Auftritt
Kassel: Jagd nach dem verlorenen Glück
Staatstheater Kassel: „Lucky Happiness Golden Express“ (UA) von Noah Haidle. Regie Thomas Bockelmann, Bühne Etienne Pluss, Kostüme Ulrike Obermüller
Erschienen in: Theater der Zeit: Philipp Hochmair: Ein Mann, alle Rollen (11/2013)
Assoziationen: Staatstheater Kassel
Glück, Glück, Glück, Glück, Glück. Man kann sich gar nicht retten davor, wenn Hotels „El Dorado“ heißen und selbst ein schäbiges Chinarestaurant als „Lucky Happiness Golden Express“ das Megasuperglück verheißt. „Life can be so sweet“, haben Louis Armstrong und Frank Sinatra gesungen, „on the sunny side of the street.“ Das klingt froh und ist doch eher die Anleitung zum Unglücklichsein: Die Sonnenseite, das ist immer die andere. Wo man nicht ist, aber unbedingt hinwill. Andrew hat den Songklassiker zur Hymne seiner Familie gemacht; er hat ihn seiner Frau in der Hochzeitsnacht vorgesungen und sie später den beiden Töchtern. Mit Erfolg, muss man sagen: Seine Frau Vivian hat ihn vor langen Jahren verlassen, weil sie meinte, nicht genug lieben zu können. Die Töchter sind neurotisch. Und er selbst jagt noch im Sterbebett dem verlorenen Glück hinterher.
Mit „Lucky Happiness Golden Express“, das, inszeniert von Intendant Thomas Bockelmann, jetzt zum Spielzeitauftakt am Kasseler Staatstheater uraufgeführt wurde, hat der junge US-amerikanische Dramatiker Noah Haidle ein klug komponiertes Stück über Glück und Unglück vorgelegt – und über die Macht, die eine verklärte Vergangenheit über das Leben gewinnen kann. Haidle, geboren 1978, stammt aus Michigan, wo die siechende Autoindustrie Stadt um Stadt sterben lässt, wo die Zukunft allenfalls noch die Erinnerung an bessere Zeiten verspricht. Und der vergebliche Versuch, Vergangenes festzuhalten, treibt auch die Figuren in vielen seiner Werke an.
In der Hollywood-Komödie „Stand Up Guys“ (2012) mit Al Pacino und Christopher Walken (die freilich so sehr floppte, dass sie hierzulande gar nicht erst in die Kinos kam) wollen es gealterte Gangster noch einmal richtig krachen lassen. In „Skin Deep Song“, das im Februar in Essen uraufgeführt wurde, beschwören zwei Schwestern im rituellen Nachspielen die Erinnerung an ihre gemeuchelten Eltern. Und „Saturn kehrt zurück“, als deutschsprachige Erstaufführung vor einem Jahr in Nürnberg gezeigt, ist der Lebensrückblick eines einsamen Greises, der zwischen den Geistern seiner Vergangenheit lebt.
Nun also „Lucky Happiness Golden Express“. Im Chinarestaurant dieses glücksübersättigten Namens verspeist Andrew (gespielt von einem berührenden Jürgen Wink) seit Jahr und Tag dasselbe Tagesgericht. Und träumt seinen immer gleichen Tagtraum, den er mit Personal und Gästen der Asia-Kaschemme besetzt und der ihm seine glückliche Familie zurückgeben soll. Den erlösenden Kuss mit Vivian hat ihm Noah Haidle da allerdings längst spendiert, schon in der ersten Szene, die gleich zweimal zu sehen ist. Es ist der innige Kuss einer dementen Dame und eines schlaganfallgelähmten Patienten, in buchstäblich letzter Sekunde: Nur wenige Augenblicke später wird der Senior von seinem Schwiegersohn mit einem Kissen erstickt. Man hat schon kitschigere Happy Ends gesehen.
„Woher hätte ich es wissen sollen?“, fragt Andrew. Und meint: dass jedes Glück zerbricht. Die Antwort gibt ihm Vivian (wundervoll schwebend zwischen Koketterie und Senilität: Karin Nennemann) am Krankenbett: „Hätten wir aufgehört, wenn wir es gewusst hätten? Wahrscheinlich nicht.“ Gehört hat sie die Frage allerdings nicht: Als sie spricht, ist von Andrew nur Gebrabbel zu hören. Doch danach beginnt die gesamte Szene noch einmal von vorn. Diesmal mit dem inneren Monolog des plötzlich sehr lebendigen Andrew.
Das alles ist unendlich bitter, zugleich aber auch irgendwie heiter und nicht selten sogar sehr komisch. Gekonnt spielt Haidle mit Zeitebenen, lässt Realität und Erinnerung ineinanderfließen. Die alte Vivian beobachtet und kommentiert ihre eigene Hochzeitsnacht; als glückliches junges Paar fungieren dabei dieselben Schauspieler, die zuvor als verbitterte Tochter und tumber Schwiegersohn noch tief im Eheelend steckten (Christina Weiser und Bernd Hölscher).
Der Autor hat Thomas Bockelmann den „Beginn einer künstlerischen Freundschaft“ in Aussicht gestellt – „unless you don’t fuck up my play“. Wenn du mein Stück, nun ja, nicht vor die Wand fährst. So jedenfalls hat es der Intendant einmal erzählt. Und er hat sich an die Anweisung gehalten. Es ist eine folgsame Inszenierung, bis auf einige gut beseitigte Redundanzen sehr nah am Text. Einziges Minus: Das geradezu wirklichkeitsfanatische Bühnenbild von Etienne Pluss soll wohl Anleihen machen bei den Gemälden von Edward Hopper, gemahnt jedoch eher an Kinokulissen. Und ist dem Raffinement des Stücks damit wenig angemessen. //
Joachim F. Tornau