Gespräch
Zirkus als Linse zur Beobachtung des Minimalen
Johann Le Guillerm im Gespräch mit Jenny Patschovsky
von Jenny Patschovsky und Johann Le Guillerm
Erschienen in: Arbeitsbuch 2022: Circus in flux – Zeitgenössischer Zirkus (07/2022)

Du warst im ersten Jahrgang des CNAC, dann beim Cirque O, 1994 hast du dein erstes Solo mit dem Namen „Où ça?“ kreiert. Wie würdest du rückblickend die Einflüsse und die einzelnen Etappen in deinem künstlerischen Prozess beschreiben?
Nach dem CNAC habe ich gemeinsam mit anderen Absolventen den Cirque O auf die Beine gestellt, später habe ich mit Archaos und der Volière Dromesko gearbeitet. Anfang der Neunziger habe ich den Cirque ici gegründet und mein erstes Solo „Où ça?“ kreiert. Nach der Welttournee 2001 habe ich mich in mein Projekt „Attraction“ gestürzt, ausgehend von der Idee, die Welt, die mich umgibt, nach meiner Sicht der Dinge, von meinem Blickpunkt aus, zu ordnen.
Also habe ich ein Observatorium rund um das Minimale eröffnet: für eine Bestandsaufnahme meines Glaubens und Wissens. Anfangs wollte ich eine Art Inventar der Welt erstellen. Aber sehr schnell wurde mir klar, dass das zu komplex ist und ich mich auf etwas Bescheideneres beschränken muss. Also erforsche ich jetzt, woraus das Minimale besteht, und ich denke, wenn ich verstehen könnte, woraus das Nichtsogroße besteht, werde ich automatisch das Minimale in jeder komplexeren Sache wiederfinden, und das wäre eine gute Basis, um die Welt um mich herum zu begreifen. Bei der Beobachtung dieses Nichtsogroßen wurde mir klar, dass das, was ich sah, immer etwas verbarg, was ich nicht sah, und dass das, was ich nicht sah, hinter dem verborgen war, was ich sah. Da ich aber das Nichtsogroße vollständig bestimmen wollte und nicht bloß zur Hälfte, erschien mir das unzulänglich. Ich schloss daraus, dass diese Unzulänglichkeit der Natur des menschlichen Körpers geschuldet ist, der eine frontale Sicht der Dinge hat; da begriff ich, dass der Mensch von jeher nur die Hälfte der Welt wahrnimmt. Also begann ich, meine Wahrnehmungsweisen zu ändern, indem ich um die Dinge herumging und meine Sicht der Dinge mit der eines anderen mir gegenüber verglich oder indem ich mich mit dem explosiven Blick des Empfindens in die Dinge hineinbegab. Von da ausgehend entwickelte ich eine Vielfalt von Beobachtungsorten, die das Gebiet der Geometrie, der Topografie, der Philosophie und viele andere betreffen. Den Rahmen für all diese Recherchen bildet das größere Projekt, das ich „Attraction“ nenne und
das den Blick eines Menschen abwandelt, der andere Wege als die bereits etablierten oder als wahr vorgegebenen zu beschreiten versucht. Die Welt ist nicht nur, was über sie gesagt wird, man kann sie auch anders sehen. So habe ich dann eine Art Bewusstsein entwickelt, aus dem eine Lebensweise wurde, die heute die Gesamtheit meiner Arbeiten in ihren unterschiedlichen Ausprägungen speist: Skulptur, Performance, kulinarische Erfahrung, Beobachtungsinstrument, Show etc. sowie meine aktuelle Aufführung in der Manege, die sich ständig weiterentwickelt. Nach „Secret“ 2003 und „Secret (temps 2)“ 2012 ist „Terces“ die dritte Version. Da es sich um eine Entwicklung innerhalb eines Verwandlungsprozesses handelt, der sich alle sieben Jahre vollzieht, ergibt jede neue Aufführung ebenso viel Regelmäßigkeit wie Veränderung. Die Hälfte der Aufführung ist vollkommen neu, daraus entsteht die Verwandlung, ein Viertel stammt aus der vorherigen und ein Viertel aus der davor. Das Alte wird dem Neuen ausgesetzt und erzählt dann eine andere Geschichte. Dieser Prozess ermöglicht es mir, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten meiner Recherche entstandenen Aufführungen, die aber alle derselben Quelle entspringen, nämlich meinem Observatorium rund um das Minimale, auf dem die Lebensweise beruht, die all meine Kreationen speist, in einen Dialog zu bringen. Die Ergebnisse meiner Beobachtungen bringe ich als von mir materialisiertes Verfahren ins Spiel und lade die Zuschauer ein, dem Raum der Blickpunkte, dem Verhältnis zur Zeit und der Transformation nachzuspüren.
Heute bist du Performer, Bildhauer, Forscher, Schöpfer und Beobachter, beschreibst dich aber, wenn ich dich richtig verstehe, nicht als Zirkuskünstler. Enthält deine Arbeit dennoch etwas, das typisch für den Zirkus ist?
Meine Arbeit ist zirkusspezifisch, wenn man sie vom etymologischen und historischen Blickpunkt aus betrachtet. Ursprünglich bedeutete Zirkus ein Spektakel, das sich um einen allen Zuschauern gemeinsamen Blickpunkt abspielte, in dem man Sachen sah, die man nirgendwo anders sah.
Ich definiere Zirkus als einen Ort der Demonstrationen von minoritären Praktiken in einem Raum, der widersprechende Blickpunkte aufnehmen kann. Minoritäre Praktiken umfassen das, was man nicht macht, das, was man nicht mehr macht, oder das, was man noch nie gemacht hat.
– Was man nicht macht: wird im Alltag der Menschen nicht angewendet; würde es angewendet, riefe es bei öffentlichen Vorführungen nicht das gleiche Interesse hervor.
– Was man nicht mehr macht: bringt vergessenes oder vernachlässigtes Wissen auf den neuesten Stand.
– Was man noch nie gemacht hat: zieht neue Perspektiven auf das Können in Betracht und beteiligt sich an der Ausweitung des Möglichen.
Heute wird der Zirkus durch eine Reihe traditioneller oder neu eingeführter zeitgenössischer Praktiken bestimmt, während der Raum der Darstellung selbst zerstört wird. Die genannten Zirkuspraktiken rutschen ab. Durch ihre Formatierung und Vulgarisierung werden sie immer weniger minoritär und daher auch immer weniger attraktiv. Sie werden entmystifiziert.
Ich erkenne also den Zirkus in seiner räumlichen Besonderheit an. Ein Raum, der widersprüchliche Blickpunkte aufnehmen kann, dessen Fokus in der Mitte der Zuschauer ist und in dem es keine toten Winkel gibt. Das Publikum befindet sich rund um das eingekreiste Sujet, nichts ist verborgen, das Spiel ist explosiv, multidirektional. Dieser Raum, Manege genannt, wird traditionell von einem Kreis umgrenzt, der mindestens dreizehn Meter Durchmesser hat – aus physikalischen Gründen, die mit der Fliehkraft der Masse im Kreis laufender Pferde zu tun haben. Die Aktion jedoch oder die Technik verlangt keine runde Struktur, sie könnte genauso gut oval, dreieckig oder quadratisch sein, sogar eine Linie mit Zuschauern auf beiden Seiten,
die einander mit entgegengesetzter Blickrichtung gegenübersitzen. Das Diagramm der im zentralen Brennpunkt konvergierenden Blicke wäre in all diesen unterschiedlichen Konfigurationen äquivalent. Ich bin kein Verfechter des Kreises, sondern eines zentralen Brennpunkts. Der Kreis ist eine Form wie jede andere auch.
Die Architektur eines Raums der Blickpunkte kann auch spontan entstehen. Ist der Raum nicht aufgeteilt, bildet sich aufgrund des Phänomens der Anziehung, das für die Materie gilt, oder der Ansammlung, der für das Lebendige gilt, gelegentlich eine Agglomeration. Ich erlaube mir daher, von der natürlichen Architektur der Ansammlung zu sprechen, einem Raum der Blickpunkte, der um das Faszinierende oder Verblüffende entsteht, das hier als minoritäre Praxis betrachtet wird. So kommt der Begriff des Anziehungswerts ins Spiel, der je nach Betrachter variiert und die Zirkuspraxis in Richtung eines auf den Raum bezogenen Werts verschiebt, der greifbarer erscheint.
Der Raum der Blickpunkte wurde bis heute nicht als eine Besonderheit unter den öffentlichen Aufführungsräumen erkannt und droht wie alles, das nicht als wesentlich angesehen und nur wenig beachtet wird, zu verschwinden.
Die Besonderheit dieses Raums bringt besondere Stile und Fähigkeiten hervor, die mit dessen Beschränkungen einhergehen. Ich sehe das analog zur Bildhauerei: Ein Bildhauer betrachtet sein Werk anders als ein Maler; für ihn zählen sämtliche Oberflächen seines Materials, während der andere nicht einmal die Rückseite seiner Leinwand beachtet. In einem Raum der Blickpunkte muss der Artist in der Manege die Informationen verteilen, indem er das Publikum um sich herum anspricht. Jede Bewegung, die er ausführt, wird von allen Seiten gesehen, eine unverzichtbare Information muss jeden erreichen. Findet auf einer Frontalbühne dagegen eine Bewegung hinter dem Rücken statt, erfordert sie eine spezifische Wahl des Blickpunkts, den der Zuschauer zu sehen bekommt.
Für den Zirkusregisseur gehen Ankunft und Abtransport von Bühnenbild und Requisiten im Allgemeinen mit dem Auftritt und Abtritt der Artisten in der Manege einher. Auch Beleuchter und Tontechniker müssen sich Gedanken über diesen besonderen Raum machen. Jede Berufsgruppe ist abhängig von einem spezifischen Know-how für einen solchen Raum der Blickpunkte.
Trotz des Einsatzes und Kampfes mancher Kompanien, die Theater zu erobern, wobei sie Strukturen mit zentralem Fokus fordern, erzeugen nur sehr wenige Personen Erfahrungen in diesem zwingenden Raum, und zwar aus vielerlei Gründen (technischen, ökonomischen, zeitlichen etc.). Die Erfahrungen und Kompetenzen der Praktiker im Raum der Blickpunkte schwinden, und eine Geschichtsschreibung gibt es kaum. Obwohl sich das Label Zirkus in den letzten Jahren vor allem durch das Aufblühen von Zirkusschulen und -veranstaltungsorten, die sich dieser Bezeichnung widmen, entwickelt hat, waren die Darbietungen im Raum der Blickpunkte in denen als Zirkus etikettierten Veranstaltungen noch nie so wenig präsent.
Sprache ist lebendig, Wörter verändern sich, ihre Bedeutung verschiebt sich. Das ist der Grund dafür, dass ich mich heute nicht mehr als Zirkusmensch bezeichne, sondern als Praktiker des Raums der Blickpunkte, in der Hoffnung auf die Wiedergeburt eines Wortes, das die Besonderheit des alten Begriffs Zirkus ausdrücken könnte.
Ich verstehe, dass Zirkusdisziplinen wie Trapez, Akrobatik oder Jonglage für dich nicht den Zirkus ausmachen. Allerdings wird eben das in den Zirkusschulen vorwiegend gelehrt. Was sollte denn deiner Meinung nach gelehrt werden?
Nein, ich bin nicht der Ansicht, dass Trapez, Akrobatik oder Jonglage den Zirkus ausmachen. Diese Geräte gehören zu den traditionellen Techniken, die den Zirkus ausmachen können, doch dieser ist nicht auf diese traditionellen oder auch zeitgenössischen Techniken begrenzt. Was ich als Zirkus betrachte, ich wiederhole es, sind die minoritären Praktiken, die, wie ich glaube, viel offener sind als eine Liste etablierter Praktiken, die mit der Liste olympischer Disziplinen vergleichbar ist. Für mich ist Zirkus vor allem ein für alles offener Raum, der, sofern er nicht aufgeteilt ist, eine Menschenansammlung hervorrufen kann – durch Praktiken, die man nicht oder nur selten anderswo sieht.
Ich würde gern auf deine Objekte und Maschinen zurückkommen. In der letzten Zeit hat sich die Beziehung zwischen Zirkusartist:innen und den Gegenständen oder Apparaten, die er oder sie benutzt, sehr stark entwickelt. Wie würdest du die Interaktion mit deinen Objekten und Maschinen auf der Bühne beschreiben?
Anscheinend versuche ich, mein Denken in der Materie zu kristallisieren. Man könnte von drei Kategorien oder Graden der Konfrontation zwischen der Materie und dem Lebendigen sprechen.
– Ich kristallisiere mein Denken in meiner eigenen Materie, die eine lebendige ist, indem ich eine Idee durch meinen Körper ausdrücke.
– Ich arbeite mit einem materiellen Gegenstand, einer Art Prothese, einer Materie außerhalb meines Körpers, die ich manipuliere.
– Ich kristallisiere mein Denken in einer Materie außerhalb meines Körpers, in die ich ein kinetisches Gedächtnis eingeschrieben habe, was dem Objekt eine Bewegung außerhalb einer Interaktion mit ihm erlaubt.
Die Zuschauer sitzen im Kreis, und jeder hat einen unterschiedlichen Blickpunkt auf das, was sich im Zentrum abspielt. Was bringt das dem Zuschauer?
Der Zuschauer in diesem Raum sieht auf der anderen Seite dessen, was er betrachtet, einen Zuschauer, der exakt den entgegengesetzten Blickpunkt hat. Neben ihm sitzt einer, der einen etwas anderen Blickpunkt hat als er selbst, und in dieser konzentrischen Einrichtung hat jeder im Verhältnis zu seinem Nachbarn einen etwas verschobenen Blickpunkt. Der Einfluss der Reaktionen all dieser Menschen mit ihren verschiedenen Blickpunkten beeinflusst den Blickpunkt jedes Einzelnen. Dann muss der zentrale Fokus im Inneren Dinge zeigen, ohne einen bestimmten Blickpunkt zu bevorzugen. Er muss sich an die Gesamtheit dieser verschiedenen Blickpunkte (also die Zuschauer) wenden und eine Möglichkeit haben, die Information an jeden von ihnen gleich zu verteilen.
In Deutschland verschmilzt der Zirkus zurzeit auf verschiedene Weisen mit anderen Kunstformen; dadurch wird es schwieriger, das Spezifische an ihm deutlich zu machen. Wie ist die Situation in Frankreich?
Genauso. Die Zirkusdisziplinen oder besser gesagt die verschiedenen Formen des physischen Theaters haben sich zu Aufführungsformen hinzugesellt, in denen sich Theater, Tanz und Musik vermischen. Die Kulturschaffenden nutzen diese Bezeichnung aus, die das Publikum in die kollektive Vorstellung einer Volkskunst zurückversetzt, die ihr Interesse weckt. Aber die Verschiebungen in der Sprache führen eher zu einem „so aussehen“ als zu einem „so sein“. Macht das Clownskostüm den Clown? Macht das Gemälde einer Skulptur diese zur Skulptur?