Theater der Zeit

Nachruf

Der begnadete Erzähler

Zum Tod von Wolfgang Kohlhaase, Drehbuchautor von Weltrang

von Claus Löser

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Akteure

„Solo Sunny“ hat längst Eingang ins Theater gefunden. Hier in der letzten Spielzeit am Mecklenburgischen Staatstheater SchwerinFoto: Silke Winkler

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Am 30. September war er noch auf der Preisverleihung der DEFA-Stiftung in der Akademie der Künste zu erleben, am 2. Oktober sogar noch auf einer Lesung mit Jutta Hoffmann in Neuhardenberg: Wolfgang Kohlhaase, etwas schmaler vielleicht als sonst, etwas gebückter auch, aber sonst mit wachem Blick wie stets. Man hatte sich trotz des hohen Alters an s­eine Anwesenheit gewöhnt, die Möglichkeit seines plötzlichen Wegbleibens verdrängt. Nun erweist sich die Annahme, ihn immer wieder irgendwie, irgendwo, irgendwann wiedererleben zu können, als Trugschluss. Am 5. Oktober 2022 ist der Schriftsteller und Drehbuchautor in Berlin verstorben. Nie mehr werden seine rhetorische Schlagfertigkeit und die geschliffene Rede erlebbar sein. Denn dieser Mann war ein begnadeter Erzähler, und das gleich auf mehreren Ebenen. Egal ob in kleiner Runde oder in offiziellem Rahmen – jeder seiner Sätze fiel verbal so plastisch und so klar formuliert aus, dass er ohne Korrekturen sofort hätte gedruckt werden können. Dies reproduzierte sich in anderer Dimension auch in seiner Profession: dem Erzählen fürs Kino. Es gab und gibt in Deutschland kaum einen weiteren, derart präzis und ökonomisch erzählenden Filmautor.

Geboren 1931 in Berlin-Adlershof, die Mutter Hausfrau, der Vater Schlosser. Schon als Schüler Reportagen für die Jugendzeitschrift Tempo, später für die Junge Welt und andere Blätter. Bereits 1950 folgten dramaturgische Arbeiten für die DEFA, da war er gerade 19 Jahre alt. Ab 1952 wurde er als Autor freischaffend, seit 1954 als Verfasser von Drehbüchern für Spielfilme. Daneben entstanden Erzählungen, Romane, Hörspiele. Bis in die jüngste Zeit hinein arbeitete er kontinuierlich in seinem Hauptberuf als Filmautor. Er wurde darüber nie zum Vielschreiber, blieb aber stets vielbeschäftigt. Nach 1990 war er quasi der einzige ostdeutsche Filmkünstler, dem der Übergang vom volkseigenen zum marktwirtschaftlichen Kino mehr oder weniger nahtlos glückte. Sowohl in der DDR als auch nach der Wiedervereinigung wurde er dafür verehrt und geehrt.

Fakten sind schnell aufgezählt. Wie aber lässt sich das Phänomen Kohlhaase beschreiben? Der beste Weg einer Annäherung besteht in der Wiederbegegnung mit seinen Filmen, beginnend mit den frühen Arbeiten ab 1954. Es war der Ausnahmeregisseur Gerhard Klein, der das Talent des damals gerade 23-Jährigen frühzeitig erkannte. In symbiotischer Kooperation entstanden bis 1965 fünf durchweg sehenswerte Arbeiten. Am berühmtesten wurde 1957 „Berlin – Ecke Schönhauser…“, einer der schönsten Hauptstadtfilme überhaupt. Im Vorspann nannte sich der junge Szenarist damals noch Kohlhaas, ohne „e“ am Ende. Mit dem Weglassen eines Buchstabens formulierte er seinen an Heinrich Kleist angelehnten, unbedingten Gerechtigkeitssinn. Beseelt vom Geist des italienischen Neorealismus, entwarf er ein ganz anderes Bild der DDR-Jugend, als bis dahin in FDJ-Broschüren propagiert wurde. Zwar erzählte die Geschichte dann doch von einer erfolgreichen Resozialisierung. Aber Gestus und Setting des Films wurden in ihrer Lässigkeit als ein höchst ungewöhnliches Signal wahrgenommen. Innerhalb weniger Wochen wollten rund zwei Millionen Zuschauer diese Tabubrüche auf der Leinwand miterleben. Klein aber wurde 1958 auf einer Filmkonferenz der SED vorgeworfen, er arbeite nach bürgerlichen Maßstäben. Sein Nachfolgeprojekt „Berlin um die Ecke“ wurde 1965 verboten. Gerhard Klein verstarb 1970 im Alter von nur 50 Jahren.

Die Begegnung mit Konrad Wolf half Kohlhaase wenig später aus dem Karriereknick. Umgekehrt fand der Regisseur im fünf Jahre jüngeren Autor einen ­idealen Partner. Ihre gemein­same, im persönlichen Erleben Wolfs wurzelnde Arbeit am Kriegsdrama „Ich war 19“ (1968) verlief kongenial. Der differenzierte Blick auf Opfer und Täter war neu im ostdeutschen Kino. Wolf und Kohl­haase drehten gemeinsam vier Filme, ihre letzte gemeinsame Arbeit war 1980 „Solo Sunny“. Heute gilt diese Geschichte um eine renitente Tingeltangel­sän­gerin als eine der wichtigsten DEFA-Produktionen überhaupt. Die bis heute an­dauernde Le­bendigkeit des Stoffs speist sich einerseits aus Kohlhaases genauer Beobachtungsgabe (zahlreiche Handlungsmomente und auch die ­Figur der Sunny selbst stammen aus den Erlebnissen einer realen Person), andererseits aus dem Vermögen des Autors, diese Konstellation künstlerisch zuzuspitzen und damit zu sublimieren. Dokumentarische Verfahren ­waren seine Sache nicht, wohl aber die Aneignung und Umwandlung der Wirklichkeit in künstlerisches Material, mit dem sich spielen und arbeiten ließ. Dies führte auch dazu, dass die Personage zwar überaus lebensnah erschien, dabei aber doch nahezu archetypische Ausformungen annehmen konnte. Erinnert sei an die Figur des Hinterhof-Philosophen Ralph (Alexander Lang) oder an die des glücklosen Verehrers Harry (Dieter Montag). Das Vermögen, konkrete und dabei doch ­modellartige Menschen und Beziehungen zu entwerfen, macht wohl auch das unerwartete Theater-Nachleben von „Solo Sunny“ aus. Mehrere aktuelle Bühnenadaptionen zeigen, dass die Selbstbehauptungskämpfe einer DDR-Chanteuse durchaus jüngeren Genera­tionen etwas zu sagen haben.

Theaterstücke selbst reizten das krea­tive Interesse Kohlhaases ansonsten nicht direkt. Seine Funktion als Zulieferer für Filme spielte er gern etwas herunter, wusste allerdings immer ganz genau, was er da tat. Er bezeichnete seine Szenarien einmal als Zwischenprodukte, denen selbst keine literarische Dimension zukomme. Dieses Understatement ist in einer von viel Geld und noch mehr Eitelkeiten geprägten Branche mehr als selten. Welch titanischer Akt diese Zulieferung von Material an einen Regisseur bedeuten muss, lässt sich vielleicht anhand von Kohlhaases Adaption des Romans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge erahnen. Aus der mehr als vierhundert Seiten umfassenden, auf mehreren Kontinenten und Zeitebenen spielenden Familiensaga destillierte er ein neunzigminütiges Kammerspiel. Kein Satz war hier zu viel oder zu wenig. Ruges Roman wurde inzwischen mehrfach für die Bühne adaptiert. Die dabei praktizierte ­Reduktion des Stoffes wurde ganz offenbar von Kohlhaases Bearbeitung inspiriert, auch wenn diese namentlich nicht erwähnt wird. „Möglicherweise wird Prosa von vorn nach hinten geschrieben, Theaterstücke von hinten nach vorn, es braucht einen anderen Plan.“ Vielleicht stand Kohlhaase mit dieser Haltung dem Theater doch näher als vermutet.

Zurück zum Kino. Nach der Zusammenarbeit mit den älteren Kollegen Klein und Wolf setzte Anfang der achtziger Jahre eine Kooperation mit Frank Beyer ein. Die beiden waren nahezu gleichaltrig. Auf einen Roman Hermann Kants gestützt, entwarfen Kohlhaase und Beyer mit „Der Aufenthalt“ das spannende Psychogramm eines „ganz normalen“ Wehrmachtsangehörigen, der plötzlich in den Verdacht gerät, an Massenexekutionen beteiligt gewesen zu sein. Aufregend ist dieser Film bis heute geblieben: wegen seiner Konzentration auf einen inneren Konflikt inmitten einer sich gerade radikal umgestaltenden Außenwelt, wegen der Ambivalenz seiner Figuren und, nicht zuletzt, wegen des Spiels von Sylvester Groth in der Hauptrolle. 1989 war es vorbei mit der DDR. Die DEFA bestand zwar noch nominell bis 1992, bot aber keine künstlerische Perspektive mehr. Kohlhaase trat im Jahr 2000 erstmals wieder als Kinoautor ins Licht einer größeren Öffentlichkeit. Im Terroristen-Aussteigerdrama „Die Stille nach dem Schuss“ war seine typische Handschrift allerdings kaum spürbar, zu stark wirkten die ­Zentrifugalkräfte des Routiniers Volker Schlöndorff. Fünf ­Jahre später begann dann die fruchtbare künstlerische Kol­la­boration mit Andreas Dresen. Nun war Kohlhaase plötzlich der Seniorpartner. Gemeinsam schufen sie bis 2015 drei Arbeiten, von denen „Whisky mit Wodka“ sicher die schönste geworden ist. Kohlhaase und Dresen gelang das Kunststück, das eigentlich als Kassengift geltende Film-im-Film-Thema in eine traurige Komödie zu kleiden, die gleichzeitig als lustige Tragödie funktionierte – eine höchst gegenwärtige, voller Lebensweisheiten steckende Parabel auf Eitelkeit, Liebe und Tod. Mit Wolfgang Kohlhaase verliert das deutsche Kino und die kulturelle Landschaft allgemein nun eine ihrer wichtigsten Stimmen. Seine Filme bleiben. Wenn er auch selbst meinte, dass die schönsten Filme die gedachten sind. //

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