Protagonisten
High Noon
In seiner ersten Spielzeit als Intendant des Burgtheaters Wien wettert Martin Kušej gegen Populisten, Elfriede Jelinek beklagt die FPÖ und der Chor unfaire Arbeitsbedingungen
Erschienen in: Theater der Zeit: Russian Underdogs – Victoria Lomasko und Kirill Serebrennikov (03/2020)
Assoziationen: Akteure Burgtheater Wien
Die Frontlinie war klar. Aber der Feind, nun ja, wurde zwar nicht endgültig in die Flucht geschlagen, hat aber eine empfindliche Niederlage erlitten. Gut zwei Wochen nach den ersten Premieren am Burgtheater Wien unter der Intendanz von Martin Kušej stand in Österreich die Nationalratswahl an. Eine abermalige Regierungsbeteiligung der FPÖ schien nicht ausgeschlossen – trotz der Ibiza-Affäre um (den inzwischen ehemaligen) Parteiobmann Heinz-Christian Strache, die die Koalition der Rechtspopulisten mit der ÖVP zu Fall gebracht hatte. Es kam dann doch anders. Die Wähler straften die FPÖ an der Urne ab. ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz regiert nun mit den Grünen. Für Kušej bedeutete das erst mal Entwarnung. Im Interview zum Amtsantritt (siehe TdZ 09/2019) hatte er sich vorsorglich schon mal auf einen „steifen Wind“ nach der Wahl gefasst gemacht. Und wirklich, es wäre spannend gewesen zu beobachten, wie lange die FPÖ als Regierungspartei dem Treiben unter Kušej im österreichischen Nationalheiligtum Burgtheater tatenlos zugesehen hätte. Aus der Opposition heraus sind die Blauen hingegen bisher nicht mit Protestnoten vorstellig geworden. Die Partei scheint vorerst mit sich selbst beschäftigt.
Dabei unternahm das Burgtheater unter Kušej so einiges, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – zuletzt mit der Uraufführung von Elfriede Jelineks jüngstem Textflächendrama „Schwarzwasser“. Darin arbeitet sich die Literaturnobelpreisträgerin an eben jener Ibiza-Affäre ab. Das entlarvende, heimlich aufgenommene Video, in dem HC Strache machtgeil und unverblümt seine Bereitschaft zum Totalausverkauf der Heimat an eine vermeintliche russische Oligarchennichte an den Tag legte, ist für Jelinek aber nur die Spitze des, pardon!, Scheißbergs, der aus einer stinkenden Kloake voller Fäkalien ragt (daher der Titel). Die Autorin watet tief hinein in den österreichischen Politsumpf, denn im Morast des Schwarzwassers gedeiht das Virus des Rechtspopulismus prächtig und entfaltet eine ähnlich ansteckende Wirkung wie der Dionysos-Kult im antiken „Bakchen“-Drama des Euripides, das Jelinek als Folie dient. In dem „jungen Gott“, dem hier alle folgen, ist unschwer Kanzler Kurz zu erkennen, der der Ausbreitung des Virus durch seine Mitte-Rechts-Koalition Vorschub leistete.
Im Wiener Akademietheater schickt Uraufführungsregisseur Robert Borgmann Schauspieler Felix Kammerer als Kurz-Double im stylischen Slim-Fit-Anzug und mit charakteristisch zurückgegeltem Haarschopf auf die Bühne, dem später ein Chor aus Lookalikes in hündischer Ergebenheit hinterherhechelt. Gleichwohl ist Borgmann erkennbar (und letztlich etwas überambitioniert) darum bemüht, mit seiner Inszenierung nicht im Politkabarett stecken zu bleiben. Jelineks sich assoziativ fortentwickelnde Gedankenkette reichert er mit eigenen Bildassoziationen an. Manche davon verrätseln den Text eher zusätzlich, als dass sie ihn aufschlüsseln würden. In den stärksten Momenten aber setzt Borgmann der Vorlage beinah schon zynisch böse Spitzen auf, etwa wenn er den Chor aus Schauspielstudierenden mit Zahnbürsten den Bühnenboden schrubben lässt. Dabei tragen sie keineswegs Davidsterne (wie im „Dritten Reich“ die Juden, die zu solchen demütigenden Verrichtungen gezwungen wurden), sondern trachtenähnliche Gewänder. Teile der österreichischen Gesellschaft haben sich immer schon gern zum eigentlichen Opfer der NS-Diktatur stilisiert. Strache knüpfte an diese unselige Tradition auf perfide Weise an, als er bereits 2012 die FPÖ angesichts von Protesten gegen einen Burschenschafts-Ball zur Zielscheibe von Hetze erklärte: „Wir sind die neuen Juden.“ Nach dem Ibiza-Skandal mimte er einmal mehr das Opfer hinterhältiger Fallensteller. In der Wiener „Schwarzwasser“-Uraufführung klagt denn auch Martin Wuttke (geschminkt wie Batman-Gegenspieler Joker und flankiert von der ihn stolz präsentierenden Caroline Peters als Erzschurkin Poison Ivy) wunderbar weinerlich, „Wir haben die Kamera nicht gesehen!“, um sich alsbald in die schrille Tonlage seiner Hitler-Figur aus Brechts „Arturo Ui“ hineinzuschrauben, die er am Berliner Ensemble perfektioniert hat.
Daneben gibt es viel zu sehen, aber nicht immer zu verstehen bei Borgmann: Bezopfte Blondinen (BDM-Mädels oder juvenile Jelinek-Wiedergängerinnen?), einen rosa Gorilla (ein Verwandter des bei Nazis so beliebten Pink Panther?), dazu Schnee- sowie Videogestöber und einiges mehr. Fürs Auge jedenfalls ist mehr als genug geboten, der Kopf kommt nicht immer hinterher. Auf jeden Fall aber erfüllt die Inszenierung den Anspruch Martin Kušejs, einen „komplexen Diskurs“ am Burgtheater zu führen. Bei aller Eindeutigkeit der politischen Stoßrichtung: Plattes Agitprop-Theater sieht definitiv anders aus als diese Jelinek-Uraufführung.
Ein populistisches Arschloch
Wie Kušej selbst die Art von Theater, die ihm vorschwebt, interpretiert, zeigte er an Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“, einem Drama mit schwieriger Rezeptionsgeschichte. Kleist schrieb sein Stück über den Cherusker-Fürsten Hermann (unter dessen Führung die Germanen den Römern im Teutoburger Wald eine vernichtende Niederlage zufügten) 1808, als Deutschland besiegt von Napoleons Truppen darniederlag. So ließ sich die „Hermannsschlacht“ als nationaler Weckruf lesen. Zur NS-Vereinnahmung gut ein Jahrhundert später war es da kein weiter Weg. Für Kušej ist dieser Hermann daher mitnichten ein Nationalheld, sondern ein „populistisches Arschloch“, der den Römern Gräueltaten in die Schuhe schiebt, die er selbst an den eigenen Landsleuten verüben lässt, um gegen den Feind aufzuwiegeln. Markus Scheumann spielt diesen Volksverhetzer als keineswegs hitzigen, vielmehr eiskalten Strategen, arrogant im Auftreten, aber nie großspurig. So entsteht zwar ein stimmiges Figurenporträt, aber das schauspielerische Understatement, das mit dieser Charakterzeichnung einhergeht, ist nicht dazu angetan, den weiten Raum der enormen Burgtheaterbühne zu füllen. Dass Kušej seinem Ensemble offenbar ein zerdehntes Spieltempo verordnet hat, sorgt auch nicht gerade für Spannung. Und erst recht nicht, dass die Germanen hier mit zottigen Langhaarmähnen als allzu leicht manipulierbare Marionetten des Strippenziehers Hermann auftreten.
Dabei kehrt Kušej zwischendurch sehr wohl den Regie-Kraftmeier heraus und setzt auf starke Zeichen. Die Bühne von Martin Zehetgruber ist ein Geröllfeld aus Wellenbrechern, die wie Wurzelstöcke gefällter Bäume eines gerodeten Teutoburger Betonwalds aussehen. Ein Bild kriegerischer Verwüstung. Der abgehackte Kopf eines Römers und die blutigen Reste einer zerstückelten Frauenleiche werden auf die Bühne geschleppt. Nervenkitzel aber bleibt bloße Behauptung der Schauermusik von Bert Wrede, mit der weite Teile des Abends unterlegt sind. Am Schluss treten der siegreiche Hermann und seine Gefolgsleute, eingekleidet wie Korpsbrüder einer Studentenverbindung auf. So schlägt Kušej den Bogen von der Entstehungszeit des Stücks in die Gegenwart. Damals, während der napoleonischen Fremdherrschaft, wurde die Idee der deutsch-völkischen Burschenschaften geboren. Mit der FPÖ sind sie bis heute verbandelt.
Kušej präsentierte sich dem Wiener Publikum als regieführender Burgtheater-Direktor übrigens erst Ende November mit eigener Neu-Inszenierung. Davor zeigte er Regiearbeiten, die er von seiner alten Wirkungsstätte, dem Münchner Residenztheater, mitgebracht hatte. Zum Beispiel seinen gelungenen Versuch, Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ dem pointenseligen Edel-Boulevard zu entreißen, indem er den Zimmerschlacht-Klassiker in ein frostiges Whiskyflaschen-Scherbengericht verwandelte.
Den Vortritt zum Auftakt aber überließ er anderen – unter anderem dem israelischen Regisseur Itay Tiran, der als Schauspieler auch Ensemblemitglied am Burgtheater ist. Kušejs erklärtes Ziel ist kosmopolitisches Theater. Begriffe wie „Nationaltheater“ und „Burgtheater-Deutsch“ sind ihm ein Graus. Das landauf, landab viel gespielte Stück „Vögel“ von Wajdi Mouawad ist da natürlich genau der richtige Stoff, erzählt es doch in vier Sprachen – Englisch, Deutsch, Hebräisch und Arabisch – über das konfliktträchtige Aufeinandertreffen von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion.
Ausgangspunkt ist die Begegnung von Eitan und Wahida in New York. Er ist Sohn einer jüdischen Familie aus Deutschland, der in den Vereinigten Staaten studiert; sie Amerikanerin mit arabischen Wurzeln. Die beiden verlieben sich ineinander, sehr zum Missfallen von Eitans Vater, dem Sohn eines Holocaust-Überlebenden. Mouawads Stück ist ein Well-made-Play, in dem die Last der Vergangenheit und die Konflikte der Gegenwart eng miteinander verwoben sind.
In Tirans Inszenierung schaffen vier mit atmosphärischen Mustern, Nachrichtenbildern und Stadtkulissen bespielte, verschiebbare Videowände wechselnde Raumsituationen. Das ermöglicht fließende Übergänge zwischen den unterschiedlichen Schauplätzen der Handlung, die zwischen New York, Berlin und Jerusalem switcht. Dass Tiran mit dieser glatten Ästhetik und Dramaturgie (die freilich in Mouawads Stück angelegt ist) Sehgewohnheiten bedient, die am Fernsehkonsum geschult sind, ist sicher nicht nach jedermanns Geschmack. Gespielt wird im Modus des Psychorealismus eines wenig innovativen TV-Mehrteilers.
Ulrich Rasche dagegen, der die Intendanz Kušejs am Burgtheater mit den „Bakchen“ des Euripides eröffnete, scheint Realismus fremd. Er setzt auf monumentale Überhöhung, wozu er, als sein eigener Bühnenbildner, gigantische Bühnenmaschinen entwirft. In diesem Fall handelt es sich um drei riesige Laufbänder. Gegen eines davon marschiert Franz Pätzold anfangs einsam an wie der Erzschurke, der zu High Noon in die Westernstadt einzieht. Pätzold spielt Dionysos, den Gott des Rausches, auch Bakchos genannt, der gekommen ist, um sich „sein Land zurückzuholen“. In den Bakchen findet er rasch fanatische Gefolgschaft. Ähnlich wie Elfriede Jelinek in „Schwarzwasser“ bedient sich Ulrich Rasche des Klassikers, um sich mit dem Populismus der Gegenwart auseinanderzusetzen. Pentheus, der Herrscher von Theben, ist bei Euripides eigentlich ein kalter Technokrat. Rasche jedoch kehrt die Verhältnisse um; wo zunehmend mit gefühlten Wahrheiten argumentiert wird, erscheint kühle Rationalität wohltuend. Folglich ist Felix Rech als Pentheus hier die Stimme der Vernunft. Ein aufrechter Demokrat, der zum Showdown mit Massenverführer Dionysos antritt, munitioniert mit Worten, die nicht durchweg mit der Rasche-typischen chorischen Wucht skandiert werden, sondern immer wieder auch in ruhiger Eindringlichkeit. So wirkt diese Inszenierung nicht allein durch Überwältigungsmomente, sondern erzeugt einen mitunter subtilen Sog.
Unfair Play
Monate nach der Premiere sorgte die Aufführung in Wien noch einmal für mediale Aufregung, allerdings nicht, weil sich FPÖ-Politiker empörten, sondern der 15-köpfige Chor. Dreihundert Euro Bruttogage zahlt das Burgtheater pro Spieler und Vorstellung. Bei drei bis vier Einsätzen im Monat kommt da keine Summe zusammen, von der es sich gut leben lässt. Das Problem ist, dass es das Burgtheater den Choristen schwermacht, andere Engagements einzugehen, um ihre Bezüge aufzubessern, weil die Spieltermine immer erst mit sechs Wochen Vorlauf bekannt gegeben werden. Bis dahin dürfen die Chormitglieder keine anderen Verabredungen eingehen. Das Burgtheater erklärt, das sei gängige Praxis. Tatsächlich aber disponieren viele Theater den Spielplan einer Saison komplett durch. So wissen alle Beteiligten weit im Voraus, wann sie frei für andere Aufgaben sind. Das Burgtheater dagegen scheint die kurzfristige Planung vor allem zugunsten seiner Ensemblestars zu favorisieren, die sich ungern frühzeitig festlegen. Es kann ja immer mal ein lukrativer Dreh daherkommen, den man absagen müsste, wenn schon ein Auftrittstermin am Theater im Kalender steht. So räumt die Sechs-Wochen-Regelung den Stars Freiheiten ein, während sie die der Choristen beschneidet.
Im neuen Kabinett von Kanzler Kurz gibt es jetzt eine Kulturstaatsministerin von den Grünen. Ulrike Lunacek hat sich unter anderem das Thema „Fair Play“ im Kulturbetrieb auf die Fahnen geschrieben. Gut möglich, dass sich da bald eine ganz andere Frontlinie auftut als die, mit der Martin Kušej in Wien ursprünglich gerechnet hat. //