa Dossier: Ukraine

Wenn wir über den Krieg in der Ukraine sprechen, ist es sehr wichtig zu verstehen, dass Russland am 24. Februar nicht nur die Ukraine angegriffen hat. Es hat auch sich selbst angegriffen. Wir beobachten gerade in Echtzeit die Zerstörung nicht nur eines, sondern gleich zweier Länder.
In einem (der Ukraine) werden kontinuierlich und hemmungslos Infrastruktur zerstört und Menschen getötet, im anderen (Russland) passiert etwas, das ich als eine humanitäre Katastrophe bezeichnen würde: Vor unseren Augen werden mit unfassbarer Geschwindigkeit die Humanities im weitesten Sinne vernichtet: Kunst, Wissenschaft, Bildung, Medien, Einrichtungen sozialer Hilfe usw.
Aus geopolitischer und wirtschaftlicher Sicht ist der Krieg gegen die Ukraine für Russland, das über ein riesiges Gebiet und genügend Rohstoffe verfügt, vollkommen sinnlos. Deswegen muss sich der Kreml immerzu neue Rechtfertigungen einfallen lassen. Mal schützen wir die Kinder im Donbass, mal kommen wir einem Angriff durch den ukrainischen Militarismus zuvor, mal verteidigen wir unsere traditionellen Werte vor dem unheilbringenden Westen, mal etablieren wir eine neue Weltordnung, in der für eine Hegemonie der USA kein Platz sein wird. Die Propagandisten der staatlichen Medien kommen schon selbst ganz durcheinander und widersprechen sich, indem sie banale Logik durch hochtrabendes Pathos ersetzen.
Doch betrachtet man die Ereignisse des letzten halben Jahres durch das Prisma eines Krieges im Inneren, bei dem sich Russland selbst angegriffen hat, wird klar, warum einem wesentlichen Teil unserer Gesellschaft und auch einem wesentlichen Teil der Kulturszene der Krieg gegen einen äußeren Gegner gelegen kommt und sogar nützt. Dann erschließt sich, wer (außer Putin und den Geheimdiensten) der größte Nutznießer ist.
Von Alters her war Russland eine Art Kentaur. Sein politisches System, das sich unter dem Tatarenjoch herausbildete, erinnerte an östliche Despotien, während es kulturell seit Peter dem Großen (1682–1735) westlich orientiert war.
Diese Ausrichtung konnte nicht einmal die bolschewistische Revolution von 1917 brechen. Musiker:innen, Künstler:innen, Schriftsteller:innen und Philosoph:innen, die die neue Macht ablehnten, verließen massenhaft das Land (Sergej Rachmaninow, Iwan Bunin, Fjodor Schaljapin, Vladimir Nabokov, Marina Zwetajewa – Legion ist ihr Name) oder wurden gezwungen, es zu verlassen. Eines der aufsehenerregendsten Ereignisse einer solchen Ausweisung ist das berühmte „Philosophenschiff“, eine Sammelbezeichnung für einige Schiffe, auf denen 1922 zahlreiche oppositionelle Vertreter aus Wissenschaft, Kultur und Bildung in die Verbannung gingen, unter ihnen auch einige Vertreter der russischen religiösen Renaissance. Ihre Plätze an den Universitäten, Museen und Konservatorien nahmen Menschen aus dem Milieu der Arbeiter und Bauern ein oder den Bolschewiken ideologisch nahestehende Figuren der neuen „sowjetischen Intelligenzija“.
Dieser radikale „Wechsel der Eliten“ änderte aber nichts an der europäischen (westlichen) Ausrichtung der russländischen Kultur.
Die Sowjetregierung entzog den Einwohnern ihres Landes sogar die kleinen politischen Freiheiten, die es im Zarismus gegeben hatte, doch gegenüber den Strömungen der Avantgarde war sie anfangs ausgesprochen tolerant. Und die sowjetische Avantgarde existierte nicht nur innerhalb der europäischen Trends, sie bestimmte sie und war ihnen voraus. Man denke nur an Meyerhold und Malewitsch oder das Pendant zum europäischen Dadaismus: die große Vereinigung der Oberiuten und solche Genies wie Alexander Wwedenski und Daniil Charms.
Der Erste, der die bereits erwähnte Diskrepanz zwischen den Vektoren der kulturellen und der politischen Entwicklung beseitigen konnte, war Stalin. Er war es, der erstmals in der Geschichte nicht nur einen sowjetischen Totalitarismus auf die Spitze trieb, sondern auch die russländische Kultur von der westlichen abschottete und sie in die Untiefen des provinziellen Archaismus stürzte. Solch eine dezidierte Trennung vom Westen im Bereich der Kunst gab es zum ersten Mal seit Peter dem Großen. In dieser Hinsicht war die Opposition zwischen den wilden Zwanzigern der Avantgarde und den finsteren stalinistischen Dekaden sogar größer als die Opposition zwischen dem zaristischen und dem bolschewistischen Russland.
Die gegenwärtige Kulturrevolution geschieht buchstäblich nach stalinistischem Beispiel
Im politischen Sinne verwandelte sich Russland seit 2012 rapide in eine typische asiatische Despotie, bei der sich der Bereich der politischen Freiheiten zusammenzog wie Chagrinleder. Aber in kultureller Hinsicht hatte es sich gerade in den letzten zehn Jahren zunehmend in Europa integriert. Bis zum 24. Februar bezeichnete man Moskau, ohne zu zögern, als eine der Kulturhauptstädte der Welt. Bei der Anzahl der interessanten Premieren, Ausstellungen, Konzerte, internationalen Festivals hatte Moskau in den 2010ern Berlin, Paris, Rom, Wien usw. weit überholt.
Aber auch jenseits von Moskau und St. Petersburg florierte das russländische Theaterleben in den letzten Jahren. Vertreten waren jegliche performing arts – vom contemporary dance bis hin zum neuen Zirkus. Soziales, visuelles, immersives, inklusives, feministisches Theater – das alles war in den unendlichen Weiten des Landes zu finden, das in den Totalitarismus schlidderte.
Neben den kostspieligen futuristischen Opern eines Andrej Mogutschi am Großen Dramatheater in Petersburg gab es Kammerspiele in Wohnungen (ein herausragendes Stück war Boris Pawlowitschs „Studien der Angst“, entstanden auf Grundlage von Materialien zu den Oberiuten). Neben Beispielen des dokumentarischen Theaters konnte man atemberaubende Spaziergänge durch die Hinterhöfe Petersburgs und die Welt des Graffiti erleben (Kirill Ljukewitschs „Der Mann in der Maske“). Neben mehrstündigen Erzählungen eines Boris Juchananow, eines Gurus des Autorentheaters, gab es Low-budget-Projekte des horizontalen Theaters (zu den besten gehört „Universität der Vögel“, das in einer Theatersprache die Ideen Bruno Latours verhandelt).
Diese Theaterrenaissance erinnerte stark an die 1920er, in denen die Vernichtung politischer Freiheiten der Blüte der Kunst nicht im Wege gestanden hatte. Man kann mit Gewissheit behaupten, dass unsere Kultur zwei Mal in die westliche maximal integriert war: in den 1920ern und vor dem Krieg 2022.
Am 24. Februar hat sich die Situation schlagartig geändert.
Verblüffend ist das Tempo, mit dem die Vernichtung von allem vorangetrieben wird, was Russland auf irgendeine Weise Teil der westlichen Kulturlandschaft sein lässt. Sogar Genosse Stalin brauchte für die Provinzialisierung der sowjetischen Kultur und ihre Abschottung hinter dem Eisernen Vorhang zwei Jahrzehnte. Dieser Prozess begann 1929 (im sogenannten Jahr des großen Umbruchs) und endete Anfang der 1950er, als alles Lebendige Säuberungen zum Opfer gefallen war: das Meyerhold-Theater, Alexander Tairows Moskauer Kammertheater, Solomon Michoels Staatliches Jüdisches Theater Moskau und führende absurde Theater im gesamten Land. Sowie überhaupt alles, was auf „-ismus“ endete.
Die Terminatoren von heute bewältigten diese Aufgabe in nur wenigen Monaten, aber wenigstens ohne Blutvergießen.
Die wichtigsten Institutionen der modernen Kunst (vom Gogol Centre bis hin zum Meyerhold-Zentrum oder dem Zentrum für Dokumentarfilm) wurden de facto vernichtet. Theaterhäuser, die gerade erneuert worden waren, wie das Sowremennik, das mit Wiktor Ryshakow vor Kurzem einen neuen talentierten Intendanten bekommen hatte, wurden der Führung beraubt. Die
Zahl herausragender Regisseur:innen, Drehbuchautor:innen und Dramaturg:innen, die das Land verlassen, wächst jeden Tag: Kirill Serebrennikow, Dimitri Krymow, Rimas Tuminas, Timofei Kuljabin, Wera Martynow, Xenija Peretruchina, Maxim Didenko – diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.
Noch vor Kurzem arbeiteten Thomas Ostermeier, Robert Wilson und Robert Lepage am Theater der Nationen, und das Stanislawski-Elektrotheater arbeitete mit Romeo Castellucci und Heiner Goebbels zusammen. Jetzt erscheint das wie eine ferne, unwiederbringliche Vergangenheit.
Noch vor Kurzem lief in Moskau das Stück „Gorbatschow“ des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis, prominent besetzt mit Jewgenij Mironow (als Michail Gorbatschow) und Chulpan Chamatowa (als Raissa Gorbatschowa). Heute lebt Chamatowa, die öffentlich ihren Protest gegen den Krieg bekundet hat, in Riga, wo sie mit Hermanis zusammenarbeitet. Ihr Bühnenpartner Mironow hingegen ist künstlerischer Leiter des Theaters der Nationen und ging, um diesen Posten zu behalten, einen Kompromiss mit der Regierung ein und übernahm die Leitung des Theaters im besetzten und zerbombten Mariupol. Hermanis hat sich von Mironow distanziert, genau wie von seinen anderen Moskauer Theaterfreunden, die in Russland geblieben sind. Michail Gorbatschow, ein Symbol der Perestroika und Glasnost, ist gerade gestorben. Eine Aufnahme des ins Nichts verschwundenen Theaterstücks kursiert im Netz als Zeugnis einer unwiederbringlich verlorenen Vorkriegszeit.
Zu der endgültigen Säuberung des russländischen Theaters verhalf der Krieg. Bis zum 24. Februar war es nicht möglich, kulturelle Verbindungen mit dem Westen für rechtswidrig zu erklären. Wie sehr die politische Freiheit in Russland auch eingeschränkt wurde, im Bereich der Kultur und Wissenschaft galten diese Verbindungen als selbstverständlich, und sogar die größten Patrioten unter den Politikern besuchten gern Stücke eines Wilson oder eines in Ungnade gefallenen Serebrennikow (bei der Aufführung von „Nurejew“ im Bolschoi Theater applaudierte Kremlsprecher Dmitri Peskow aus der zweiten Reihe).
Jetzt lässt sich jeder Mensch, der in Richtung der EU oder der USA blickt, leicht zum Landesverräter erklären und ihm ein Theater, Ausstellungssaal, eine Universitätsstelle oder Konzertmöglichkeit nehmen. Früher war es noch ein Traum von Obskurantisten, heute ist es legitime Praxis. Ein nach Westen hin orientierter Überbau, der riesig, mächtig und überlebensfähig geschienen hatte, ist in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus. Plötzlich wurde vollkommen offensichtlich, wie fragil er gewesen war und wie sehr er im Widerspruch zur Lebensweise des restlichen Landes und zu den Anforderungen der Theaterszene selbst gestanden hatte. Ohne das stillschweigende Einverständnis dieser Szene wäre eine solche Säuberung „von den Verrätern“ nämlich wohl kaum möglich gewesen.
Stücke von in Ungnade gefallenen Regisseur:innen und Dramaturg:innen verschwinden gleich beim ersten Hinweis der Regierung von den Spielplänen. So wurden die Stücke von Iwan Wyrypajew gestrichen, der sich gegen den Krieg ausgesprochen hat. Sie liefen an Dutzenden (!) russischen Theatern. Und das geschah im Bruchteil einer Sekunde, ohne den geringsten Versuch von Widerstand oder irgendein Zeichen der Solidarität.
Es festigt sich der Eindruck, dass viele Menschen in der Kulturszene nicht nur von Angst bestimmt werden, sondern von etwas, das weitaus schlimmer ist als Angst: Ressentiment, welches auch die Politik unseres Landes auf der internationalen Bühne bestimmt.
Solange die russländische Kultur in den westeuropäischen und überhaupt internationalen Raum integriert war, war eine große Armee an Theatermacher:innen nicht konkurrenzfähig – in Russland waren das Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Menschen. Ihnen blühten keine internationalen Gastspiele, Einladungen zu renommierten Festivals oder das Interesse der Kritiker:innen, die auf diesen Festivals verkehren.
Die gegenwärtige Migrationswelle wird oft mit der ersten Welle nach der Revolution verglichen. Doch die vorrevolutionäre Intelligenzija, deren zahlreiche Vertreter:innen gezwungen waren, Russland nach 1917 zu verlassen, wurden von nicht weniger talentierten Künstler:innen der Avantgarde abgelöst. Das, was jetzt passiert, ist eine Kulturrevolution der Nichtigen. Sie sind die Nutznießer der Krieges. Und das sind viele.
Im Übrigen bediente sich die stalinistische Kulturrevolution desselben Schemas. Auch sie war eine Revolution der Mittelmäßigkeit. Diese dominierte. Während jeder außergewöhnliche Mensch ihnen mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit zum Opfer fiel. Um zu überleben, musste er entweder tief im Untergrund verschwinden oder sich vollständig anpassen, sprich nicht mehr er selbst sein.
Aus ideologischer Sicht wirkten die stalinistischen Kultursäuberungen paradox. Waren doch die meisten Vertreter:innen der Avantgarde – Meyerhold, Babel, Malewitsch – Anhänger:innen des Bolschewismus und nicht seine Gegner. Aber sie wurden, wie ich sagen würde, nicht aus politischen, sondern aus ästhetischen Gründen vernichtet.
Die Sowjetunion der 1920er erinnert gewissermaßen an Deutschland der Weimarer Zeit. Eine solche künstlerische Freiheit und Produktivität wie in den 1920ern in Deutschland und in der Sowjetunion gab es wohl nirgends auf der Welt.
Aber wenn die 1920er in Sowjetrussland an die Weimarer Republik erinnert, woran erinnert dann das Russland der 1930er mit seiner neu interpretierten Idee des Imperiums, mit seinem neuen Puritanismus, vor allem aber mit seinem Hass auf alle avantgardistischen Trends?
Betrachtet man die Stalin-Zeit durch das Prisma ihres Verhältnisses zur Kultur und des verbitterten Kampfes gegen die „degenerative Kunst“, ist offensichtlich, dass in der UdSSR nach 1929 kein linkes, sondern ein ultrarechtes Projekt umgesetzt wurde. Nur mit linken Parolen. Eine faschistische Ideologie erwuchs im gegebenen Fall aus einer faschistischen Ästhetik. Genau so, und nicht andersherum. Denn der Faschismus ist immer ein Triumph der Mittelmäßigkeit und der totale Sieg des durchschnittlichen spießbürgerlichen Geschmacks. Genau solch einen Triumph beobachten wir gerade im Putin’schen Imperium. Die wahren Nutznießer sind hier nicht nur Leute vom mächtigen KGB, sondern auch eine Unmenge von talentlosen Tölpeln aus den Humanities.
Manchmal scheint es mir sogar, dass dieser Krieg nicht für einen Sieg an der Front begonnen wurde, sondern für eine innere Revanche der Menschen, denen allein die Möglichkeit, in einer freien Welt zu leben, widerstrebt. Ist die russische Armee auch sehr weit von einem Sieg gegen die Ukraine entfernt, so haben im Inneren die Anhänger der Isolation praktisch schon gewonnen.
Ein Paradox besteht nur darin, dass die Rufe von der anderen Seite der Grenze, Russland zu isolieren und auch seine kleine prowestlich eingestellte Intelligenzija auszuschließen, genauso nachdrücklich klingen. Die Verfasser dieser Apelle scheinen nicht zu verstehen, dass das Wasser auf die Mühlen des schlimmsten Teils der russischen Gesellschaft ist, der nicht nur eine politische, sondern die totale Isolation des Landes herbeisehnt.
Dank ihnen steht eine westlich ausgerichtete Entwicklung der russländischen Kultur zum zweiten Mal in der Geschichte in Zweifel. Diese fragile Brücke, die das riesige Land über Jahrhunderte mit der zivilisierten Welt verbunden hatte, droht wieder – diesmal vielleicht unwiederbringlich – zerstört zu werden. //
Aus dem Russischen von Maria Rajer