Theater der Zeit

sprache

Identität und Öffnung

Einblicke in die zeitgenössische Québecer Dramatik

von Sara Fauteux

Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Kanada (09/2021)

Assoziationen: Dramatik Nordamerika Dossier: Neue Dramatik

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Französischsprachige Dramatik aus Kanada ist heute so dynamisch, dass niemand an ihrer Existenz oder ­ihrem Platz auf internationalen Bühnen zweifeln kann. Vor weniger als 100 Jahren beschränkte sich die Theateraktivität in Québec, der einzigen mehrheitlich französischsprachigen Provinz Kanadas, jedoch noch auf Gastspiele von aus Frankreich angereisten Truppen und die Übernahme von Klassikern aus dem Mutterland durch kanadische Autor:innen. 1945 legte Gratien Gélinas als erster Dramatiker seinen Figuren typische Ausdrücke der lokalen Bevölkerung in den Mund. Über 20 Jahre später sorgen auch die Stücke von Michel Tremblay vor allem wegen ihrer sprachlichen Kühnheit für großes Aufsehen. Im Zuge der mächtigen Bewegung zur Behauptung einer Québecer Identität in den 1960er und 1970er Jahren legte die gleichermaßen realistische und zutiefst freie Sprache seines legendären Stücks „Les Belles-Sœurs“ (1965) den Grundstein für das, was man heute als Québecer Theater bezeichnet. Dieses Theater hat sich aus einer Vielzahl von Einflüssen gebildet. Unsere Dramatik ist nordamerikanisch in ihrem Festhalten an einem psychologischen Realismus bei der Untersuchung von Familiendynamiken, europäisch in ihrer formalen Experimentierfreude und Komplexität, selbst­bewusst in ihrem Bezug zur Sprache, und gleichzeitig stark von ihrem je nach Ort und Zeitpunkt tatsäch­lichem oder subjektiv empfundenen Status als marginalisierte Kultur geprägt.

Umgeben von einem Meer englischsprachlicher Bevölkerung, ist sich die Provinz Québec, genau wie all die kleinen französischsprachigen Inseln, die es überall in Kanada gibt, der ständigen Gefahr des Verschwindens bewusst, in der ihre Sprache und damit ihre Kultur schwebt. Die Künstlerinnen des französischsprachigen kanadischen Theaters antworten auf diese Bedrohung mit einem sympathischen Größenwahn, der durch eine Kulturpolitik noch verstärkt wird, die um jeden Preis die lokale Kunstproduktion fördert, und produzieren Jahr für Jahr eine beeindruckende Vielfalt an Dramentexten und Aufführungen. Seit seinen zarten Anfängen hat das Québecer Theater außerdem Institutionen geschaffen, die auch heute noch seine Entwicklung unterstützen. 1960 wurde die École nationale de théâtre du Canada (ENT) in Montréal gegründet, um den Bedürfnissen des Nationaltheaters nachzukommen, das in der Provinz gerade entstand. Als zweisprachige Bildungseinrichtung bietet die ENT heute Studiengänge in Produktion, Spiel, Regie und Szenisches Schreiben an. Fünf Jahre später entstand auf Initiative einer Gruppe von Autor:innen, die sich mehr praktischen Austausch wünschten, das Centre des auteurs dramatiques (CEAD). Schnell wurde diese Organisation zum Ort der Reflexion über eine Québecer Nationaldramatik. Heute versammelt das CEAD die Mehrheit der professionellen französischsprachigen Theaterautor:innen in Kanada und widmet sich der Begleitung, Entwicklung und Verbreitung von Dramatik auf lokaler und internationaler Ebene. Der 1963 gegründete Playwrights’ Workshop Montréal spielt für die landesweite englischsprachige Theatergemeinschaft eine ähnliche Rolle.

In der Regel zeichnet sich die Québecer Theatersprache durch ihre Mündlichkeit und besondere Musikalität aus. Exemplarisch dafür steht gegenwärtig die Arbeit eines Autors wie Fabien Cloutier. Seit seinem ­Debütstück „Cranbourne“ (2011) benutzt er eine extrem mündliche Sprache, ebenso roh und ungeschliffen wie die Männer und Frauen aus dem Arbeitermilieu und der Landbevölkerung, die er auf die Bühne bringt. Andere wie Steve Gagnon, Dany Boudreault oder Annick Lefebvre untersuchen stattdessen das poetische Potenzial des Québecer Französisch. In den bewusstseinsstromartigen Monologen von Lefebvre findet man eine überbordende, gleichermaßen moderne und subtile Sprache, die wahre szenische Lokomotiven in Bewegung setzt. Auf der anderen Seite des Spektrums ist eine Autorin wie Évelyne de la Chenelière angesiedelt, die die Sprache auf stärker literarischere Weise hinterfragt. Québecer Dramatik ist ebenfalls für ihr großes narratives Geschick bekannt. Autor:innen wie Sébastien David, Sarah Berthiaume, David Paquet, Catherine Léger oder Rébecca Déraspe stehen für ein handlungsorientiertes Theater mit effizienten narrativen Strategien und prallen, komplexen Figuren.

Nach einer langen Durststrecke nach den ersten feministischen Theaterexperimenten der 1970er Jahre findet auch die weibliche Perspektive wieder einen Platz, durch junge experimentierfreudige Stimmen. In „La nuit du 4 au 5“ (2017) konfrontiert Rachel Graton das Publikum mit sexueller Gewalt und der Frage nach der Sicherheit von Frauen in der modernen Gesellschaft. Ihre polyfone Partitur verwebt Stimmen, Zeitstufen, Wahrheiten, intimes und kollektives Bewusstsein. Auch das erklärt feministische Autorinnenduo Marie-Claude Saint-Laurent und Marie-Ève Milot seziert seit seinem ersten Text „Chienne(s)“ (2018) die sichtbaren und unsichtbaren Äußerungen alltäglicher sexistischer Gewalt. In seiner Mischung aus sorgsam recherchierten dokumentarischen und fiktionalen Elementen ist ihr gemeinsamer Schreibprozess untrennbar mit der Arbeit an ­Inszenierung und Spiel verbunden.

Obwohl es in Québec eine starke Tradition text­basierter Dramatik gibt und die Autor:innen in der Theaterlandschaft eine wichtige Stellung einnehmen, haben viele von ihnen begonnen, die Regiearbeit als gleichberechtigten Teil des künstlerischen Prozesses zu betrachten. Nicht mehr wegzudenken ist in diesem Bereich die Arbeit von Olivier Choinière. Sein Theater unterhält ­einen schonungslosen Dialog mit der Gesellschaft und der Kunstszene, der er selbst angehört, und oszilliert zwischen hochkomplexen Textstrukturen und stärker konzeptuellen, ortsspezifischen oder performativen Arbeiten. Autor:innen, die Regie führen und gleichzeitig auch Interpret:innn sind, kann man auf den Bühnen der Provinz zunehmend in autofiktionalen Arbeiten erleben. Mit seinem Stück „UN“ (2012), in dem er seine halb iranische, halb Québecer Identität und die Erfahrung der Immigration untersucht, feierte Mani Soleymanlou einen großen Erfolg. Im Verlauf der letzten zehn Jahre hat er diesen direkt ans Publikum gerichteten Monolog in einem ganzen Zyklus von Produktionen variiert. Mit „Post Humains“ (2017) erneuert die Schauspielerin ­Dominique Leclerc das in Québec ursprünglich im ­Alleingang von Annabel Soutar und ihrer Kompagnie Porte-Parole durchgesetzte Format des Dokumentar­theaters. Ausgehend von ihrer eigenen Biografie unternimmt sie eine erschöpfende Forschungsreise durch das Feld des Transhumanismus, die zugleich eine spannende ethische und philosophische Reflexion ist.

Zusätzlich zu den bislang genannten Stimmen lassen sich in der zeitgenössischen Québecer Dramatik die unterschiedlichsten Ansätze finden: Von verblüffenden politischen Stellungnahmen über kom­plexe Textformen, die an etablierten Repräsentationscodes rütteln, bis hin zu epischen, parodistischen oder historischen Fresken voller bissigem Humor, die in den letzten Jahren gehäuft auftreten. Das Kinder- und ­Jugendtheater, das in Québec schon lange extrem ­dynamisch war, ist heute vitaler und international gefragter denn je. Außerdem ist die Québecer Dramatik, die lange Zeit hauptsächlich der Bestätigung einer Québecer Identität diente, nach und nach in der Lage, sich auch für Künstler:innen zu öffnen, die es bislang schwer hatten, ihren Platz in der französischsprachigen Theatergemeinschaft und ihren Institutionen zu finden. Es herrscht in der Tat eine größere Durch­lässigkeit gegenüber den künstlerischen Praktiken der Indigenen Nationen und der Arbeit der minoritären Kulturgemeinschaften, deren Stimmen man lange ignoriert hatte. Genau dadurch, dass sie in ihren Geschichten nunmehr eine Vielfalt an Stimmen und Kulturen vertritt, gewinnt die Québecer Dramatik ­weiter an Bedeutung. //

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