Theater der Zeit

Die Sprechweise

Wie wir Verse erkennen

von Viola Schmidt

Erschienen in: Mit den Ohren sehen – Die Methode des gestischen Sprechens an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin (04/2019)

Assoziationen: Schauspiel

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Versdichtung erkennen wir am Schriftbild. Gegliederte Wortfolgen sind manchmal in Strophen, immer in Zeilen gesetzt. Jede Zeile entspricht einem Vers. Versus leitet sich vom lateinischen Wort vertere her, was umwenden bedeutet. Wir können uns eine Wendung im Tanz vorstellen. Gesang, Tanz und gesprochene Verse bildeten in der Antike eine Einheit. Wir können aber auch ein ganz anderes Bild bemühen. So, wie der Bauer den Boden umwendend Furchen in das Feld zieht, bildet der Vers, eine erkennbare Furche im Text.170 Wir sehen den Vers und wir hören die Folge von betonten und unbetonten Silben, die wir Hebungen und Senkungen nennen. Sind Hebungen und Senkungen nach einem erkennbaren Prinzip organisiert, ergibt sich ein Versmaß. Gesprochene Verse geben ihre Struktur leicht zu erkennen, indem sie skandiert werden. Wir können sie mit der Hand auf die Tischplatte klopfen oder in ihrem Rhythmus laufen. Das sind grobe Hilfsmittel, auf die wir verzichten, wenn wir Verse als einen Schlüssel zur Welt der Dichter und ihrer Zeit entdeckt haben. Die kleinsten metrischen Einheiten im Vers sind die Verssilben, die den Versfuß oder Verstakt bilden. Antike griechische Verse folgen ausgehend von der syntaktischen Struktur ihrer Sprache einem quantitierenden metrischen System. Dabei bestehen gleich lange Takte aus langen und kurzen Taktteilen. Da sich die Metrik der Sprache an Gesang und Tanz orientierte, entsprach das Senken des Fußes einer schweren langen Silbe, das Heben einer leichten kurzen. So erschließt sich uns die Herkunft des Begriffs Versfuß. Die Übertragung ins Lateinische und mehr noch in die deutsche Sprache mit ihren ausgeprägten Akzenten ging nicht ohne Reibungsverluste vonstatten. Im Deutschen führt das Heben der Stimme zu einer Betonung von Silben, bei unbetonten Silben wird die Stimme in der Regel gesenkt. Gleichzeitig weisen die Silben eine von der Betonung abhängende Stärke, ein Gewicht und eine Länge auf; je nachdem, ob wir es mit offenen oder geschlossenen Silben zu tun haben. In Abhängigkeit von der jeweiligen Sprechsituation ergeben sich unzählige prosodische Varianten. In der deutschen Dichtung finden wir auf antike Vorbilder zurückgehende Versfüße seit dem Barock. Am Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert begannen die deutschen Dichter, nach neuen Formen zu suchen. Sie orientierten sich mit mehr oder minder großem Erfolg unter anderem an der französischen, der antiken und englischen Verstradition. Um die Schwierigkeit der Übertragung metrischer Systeme von Sprache zu Sprache zu meistern, entwickelte der Gelehrte und Dichter Martin Opitz ein Regelwerk für die Behandlung der deutschen Sprache im Vers. In seinem Buch „Von der Deutschen Poeterey“ (1624) empfahl er die Umstellung auf eine akzentbasierte deutsche Metrik. Wortakzent und Vershebung fallen nun zusammen. Sprechsilben werden in Takten geordnet. Die Qualität der Hebungen und die metrische Gliederung des Verses können beim Sprechen mit dem Inhalt und der Sprechsituation korrespondieren. Die sprachliche Gliederung im Vers ergibt sich aus der natürlichen Wortbetonung im Satz. Ein mechanisches Auf und Ab von betonten und unbetonten Silben widerspricht dem gestischen Sprechen. „Verstakt und Sprechtakt […] decken sich nicht, sondern nur ihre Hebungen. Der Verstakt ist nur eine begriffliche Einheit, der Sprechtakt aber eine reale.“171 Vershebungen und Wortakzente fallen in der Regel zusammen, Verstakte und Sprechtakte können voneinander abweichen.

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