Auftritt
Staatstheater Karlsruhe: Vom prekären Leben im Hendl-Paradies
„Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Johannes Hofmann nach Ödön von Horváth – Regie Tom Kühnel, Komposition und Musikalische Leitung Johannes Hofmann, Bühne Valentin Köhler und Helena du Mesnil de Rochemont, Kostüme Ulrike Gutbrod
von Elisabeth Maier
Assoziationen: Theaterkritiken Musiktheater Baden-Württemberg Tom Kühnel Badisches Staatstheater Karlsruhe

Im Walzertakt ist die Welt noch in Ordnung. Davon wusste Johann Strauß schon 1868 mit seiner Komposition „Geschichten aus dem Wienerwald“ ein Lied zu singen. Die dunkle Seite des vermeintlichen Heimatidylls zeigt Ödön von Horváth in seinem gleichnamigen Volksstück auf. Das Drama, 1931 in Berlin uraufgeführt, zeichnet die Not der kleinen Leute in Zeiten der Weltwirtschaftskrise und des bedrohlich erstarkenden Faschismus nach. Damals wie heute dominierte Zukunftsangst den gesellschaftlichen Diskurs. Tom Kühnel klopft die Geschichte der Protagonistin Marianne nicht nur auf ihr aktuelles Potenzial ab. Johannes Hofmanns Pop-Oper spielt am Staatstheater Karlsruhe mit der Musikalität der Horváth’schen Vorlage.
„Heute bleibt die Küche kalt, wir essen heiß im Wienerwald.“ Im Trachtenanzug betritt Timo Tank die Bühne. Der Schauspieler trällert den legendären Werbeslogan aus den 1950er- und 60er-Jahren. Dieser Ohrwurm erzählt ein Stück Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der Unternehmer Friedrich Jahn feierte mit seinen Schellrestaurants Erfolge. Auch die breite Masse konnte sich mit den Hendl vom Band Luxus gönnen – wenigstens einen kleinen. In der Rolle des Vaters, der seine Tochter Marianne möglichst solide verheiraten will, zieht Tank sämtliche Register der Ironie. Eiskalt verkauft er das eigene Kind für sein Hendl-Imperium, das am Ende doch nur ein Franchise-Abklatsch mit prekären Jobs ist.
Wie einst Jahn mit seiner „Wienerwald“-Kette, macht dieser Leopold sein Geschäft mit den Träumen der kleinen Leute vom Fast-Food-Luxus. Solche Parallelen reizen Regisseur Tom Kühnel und sein Team mit viel Witz aus. Valentin Köhler und Helena du Mesnil de Rochemont zitieren im Bühnenbild die legendäre Hendl-Kette. Sacht verfremdet ist das gelbe Huhn auf grünem Hintergrund. Die Polster des Lokals, in dem ein Großteil der Handlung spielt, sind mit stilechtem Stoff überzogen. Die Uniformen der Hendl-Kette kontrastiert Ulrike Gutbrod mit schrillen Accessoires wie Herzbrillen und mit Goldfarbe bedruckte Hochzeitsschärpen.
Doch die Corporate Identity stimmt eben nicht ganz. Jedes zweite Huhn auf dem Musterstoff steht Kopf. Das gilt auch für Johannes Hofmanns großartige Partitur. Der Komponist spielt mit musikalischen Motiven der Pop-Kultur. Die verpackt er in moderne Arrangements – und erforscht mit der Pop-Oper ein ungewohntes Genre. Anklänge an Soul, HipHop und die Hits der Neuen Deutschen Welle sind in den Ohrwürmern zu erkennen. Die arrangiert Hofmann ebenso harmonisch wie mitreißend. Als Theaterkomponist hat er an großen Häusern gearbeitet. Dass alle Dialoge gesungen werden, verblüfft das Publikum. Die Härte von Horváths Sprache gewinnt so eine Tiefenschärfe, die in den schroffen Dialogen des Textes verloren geht. In den Moll-Melodien offenbart sich die Sehnsucht der Menschen nach Liebe und nach einem besseren Leben.
Allen voran lebt Marianne diese Leidenschaft. Sie hat nichts Besseres gelernt, als im Restaurant zu bedienen. Swana Rode schlägt in der komplexen Frauenrolle verblüffende Töne an. Mit schnodderiger Miene kämpft sie sich durchs Leben. Diese starke Frau, die vor Leidenschaft glüht, ist alles andere als das Opfer, als das Horváth Marianne zeichnete. Rode lacht, schreit und zelebriert die Befreiung ihres Körpers wie ein Fest. Dabei tanzt die Schauspielerin auf einem Vulkan. Kriegsangst und die Folgen der Wirtschaftskrise schnüren ihr die Kehle zu. In einem Tanzlokal muss sie für sich und ihr Kind den Unterhalt verdienen. Mit einer wunderschönen akrobatischen Einlage am Seil verleiht Rode auch diesem Abstieg eine zauberhafte Größe.
Der Gauner Alfred, dem sie ihre Liebe und ihr Leben schenkt, benutzt sie nur für seine nackten Triebe. Jannek Petri interpretiert seine Rolle so widerwärtig und kalt, wie sie angelegt ist. Doch eine Alternative hat Marianne nicht. Der Metzger Oskar, mit dem ihr Vater sie verheiraten will, benutzt sie nur für seine Inszenierung vom bürgerlichen Leben. Um Liebe geht es da nicht. Der Traum, sich in das bröckelnde Hendl-Paradies auf dem Dorfe einzuheiraten, ist seine einzige Motivation. Zwischen diesen dreien entspinnt sich ein Liebesdrama, das die Kälte von Liebesbeziehungen im Kapitalismus zeigt. Wie auch in Horváths Volksstück bleiben die anderen Figuren holzschnitthaft und flüchtig. Ute Baggeröhr in der Rolle der angesehenen Witwe Valerie gelingt es, moralische Werte und Menschlichkeit zu zeigen.
Johannes Hofmanns und Tom Kühnels Pop-Oper verblüfft, verstört und zeigt ungewohnte Perspektiven im Musiktheater auf. Ihre „Geschichten aus dem Wienerwald“ beweisen nicht nur, wie beklemmend aktuell die Volksstücke aus den 1930er-Jahren gerade heute sind. Dass politische Diskurse im gesungenen Dialog klug und leicht zu verhandeln sind, führt die aufregend innovative Produktion gekonnt vor Augen.
Erschienen am 11.12.2025
















