Theater der Zeit

Auftritt

Junges Theater Göttingen: Kulturkämpfe im Wohnzimmer

„Na, wenigstens betrachten wir denselben Mond (oder: Gewaltdarstellungen, Alkohol- und Drogenkonsum, Schimpfwörter, sexuelle Inhalte)“ von Oliver Bukowski – Regie Nico Dietrich und Christian Vilmar, Bühne Nico Dietrich, Jost Leßmann und Christian Vilmar

von Michael Helbing

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Theaterkritiken Niedersachsen Oliver Bukowski Junges Theater Göttingen

Thyra Uhde als Maya in „Na wenigstens betrachten wir denselben Mond“ am Jungen Theater Göttingen. Foto Dorothea Heise
Thyra Uhde als Maya in „Na wenigstens betrachten wir denselben Mond“ am Jungen Theater GöttingenFoto: Dorothea Heise

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Ein Schlag ins Gesicht. Laut Regieanweisung „mit aller Kraft“. So beginnt Oliver Bukowski sein neues Stück. Den Paukenschlag, der ihn am familiären Mittagstisch provozierte, verlegt er in die allerjüngste Vorgeschichte und reicht ihn uns dann nach: „Mein Kind geht gerade an die Ostfront.“

Maya, Anfang zwanzig, die sich eben noch für die Letzte Generation auf die Straße klebte, um der Klimapolitik Beine zu machen, die kein Blut sehen und keinem Tierchen ein Leid antun kann, will jetzt allen Ernstes in der Ukraine und für sie kämpfen, gegen die Russen. Dafür trainiert sie, schon eine ganze Woche lang.

Das ist zu viel für Mutter Jenny, die ohnehin mehr als skeptisch auf Erzählungen des Westens über diesen Krieg reagiert, die ohnehin überfordert ist von einer großen allgemeinen Zeitenwende, die weit übers Militärische hinausgeht. Nun hat sie einfach nur noch Angst. Also ist sie außer sich, also knallt sie der Tochter eine. Ansonsten kompensiert sie das mit Hohn und Spott und vielen Flüchen.

Kann das gutgehen? Ein, mit nur wenig Übertreibung gesagt, beinahe tagesaktuelles Theaterstück, in dem der Ukraine-Krieg und unsere Debatten darüber gleichsam der letzte Tropfen sind, der das Fass der Kulturkämpfe endgültig überlaufen lässt? Ja, es kann. Oliver Bukowski jedenfalls, einem hochproduktiven Dramatiker am Puls der Zeit, der zuletzt auch mittelmäßige Texte veröffentlichte, bevor er mit seiner Idee zur brandenburgischen Erzählung „Warten auf’n Bus“ einen neuen Erfolg im Fernsehen und auf der Bühne landete, ist es jedenfalls gelungen. Er hat gleichsam ein Zeitstück als Boulevardkomödie geschrieben – ein Genre, mit dem er ja bereits häufiger spielte – und riskierte dabei wohl ganz bewusst abgeschmacktes politisches Kabarett, ohne tatsächlich dort zu landen.

Der von ihm bevorzugte Titel bedeutet eine Aneinanderreihung von Triggerwarnungen: „Gewaltdarstellungen, Alkohol- und Drogenkonsum, Schimpfwörter, sexuelle Inhalte“. Das legt eine falsche Fährte, obschon hier durchaus von zerfetzten Gedärmen und Kriegsverbrechen die Rede ist, Jenny ständig „Fick dich“, „Arschloch“, „Scheißdreck“ brüllt und sich bei Bedarf einen Fusel hinter die Binde kippt. Die Triggerwarnung könnte aber auch lauten, dass hier alles zusammenkommt, was einzelne Familien und ganze Gesellschaften zu zerreißen droht: Klimakrise, Genderstreit, Pandemie, Verdrossenheit. Queerness und Wokeness. Ossis und Wessis.

Die aufbrausende und meinungsstarke Jenny, aus der DDR stammende OP-Schwester, hat den allzeit abwägenden und zur Besonnenheit neigenden Akademiker Rafael aus dem Westen geheiratet. Um das Stück zu zitieren: der Klugscheißer und sein doofes Frauchen. IhreTochter ist mit Leo liiert, non-binär, Jenny bezeichnet Leo aber als Frau. Das ist die Konstellation, in der Bukowski lauter Klischees zugleich bedient, hinterfragt und aufbricht. So kommt es, dass man beim Lesen sehr oft sehr lachen und sich mitunter dafür schämen muss, bevor die Komödie in einer überraschenden Wendung kulminiert.

Dem kleinen, privat organisierten Jungen Theater Göttingen bescherte das eine einigermaßen ungeplante Uraufführung. Sie rückte relativ kurzfristig an die Stelle des Abends „Wer hat Angst vorm Drachenlord?“, der nach dem gleichnamigen Podcast von Studio Bummens entstehen soll.

Bukowski kam da, über seinen Verlag, gerade recht – er selbst allerdings nicht zur Premiere, die unter dem von ihm als subversiv-poetische Alternative vorgeschlagenen Titel „Na, wenigstens betrachten wir denselben Mond“ stattfand. Die gemeinsam von Intendant Nico Dietrich und Chefdramaturg Christian Vilmar binnen vier Wochen besorgte Uraufführung offenbart zwei Schwächen des Stückes: den Schönheitsfehler, dass der hiesige Streit um den Ukrainekrieg zum Generationenkonflikt gerät, was nicht einmal in der Zuspitzung zutrifft, sowie den Umstand, dass Mutter Jenny mit dem deutlich größten Textanteil in Dialogen derart monologisiert, dass jederzeit das Selbstgespräch droht. Sie ist hier, und da hebelt sich der Titel aus, der Planet, um den drei Monde kreisen.

Die dritte Schwäche ist keine des Stückes, sondern der Besetzung. Sie besteht in der (Laut-)Stärke, mit der Agnes Giese als Jenny auftrumpft und alles und jeden überrollt. Sie bedient auf Teufel komm raus das überkommene Rollenfach der komischen Alten, die ziellos über die Szene und durch das ganze Stück wütet und dabei regelmäßig Affekt mit Effekt verwechselt. Diese Jenny tritt derart verhaltensoriginell auf, dass die anderen nur ratlos danebenstehen, im Zweifelsfall die Arme verschränken und irgendeine Miene zum Spiel machen können, während sie mit den Armen rudert und vorzugsweise mal den linken, mal den rechten Zeigefinger als Mittel und gleichsam als Waffe benutzt. Da bleibt kein Raum für Zwischentöne und Pausen. „Ich hab mich aufgeführt wie eine Wahnsinnige“, sagt sie nach wenigen Minuten. Die Erkenntnis hilft aber nichts, es bleibt dabei.

Bis auf jenen einen Moment, der alles verändern wird: Maya erzählt, was sie tatsächlich an die Front treibt (wozu es nicht kommen wird), die Mutter hockt daneben, blickt die Tochter verstohlen, beschämt und unendlich traurig an sowie tief in sich hinein. Diese Szene lässt ahnen, dass mehr und anderes möglich wäre und dass dem Abend doch etwas mehr Zeit zu gönnen gewesen wäre, auf der Bühne ebenso wie in der Vorbereitung.

Es ist auch die Szene, in der Thyra Uhde als Maya nicht nur funktionieren muss, sondern in einer unverstellten Erzählung zu ihrem Wesenskern vordringt, zu Kraft und Charakter. Das ist Jan Reinartz als Rafael und Dorothea Röger als Leo alles in allem nicht vergönnt. Sie bleiben Randerscheinungen im Ungefähren. Sie heben sich so wenig ab wie die spärlichen blauen Möbel auf blauem Hinter- und Untergrund in der elterlichen Wohnung. Wenn die Szene zu den Jungen umzieht, kommen gelbe Sitzkissen ins Spiel. Eine Bühne in ukrainischen Farben also.

So wie die Ohrfeige hier technisch stilisiert und mithin nur angedeutet wird, deutet auch die Inszenierung die Möglichkeiten dieses Stückes eher an. Es fehlt gewissermaßen an Schlagkraft. Zugleich aber sehen wir hier eine interessante Marschrichtung des Jungen Theaters angedeutet, die inhaltlich stärker aufs Zeitgenössische abzielt als bislang, obschon das Haus die Hälfte seiner Einnahmen selbst erwirtschaften muss.

Erschienen am 29.9.2023

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