Protagonisten
Einmal Welt, bitte
Intendantin Karin Becker und ihr Team wagen bei ihrem Neustart in Konstanz die direkte Konfrontation über das Spiel mit der eigenen Existenz
von Bodo Blitz
Erschienen in: Theater der Zeit: Wir sind die Baumeister – Ein Schwerpunkt über Theater und Architektur (11/2020)
Assoziationen: Akteure Theater Konstanz
Die Eröffnungspremiere einer neuen Intendanz gleicht einem Spießrutenlauf. Programmatisch soll sie sein, und das auf doppelte Weise: ein inhaltliches wie ästhetisches Ausrufezeichen. Intendantin Karin Becker und ihr Team haben sich für Hans Falladas letzten Roman entschieden. „Jeder stirbt für sich allein“ setzt dem Widerstand in schweren politischen Zeiten ein Denkmal. Die Intendantin lässt an der Aktualität des Stoffes keinen Zweifel: „Uns ist dieser Auftakt mit Fallada sehr wichtig. Gerade weil die Demokratie erneut unter Druck gerät.“
Schirin Khodadadian betont mit ihrem klugen Inszenierungsbeginn die Perspektive von uns Jedermännern und -frauen. Das wird im Bühnenbild von Carolin Mittler unmittelbar einsichtig. Auf einer ansteigenden, schrägen Fläche setzt sich das Zuschauerparkett gespiegelt fort. Der Auftritt des Ensembles erinnert an einen hektischen Kampf um die angeblich besten Plätze. Aber wo sind diese zu finden? Weiter hinten? Ist nicht die Nachbarschaft entscheidend? Nach wiederholtem Umsetzen sind Falladas Figuren endlich platziert. Die anfängliche Passivität bedeutet jedoch keinen dauerhaften Schutz vor den Fallstricken der Aktivität. Zudem: Ist passives Verhalten zu bestimmten Zeiten nicht gleichbedeutend mit einer gefährlichen Form von unterlassener Aktivität? Genau das erfahren Falladas Protagonisten, Frau und Herr Quangel. Die Feldpost vom Fronttod ihres einzigen Sohnes wird zum Wendepunkt ihrer vorherigen politischen Indifferenz. Beide sind klug genug, sich mit der Formel vom Heldentod fürs Vaterland nicht abspeisen zu lassen. Anna Quangel geht noch einen Schritt weiter. Sie stellt alltägliches Mitläufertum und damit auch ihren Mann Otto radikal infrage. Und Otto versteht sofort. Er muss seine gewohnten Wege verlassen, wenn er Anna als Partnerin nicht verlieren möchte. Es beginnt ein Widerstand, der sich aus privatem Leid entwickelt. Otto Quangel schreibt Postkarten, die den Krieg der Deutschen und auch Hitler mit deutlichen Worten kritisieren. Er verteilt sie überall in Berlin.
Tatsächlich wurde das Berliner Ehepaar Hampel im Jahr 1942 für dieses symbolische Tun vom Nazi-Regime hingerichtet. Jenen Kern des historisch Verbürgten lässt Fallada in seiner epischen Skizze der Quangels unangetastet. Darin lauern allerdings die Fallstricke des Dokumentarischen. Zur Stärke der Konstanzer Inszenierung gehört, dass an Falladas Sockel lehrreicher Epik durch vielfältige Differenzen auf der Ebene des Spiels gerüttelt wird. Dadurch entsteht Mehrstimmigkeit. Das hängt mit Luk Percevals kluger Fassung zusammen, die hier verwendet wird. Jede Figur wechselt darin permanent zwischen Er- und Ich-Form. Die Heterogenität des Erzählteppichs nimmt in Kodadadians Regie noch zu. Häufig wird etwas ganz anderes gespielt als erzählt. Otto Quangel etwa berichtet in Er-Form davon, dass seine Frau beim Lesen der Todesnachricht mit dem Kopf vornüber schlägt. In dieser Szene sitzt Katrin Huke als Anna Quangel aber aufrecht. Sie zerreißt den Brief Stück für Stück in kleine Papierschnipsel. Diese souveräne spielerische Distanzierung vom Erzählbericht steht für Annas klaren Widerstandswillen. Ihr Mann Otto wird ihre Position teilen, und das, ohne dabei sein Wesen der Unauffälligkeit preiszugeben. Wie Sebastian Haase über sein zurückhaltendes, beherrschtes und bescheidenes Spiel diesen Otto verkörpert, ist beinahe filmisch und große Schauspielkunst.
Vieles an dieser Eröffnungsinszenierung liest sich wie ein verheißungsvolles Versprechen. „Alles aus sich selbst heraus“, so formuliert Chefdramaturgin Doris Happl das inszenatorische Grundprinzip. Das gilt insbesondere für die Musik. Statt digitaler Einspielung performen und singen die Schauspieler. Dieses Primat der Bühne bedeutet einen Verzicht auf Illusionstheater. Dafür werden die Zuschauer auf der Ebene von Situationskomik und Artistik entlohnt. Ja, diese Inszenierung von Alltagstragik unterhält. Ingo Biermann als Kommissar Escherich legt den nihilistischen Kern seiner Figur bis zum Exzess offen. Sein expressives Spiel wäre komödiantisch, wenn der dabei zutage tretende Opportunismus nicht so traurig wäre. Und doch, trotz aller unbestreitbaren Vorzüge, entgeht die Konstanzer Inszenierung am Ende nicht der Gefahr des Dokumentarischen. Die Auserzählung der Hinrichtung sorgt für eine auch ermüdende Dominanz des Epischen. Dabei bleibt die lange Zeit durchgehaltene Ästhetik der Differenz auf der Strecke. Die Botschaft schien zu wichtig.
Theater pur bietet auch die Eröffnungsinszenierung des Jungen Theaters. Dort stellt sich Kristo Šagor gleich doppelt vor, als Leiter der Sparte sowie als regieführender Autor seines neuen Stückes „Nibelungenleader“. Multiperspektivität schafft Šagor in seiner Stückfassung dadurch, dass jede seiner sechs Figuren auch als Erzähler auftritt. Kritische Sichtweisen auf Herrschaft und Geschlechterverhältnis strukturieren den Abend. Besonders an dieser Erzählkonstruktion ist, dass neben Siegfried, Gunther, Hagen, Kriemhild und Brunhild auch Etzel von Anfang an Teil des Spiels ist. Kriemhilds Weg zu Etzel (Thomas Fritz Jung) wird dadurch verständlicher. Darf Kriemhild an Etzels Hof blutige Rache üben, weil Etzel ihre Perspektive vollständig einzunehmen vermag? In Konstanz könnte man das annehmen.
Šagor verhebt sich nicht am ungeheuerlichen Sagenstoff – vielleicht auch deshalb, weil er auf kausale Neuinterpretationen verzichtet. Er interessiert sich vor allem dafür, wie etwas spielbar bleibt. Mit einfachsten Requisiten werden fabelhafte Situationen angedeutet, entstehen Drachen, lässt sich Unsichtbarkeit imaginieren. Mehr als eine Menge Holzlatten braucht es dazu nicht. Das Ensemble tritt permanent aus den eigenen Rollen heraus. Wiederkehrende Fragen strukturieren dann die rasche Narration: Was ist ein König? Was ist Liebe? Šagors Erzählprinzip gleicht in Ansätzen der frechen Art und Weise, mit der Schriftsteller Michael Köhlmeier antike Sagen vor dem Hintergrund des Existenziellen durchleuchtet. Die Konstanzer Inszenierung hat zudem keine Scheu vor Typisierungen. Gunther (Ioachim-Wilhelm Zarculea) bleibt auch bei Šagor der tollpatschige Versager, welcher er schon in der Fassung von Moritz Rinke war. Julian Mantajs Siegfried muss seinen Horizont der unmittelbaren Tat nicht überschreiten. Jonas Pätzold darf Hagen eifersüchtig spielen. War er als Kind nicht selbst in Kriemhild verliebt? Das Ensemble nutzt solche eingängigen Zuspitzungen auch für blitzartige Spielszenen nahe am Theatersport. Und doch kommt die kritische Reflexion nicht zu kurz. Bineta Hansen als Kriemhild und Johanna Link in der Rolle der Brunhild wirken nicht nur gedanklich weiter, als ihre Rollen es zulassen. Ihr dominantes und herausragendes Spiel sorgt auf der Bühne für Gleichberechtigung.
Teamorientiert tritt Karin Becker auf. Zehn Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles unter Vorgänger Christoph Nix konnten bleiben. Kommunikation nach innen wie außen ist Programm. Sie steht bei Philipp J. Ehmanns immersivem Theaterprojekt „Generation Extinction“ im Zentrum. Sechs Zuschauerinnen und Zuschauer werden zu kriminalistischen Recherchen an vier Orten in der Konstanzer Innenstadt eingeladen. Sie begeben sich im Wortsinn auf Spurensuche einer jungen Protagonistin. Deren Kampf um das Klima droht ins Radikale zu kippen. Dabei kommunizieren die Zuschauer miteinander, entdecken Hinweise in den grandios ausgestatteten Bühnenräumen, lesen schriftliche Dokumente, sortieren Bilder, erhalten per Funkgerät Informationen. Ehmanns Plot ist allerdings zu eindimensional auf einen angeblichen Entscheidungszwang der Aktivistin angelegt: Soll sie ein Kraftwerk lahmlegen oder einen Politiker attackieren? Den Zuschauern bleibt die direkte Begegnung mit Figur und Schauspielerin jenseits des Akustischen zudem verwehrt. Es dominiert die Ästhetik des indirekten Verweises. Insofern sehnt man sich an diesem Abend nach all dem, was der Auftakt in Konstanz ansonsten zu bieten hatte: direkte Konfrontation über das Spiel mit der eigenen Existenz. //