Theater der Zeit

«die zukunft kuratieren»

Brigitt Bürger und Peter Fischer haben sich mit ihrer Kulturinitiative in der Helferei eingenistet

von Valeria Heintges

Erschienen in: Zwischen Zwingli und Zukunft – Die Helferei in Zürich (09/2022)

Assoziationen: Schweiz

«Angstkörper – Körperangst» (Brigitt Bürgi), 2020, Helferei Zürich
«Angstkörper – Körperangst» (Brigitt Bürgi), 2020

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Der Mantel ist gross und weit, die Schleppe – ­sicherlich zehn Meter lang – reicht einmal quer durch die Helferei-Kapelle. Lilian Frei sieht herrschaftlich aus, auch wenn Mantel und Schleppe nur aus Seiten aktueller internationaler Zeitungen bestehen. Wie eine Königin schreitet die Performerin die Stufen von der Kapelle zur Münster­gasse herab. Auf dem Kopf ein riesiger goldener Hut, hoch wie eine Bischofs-Mitra, gerollt wie ein Zylinder ohne Krempe. Golden auch die hoch­hackigen Stiefeletten, purpurrot Oberteil, Rock und Strumpfhose. Mit unverwandtem Blick hält Frei ihre Botschaften dem Volk vor Augen. «Sei kein Frosch», befiehlt der Text auf einem Blatt. «MACHT (es) jetzt!», der auf einem anderen. Andere sind stiller, verkünden: «If you have a solution, dream it» oder «Ich bin ein blühender Garten».

Es sind die auf Blätter gedruckten Antworten anderer Künstler:innen auf den Corona-Lockdown, die Lilian Frei in ihrer Performance «Passa­parola» (etwa: gib das Wort weiter) erst dem Publikum zeigt, dann verteilt. Blätter, die wie ihre Schleppe vom Wind verweht werden. Die Künstlerin beginnt, sich in ihre Papierschleppe zu verhüllen, sie dabei zu verknüllen. Schliesslich zündet sie die Zeitungsseiten an, giesst die Asche mit Wasser zu einem grauen Matsch und schliesslich zu einem (verblüffend) kleinen Ball. Viel bleibt von den Neuigkeiten des Tages nicht übrig, aber Neues kann daraus entstehen.

«Die Kunst hat die Kraft der Verwandlung. Sie kann Dinge ausdrücken, über die wir alle stolpern», sagt Brigitt Bürgi. «Sie kann Momente schaffen, in denen sich alles auflöst, in denen man aufatmen, verschnaufen kann.» Zudem, sagt Peter Fischer, Bürgis Partner im Leben und der Kunst, spiele Lilian Frei bewusst mit der Geschichte des Helferei, dem Platz, wo sich die Helferei in die Stadt öffnet.

«Passaparola» ist eine typische Arbeit für die Anliegen der Initiative und des Netzwerks «die zukunft kuratieren», die die Künstlerin Bürgi und der Kurator Fischer ins Leben gerufen haben. Dahinter verbirgt sich eine «interdisziplinäre Reihe mit ­wegweisenden, zumeist performativ und partizipativ angelegten Veranstaltungen», unter anderem ­zusammen mit der Helferei, wie die Website ­diezukunftkuratieren.ch verkündet. Sie wurde von Andreas Weber umgesetzt, dem stilleren, aber nicht minder wachen Dritten im Künstler-­Zukunftstrio.

Ein Zuhause in der Helferei

«Wir wollen Kunst sichtbar machen», sagt Bürgi, «mit der Kraft der Kunst Fragen in die Gesellschaft tragen.» Im Februar 2021 hat «die zukunft kuratieren» in der Helferei ein Zuhause und einen ­Kooperationspartner gefunden. Seither wurde hier im Zeichen dieser Kooperation etwa im 1. Zürcher Klima-Café die Nachhaltigkeit in der Kunst diskutiert, haben Design-Studierende der Zürcher Hochschule der Künste unter dem Titel «On Moving and Waiting» in Zusammenarbeit mit dem Projekt «Art Stands with Refugees» des UNHCR Schweiz einen partizipativen Parcours zu Themen wie Flucht, Migration und Identität durch das ganze Haus gelegt. Und Peter Fischer, ehemals Direktor des Zentrums Paul Klee und vorher des Kunstmuseums Luzern, hat in einem Vortrag ein «Zurückblicken auf Kommendes» gewagt.

«Als am 16 März der Lockdown begann, waren wir in den Ferien im Engadin», erinnert sich Brigitt Bürgi an die Anfänge. «Wir wussten sofort: Jetzt ist nicht die Zeit, um Cüpli zu trinken, jetzt müssen wir etwas tun.» Und wenn Brigitt Bürgi und Peter Fischer sagen, sie müssen etwas tun, «dann tun wir es auch». Mit Visarte Schweiz, dem Berufsverband der visuellen Künstlerinnen und Künstler als Partner riefen sie einen «Corona-Call» aus. 680 Werke wurden eingegeben – «ein eindrückliches künstlerisches Zeugnis der ersten Lockdown-Erfahrungen», sagt Peter Fischer. Das nächste Projekt, von Brigitt Bürgi entwickelt, hiess «Angstkörper – Körperangst». Es ging von dem Gefühl aus, dass sich in der ­Pandemie der eigene Körper zur Bedrohung für ­andere entwickelt hatte. «Als nur Gruppen von maximal fünf Menschen zusammen erlaubt waren, sind wir halt nur mit fünf Menschen auf die Strasse gegangen – aber wir haben es gemacht», sagt Bürgi. Fünf Körper in fünf riesigen, gelben Hüllen bewegten sich auf einem «Stationenweg», so der Titel der Arbeit, langsam, trudelnd, un­sicher, mäandernd vor den geschlossenen Zürcher Kulturhäusern. Die erste Station der Route: Rodins «Höllentor» vor dem Kunsthaus. Die zweite: das Kulturhaus Helferei. Es folgten weitere, aber die Helferei blieb singulär: Denn sie war nicht geschlossen. Im Gegenteil: Begeistert empfing Martin Wigger die gelb gewandeten Kunstschaffenden – der Beginn einer wunder­baren Freundschaft.

Nicht allein die Zukunft kuratieren

Schon der Titel «die zukunft kuratieren» liess ­Martin Wigger hellhörig werden, vereinen doch die Übersetzungen des lateinischen Wortes ­«curare» – Sorge tragen, sich kümmern, sich angelegen sein lassen, eine Brücke schlagen, pflegen, verwalten – alle Aspekte, die das Wesen der Helferei ausmachen. «Martin ist ein zutiefst künstlerischer Mensch», sagt Brigitt Bürgi, «er lebt und ist Kunst. Sein Verständnis und seine Leidenschaft für Kunst passen perfekt zu uns.» Auch der offene Geist der Helferei begeistert sie: «Die Zukunft ­kuratieren, das kann man nicht allein, das muss man miteinander machen.»

Bürgi schätzt das Kulturhaus Helferei als Ort der Begegnung; man treffe hier auf ein viel breiteres Publikum als etwa typischerweise in Museen. Für ihre Mitmachaktion «Dein Zukunftsbild» bat sie Menschen, ein Foto aus dem Speicher des eigenen Smartphones auszuwählen, das Aspekte der Zukunft in sich trage. Sie sprach an, wen sie in der Helferei traf, im Foyer, in der Bibliothek, bei Veranstaltungen oder auf der Gasse vor dem Haus. «Viele haben sich gefreut, angesprochen zu werden», erzählt sie. «Dank dem kirchlichen Konnex der Helferei kann ich hier problemlos ernste Themen angehen, es wundert niemanden, wenn man in die Tiefe geht.»

So paradox die Bezeichnung «die zukunft kuratieren» anmuten mag, Brigitt Bürgi und ­Peter Fischer meinen es sehr ernst. «Mit der ­Zukunft verbindet man derzeit ausschliesslich ­Risiken», sagt Fischer. «Kunst kann als Disziplin Erkenntnis generieren, wie die Wissenschaft oder auch die Religion. Nicht nur, wenn sie sich politisch oder vielleicht als grün positioniert, sondern in der ihr eigenen Art, wie sie etwas in die Welt setzt und in einer Offenheit agiert.» ­Brigitt Bürgi ergänzt: «Was wir heute machen, gestaltet morgen unsere Zukunft. Wir arbeiten mit Menschen zusammen, fordern sie heraus, geben Inputs. Mit allen Altersgruppen, zu Themen, die jetzt brennen.»

Oft laden sich die beiden Gäste ein, etwa Valerie Favre, die in Neuchâtel aufwuchs und nach einer Karriere als Schauspielerin und Malerin in Paris derzeit an der Universität der Künste Berlin als ­Professorin für Malerei lehrt. Für ihre Langzeit­performance «Le martyre de la main gauche» liess sie sich den rechten Arm auf den Rücken binden, beraubte sich sozusagen selbst ihrer Stärke. Sie war gezwungen, jenseits der Voraussehbarkeit ­Risiken einzugehen und ihre «Fragilität als Künstlerin», so ihre eigenen Worte, «weiter­zu­ent­wickeln». Sechs Tage liess sich Favre durch ein ­kleines ­Guckloch im Fenster zur Strasse sowie per Live-Webcam beim Malen dabei zusehen, wie sie ­versuchte, dennoch ihr Leben, ihre Kunst zu ­verfolgen.

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