Theater der Zeit

Gespräch

„Die Kulturmüdigkeit wird langsam verpuffen“

Der Tübinger Intendant und Sprecher der deutschen Landesbühnen Thorsten Weckherlin im Gespräch mit Elisabeth Maier über neue Formate gegen den Publikumsschwund

Jammern will Thorsten Weckherlin, der Sprecher der Landesbühnengruppe im Deutschen Bühnenverein, nicht. Doch die ­Coronapandemie hat gerade in den Häusern mit Abstecherbetrieb wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Die Zuschauer:innen bleiben aus. Und auch in den Gastspielorten stehen die Veranstalter:innen unter Sparzwang. Der Intendant des Landestheaters Tübingen spricht über die Chancen, die in der aktuellen Krise liegen.

von Thorsten Weckherlin und Elisabeth Maier

Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)

Assoziationen: Baden-Württemberg

Thorsten Weckherlin.
Thorsten Weckherlin.Foto: LTT

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Herr Weckherlin, in einem Interview haben Sie gesagt: „Fünfzig Prozent ist das neue Ausverkauft.“ Das beobachten Sie in Tübingen. Selbst das Sommertheater, in den Vorjahren stets ausverkauft, lief schleppend. Wie wirkt sich das auf Ihre wirtschaftliche Lage aus?

Bestimmt nicht gut! Immerhin haben wir beim Sommertheater noch die 60 Prozent gerissen. Darüber habe ich mich gefreut. Was den schnöden Mammon angeht: Üblicherweise nehmen wir bei einem Gesamtbudget von guten 8,2 Millionen Euro an die 17 Prozent selbst durch Ticketverkäufe und Gastspiele ein, also bis zu 1,3 Millionen pro Spielzeit. 2020/2021 – da schlug die Pandemie so richtig zu – hatten wir nur rund 190 000 Euro Einnahmen. Das sind gerade mal 15 Prozent einer „normalen“ Spielzeit. Rechne ich alles unter der Überschrift „Corona“ zusammen, haben wir um die 1,5 Millionen weniger eingenommen. Wir bekamen aber Kurzarbeitergeld und Coronahilfen, sodass wir finanziell nicht schlecht dastehen müssen. Die Hilfen laufen aber aus, und die Kosten galoppieren davon.

Als Sprecher der fünfundzwanzig deutschen Landesbühnen haben Sie den Überblick. Wie ist die Lage im Land?

Jedes Haus ist einzigartig. Ein großes Drei-Sparten-Landestheater in Hildesheim hat andere Sorgen als eine kleine Landesbühne in Dinslaken. Wir brauchen uns aber nichts vorzumachen. Die Finanzsituation ist ähnlich bis dramatisch. Was uns aber am meisten runterzieht, ist das Fehlen von Perspektiven und einer – nach Corona – langfristigen Kulturpolitik. Soll heißen: Wir müssen in ehrliche Gespräche mit unseren Trägern, den Ländern und ­Kommunen, kommen – wohl wissend, dass es denen auch nicht gut geht. Es gibt Bundesländer, da würde ich von Armut reden. Wir müssen die kommenden zwei Jahre gut meistern. Das werden wir. Auch die Kulturmüdigkeit wird langsam verpuffen. Mal sehen, mit welchen Beulen wir 2024 dastehen. Mit einem blauen Auge werden wir die Häuser neu aufstellen.

Die Coronapandemie hat als Brandbeschleuniger gewirkt, die Energiekrise und der Krieg in der Ukraine tun ein Übriges, um die Lage zu verschärfen. Die Menschen haben ihre Lebensweise umgestellt, sind digitaler geworden. Wie lässt sich dem entgegensteuern?

Der Publikumsschwund, so meine These, ist jetzt früher gekommen, als er sowieso gekommen wäre, wenn es Corona nicht ge­geben hätte. Wir haben jetzt eine Publikumsgröße bundesweit, die wir in zehn Jahren sowieso gehabt hätten. Aber es gibt auch Gegenbewegungen. Unser Kinder- und Jugendtheater in Tübingen, das Junge LTT, wird gebucht wie verrückt. Das macht mich froh. Vielleicht sollte ich diese Sparte vergrößern? Ein guter Spielplan ist schon mal was. Moderne neue Stücke. Auch auf dem Gastspielmarkt in Baden-Württemberg sehe ich, dass der Umgang mit Inhalten wichtiger geworden ist. Das lässt hoffen. Dann sollten sich aber auch die Couchpotatoes mal durchschütteln: Kulturelle Teilhabe ist am häuslichen Bildschirm nicht zu haben. Sie erfordert gemeinsame Aktivität im Präsenzmodus. Dabei muss es für uns auch darum gehen, über diejenigen nachzudenken, die wir bislang nicht erreicht haben. Es gibt viel zu tun. Dennoch: Das Theater wird es immer geben. Aber wie sieht es mit dem subventionierten Theatersystem aus? Ich weiß es nicht. Eine andere Kunstform hat sich bereits aufgelöst: Die Zeit des Kinos ist vorbei, dank Strea­mingdiensten und Pandemie. Diese These stellte der Schriftsteller Bret Easton Ellis („American Psycho“) auf.

Durch die Abstecher sind die Landesbühnen in einer komplizierten Lage. Viele befürchten, dass die Kultur unter den knappen Kassen und erhöhten Kosten durch die Energiekrise in der Fläche leiden könnte. Da sparen Kulturämter bei den Gastspielen. Zeigt sich da ein Trend?

Ich habe immer gesagt, wenn eine Theaterform überleben wird, dann ist es das Landestheater, weil es Theater dort hinbringt, wo es kein Theater mehr gibt. Ein urdemokratisches Prinzip: Kultur für alle, Kultur in der Fläche. Wenn aber die Hülle nicht mehr funktioniert, die Stadthalle, dann ist es schlecht. Neues Publikum ist da nicht mehr zu generieren. Die Architektur der Gastspielhäuser muss sich ändern. Ich bewundere jeden tapferen Kulturamtsleiter, jede Kulturamtsleiterin, die uns buchen. Aber machen wir uns nichts vor, der Kämmerer oder die Kämmerin einer kleinen Stadt kommen jetzt gern mit dem Rotstift.

Jammern ist Ihre Sache nicht. Sie überlegen, wie Sie die Landesbühnen neu aufstellen können. Welche Konzepte könnten den Publikumsschwund denn aufhalten?

Wir als Landesbühne müssen das Wandern, das Rausgehen neu entdecken. Da stehen wir auch im Gespräch mit dem Kunstministerium. Wir haben auch schon Landschaftstheater gemacht, Hörskulpturen in kleinen Städten auf der Schwä­bi­schen Alb aufgebaut, mit partizipativen Projekten gearbeitet. Das kam gut an. So können wir auch unseren kulturpolitischen Auftrag bedienen – „draußen“ präsent zu sein, was für uns ­elementar ist.

Wirtschaftliche Zwänge nötigen die Häuser zum Sparen. Im schlimmsten Fall könnte Stellenabbau drohen. Auch besteht die Gefahr, dass die Stoffe sich mehr in Richtung Gefälligkeitstheater bewegen. Neue Dramatik und innovatives Regietheater könnten da unter die Räder kommen. Ist diese Gefahr real?

Für uns hier in Tübingen nicht. (grinst) Wir haben hier eine vierköpfige Dramaturgie. Sie ist so was wie der Motor des Theaters. Diese vier gehen ganz unterschiedlich an die Stoffe ran. Ich selbst finde eine gut gemachte Unterhaltung prima. Was uns eint: Wir alle mögen Brecht, aber wir glauben nicht, dass wir ihn als Einzige verstanden haben. Auf Belehren zumindest haben wir keine Lust. Eher auf lustvoll zum Nachdenken anregen. Wenn wir ein Stück über die Klimakrise machen, dann sind nicht wir die, die mehr wissen, sondern die, die sagen: Mist, wir stecken ganz tief in einem Dilemma. Viele Leute empfinden die Theaterszene als arrogant und selbstbezogen, sie sei eine Branche, in der hochsubventionierte Macher die sie bezahlenden Bürger erziehen wollten. Die Süddeutsche Zeitung meinte, offenbar „haben immer weniger Zuschauer Lust, sich von der Bühne herab mit kapitalismus­kritischen Banalitäten und den neuesten Windungen der Identitätspolitik belehren zu lassen“. Die Pandemie wirke hier wie ein Katalysator. „Sie verstärkt eine Besucher-Krise, die sich schlecht geführte Theater selbst eingebrockt haben.“ Das alles mag sein. Ich kann das aber für uns hier in der „kleinen großen Stadt Tübingen“, wie Walter Jens mal sagte, nicht erkennen. Hier gibt es noch die letzten verbliebenen Bildungsbürger. Ich stehe somit unter ständiger Beobachtung. //

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