Gespräch
Als Autor in Thomas Manns Haus in Kalifornien
von Burghart Klaußner und Thomas Irmer
Erschienen in: backstage: KLAUSSNER (09/2019)
Assoziationen: Nordamerika

Sie sind 2018 als erster Stipendiat im Thomas-Mann-Haus in Kalifornien gewesen. Was war das für eine Erfahrung?
Das Vorwort für dieses Buch ist mein Essay über die Reise, über die kalifornische Erfahrung. Es war eine angenehme Zeit, wenn auch sehr kurz. Es war anders geplant, aber kurz vorher habe ich erfahren, dass das Haus nicht bezugsfertig sein würde. Ich kann sagen, dass ich überrascht war, wie stark dort das Bewusstsein ist, welchen Einfluss die deutschen Emigranten hatten. Carl Laemmle hat die Studios gegründet, Billy Wilder ist eine Legende, aber das gilt eben nicht nur für das Film-Business, sondern auch für Literatur und Philosophie, etwa mit Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno. Das ist vielen dort sehr bewusst, das hat mich überrascht und gefreut. Man unterschätzt ja die Amerikaner, auch darüber hab ich in diesem kleinen Aufsatz geschrieben. Zugleich habe ich erfahren, wie viel Obdachlosigkeit es dort gibt, wie unfassbar hart die soziale Wirklichkeit dort sein kann. Die Leute schlafen in Autos, was eigentlich verboten ist, oder liegen auf der Straße, weil es warm genug ist.
Der Kaufmann von Venedig war 2017 die dritte Arbeit mit Roger Vontobel, mit ihm gab es einen Don Carlos und einen Zerbrochnen Krug in Dresden. Das sind immer Arbeiten gewesen, die in der Besetzung speziell zusammengeführt wurden. Warum ist der Shylock eine so besondere Rolle und wie ist die Inszenierung in Düsseldorf zustande gekommen?
Kortner ist da als Allererstes zu nennen, wie er mich zutiefst beeindruckt hat mit seiner Art, nur am Tisch zu sitzen und den Monolog in ein Tonband auf der Bühne der Münchner Kammerspiele zu sprechen. Mich hat dieses unglaublich altmodisch-expressionistisch-atavistische Theatertum fasziniert. Zum andern ist der Shylock angesichts eines heute wieder erstarkenden Antisemitismus eine Herausforderung. Kortner spielte ja den alttestamentarischen Juden par excellence, der natürlich – rückkehrend aus dem Exil – diesen Rachegedanken nicht loswird. Ganz klar und völlig zu Recht – ein gerechtfertigter Rachejude.
Vorläufer der Shylock-Interpretationen
Zadek wiederum führte mit Hans Mahnke ein bereits tabuisiertes, aber umso stärker als antisemitisch zu erkennendes Klischeebild vor. Schließlich kam Zadek nochmal mit Gert Voss als Shylock in einer völlig anderen Fassung der Wallstreet-Welt. Und diese Traditionen sind natürlich lebendig, wenn man sich einigermaßen für die Theatergeschichte interessiert und vielleicht sogar dabeigewesen ist, wie ich. Und dann wächst der Wunsch nach so einer Rolle. Und da die Zusammenarbeit mit Vontobel bisher sehr fruchtbar war, hat das auch geklappt. Ich finde in seiner Arbeit die Durchsichtigkeit bei schwierigen Stücken, und für mich ist es spannend, weil zwei Generationen aufeinandertreffen. Vontobel hat da auch zum Teil mit Mitteln, die vor dreißig, vierzig Jahren nicht so gewählt worden wären, eine sehr gute Erzählweise und eine Möglichkeit, Theaterliteratur zu erzählen, gefunden. Und das macht Spaß.
Am Kaufmann von Venedig ist mir besonders aufgefallen, dass dieser Todernst und dieses große bittere Thema Antisemitismus mit einer Leichtigkeit und mit einer Musikalität balanciert und jongliert wird, dass es fast schon in Richtung Musical geht. Bei Don Carlos ist ja das Problem ein anderes, das Stück ist sehr schwer zu erzählen. Ich glaube, damals haben Sie auch noch an die Konstellation vom Weißen Band anknüpfen können?
Nein, das war ein reiner Zufall, dass Christian Friedel und ich wieder als Gegner, als Antagonisten aufeinandertrafen. Aber gerade weil Don Carlos so schwer zu erzählen ist, braucht man ja die Fähigkeit, einen Stoff zu gliedern und durchsichtig zu machen. Bei Don Carlos hat die Vorarbeit eine große Rolle gespielt, weil wir wirklich jeden Satz auf seine Erzählbarkeit, auf seine Verständlichkeit hin gedreht und gewendet haben. Daran haben wir hart gearbeitet, das muss man sagen.
Aus dem Inneren der Shylock-Gestaltung
Innerhalb von weniger als einer Viertelstunde wird dieser auftrumpfende Shylock in der Gerichtsszene total demontiert, bestraft, gedemütigt, entwürdigt und entrechtet. Wie spielt man das?
Das Tolle an diesen klassischen Rollen und diesen mit viel Erfahrung angeheizten Stücken ist, dass sie einem ständig was Neues erzählen, auch beim Arbeiten, auch beim Spielen. Zum Beispiel ist mir dieser Triumphalismus des Shylock nochmal klargeworden. Er glaubt, weil er im Recht ist – und das ist er –, sei er zu allem befähigt und alles sei ihm erlaubt, er könne schalten und walten, wie ihm beliebt. Das ist natürlich völlig unabhängig von jeder Herkunftsfrage, ob jüdisch oder afrikanisch. Das ist einfach dieses berühmte „übers Ziel hinausschießen“, dieses „sich selbst überheben“ oder auch „Hochmut kommt vor dem Fall“ und was da alles für Sprichwörter eine Rolle spielen. Auf einmal überschätzt jemand seine Möglichkeiten total und schießt übers Ziel hinaus. Wie er dann nicht nur eingehegt, eingefangen, sondern auch noch bis zum tiefsten Grund gedemütigt wird, das ist einfach ergiebig zu spielen und wahrscheinlich auch zu gucken. Es ist eine gewaltige Fallhöhe. Das Thema Antisemitismus ist natürlich ein weiteres Feld, auf dem sich die ganze Figur beweist. Wie weit muss man da ins Dämonisieren und in die völlige Karikatur gehen, wie Werner Krauß das wohl gemacht hat, wenn man den Zeitzeugen glauben kann, oder gibt es einen Weg zu zeigen, dass einer ein betrogener Betrüger oder ein Täteropfer ist.
Ein geprügelter Hund. Eine Möglichkeit, diese Shylock-Figur zu fassen mit ihrer Racheenergie, ist, dass er vorher viele Alltagsdemütigungen erlitten hat, das Anspucken wird ja sogar wiederholt im Stück. Nach der Standardtheorie der Einteilung der Shakespeare-Stücke gilt der Kaufmann als Komödie. Vontobel hat es sehr gut verstanden, diese ganze Beziehungsgeschichte tatsächlich wie eine Beziehungskomödie von heute zu erzählen. Mit dem Hintergründigen der etwas bedepperten Männer da drin und der überlegenen Frau – das sind ja die typischen Zutaten in Film und Fernsehen heute. Gleichzeitig steht der Shylock aber immer dabei, es geht ja keiner ab, als ob der Regisseur sagt, „ich stelle jetzt mal die Shylock-Tragödie direkt neben die Beziehungskomödie“.
Die Verbindung ist erstens Shakespeare, auch Shakespeare erzählt das nebeneinander. Zweitens bedeutet natürlich die Tatsache, dass Shylock auf der Bühne immer anwesend ist, ja nichts anderes, als dass es Parallelgesellschaften gibt, dass es beides gleichzeitig gibt. Es gibt den jüdischen Haushalt, es gibt das Strenggläubige, und es gibt das Überbordende und Grenzen Sprengende im Antisemitismus, aber auch in der Liebessehnsucht. Beides ist gleichzeitig anwesend, deshalb hab ich mich auch nicht gesträubt, obwohl es ganz schön Energie kostet, minutenlang stumm im Hintergrund zu sitzen. Aber ich denke, es hat auf jeden Fall die richtige Wirkung.
Shylock mit Bezug aufs Warschauer Ghetto
Die Inszenierung ist ja auch sehr körpersprachlich gearbeitet. Am Anfang sitzen Sie wie ein Unbeteiligter daneben, dann zuguckend, allmählich mehr teilnehmend, bis zu diesem Auftrumpfen, und am Schluss stehen Sie an der Wand, wie schon halb tot oder kurz vor der Hinrichtung.
Quasi kurz vor der Hinrichtung, ja. Eine Anlehnung an das bekannte Bild mit dem Jungen aus dem Warschauer Ghetto. Das ist klar, für Shylock ist das ein enormes Stationendrama, einmal wird er sogar eingeladen in die christliche Gesellschaft, obwohl er gesagt hat, mit denen wolle er nicht essen und trinken, aber natürlich wird er in eine Falle gelockt. In der Zeit, in der er dort zu Gast ist, wird seine Tochter entführt. Dieses Bild ist zwar nicht groß ausgearbeitet, aber das möchten wir eigentlich noch öfter sehen. Wie geht es eigentlich einem – sagen wir ruhig „Juden“ – in einer Gesellschaft von SS-Leuten, als Gast? Das ist ein hochprovokantes Bild. So weit gehen wir nicht, aber die Richtung ist da angedeutet und der Shylock geht einige dieser Stationen ab.
Spielen als Erfahrungsreise
Wenn es eine große und gesuchte Herausforderung war, den Shylock zu spielen – auch mit den genannten Traditionsbezügen –, welches Fazit können Sie nach der Reihe von Aufführungen ziehen? War das jetzt zutiefst befriedigend, geht der Auseinandersetzungsprozess weiter, haben Sie sich vielleicht auch geirrt in einigen Dingen?
Keine leichte Frage. Zunächst mal „irrt“ man sich immer vor einer Arbeit, weil die Erfahrungsreise noch bevorsteht. Zweitens würde es an Selbstüberschätzung grenzen, wenn ich sage, ja, das ist vollständig gelungen, das wäre ja lächerlich. Schon allein deshalb, weil jede Aufführung als abendliche Vorstellung neue Erkenntnisse bringt, ganz klar. Was aber für mich im Vorfeld interessant war anzugucken, war die Darstellung von Lawrence Olivier, der die Fassung des gedemütigten Täters – des Verbrechers aus verlorener Ehre, wenn man so will – als Erster, wenn man der Literatur glauben kann, so gespielt hat. Das gibt’s auch noch zu besichtigen in einer Filmfassung und das ist die Figurenauffassung, der auch ich mich angenähert habe. Ansonsten ist da noch viel zu entdecken, jedes Mal.
Front von Luk Perceval
Sie haben bei Luk Perceval in Front und Die Brüder Karamasow gespielt, beides Produktionen am Thalia Theater Hamburg. Front könnte man als eine Art musikalisch-textliche Installation beschreiben. Zudem war die Inszenierung, als Koproduktion mit dem NTGent, mehrsprachig. Alle Auftritte, die nicht Teil der musikalischen Textpräsentation waren, boten eigentlich nur so etwas wie Miniaturrollen, die man in zwei Sekunden auf die Bühne zu stellen hatte. Man war mit einer Mini-Erzählung kurz Teil des Ganzen, dann aber schon wieder weg und kam in dieser Rolle auch nie wieder. Ich erinnere mich besonders an den zynischen Lehrer, den seine ehemaligen Schüler während ihres Fronturlaubs besuchen und der, anstatt diese armen Kerle zu bemitleiden, anzügliche Bemerkungen über den „Stellungskrieg“ macht. Die ganze Situation bestand nur aus wenigen Worten und ein, zwei Gesten.
Die Kunst der Miniatur
Richtig, das waren Miniaturen, das ist aber auch etwas sehr Spannendes und macht großen Spaß, aus dem Ärmel heraus so Figuren zu zeichnen, hinzuschmeißen und wieder rauszugehen. Ich spielte hauptsächlich Katczinsky, den Elder Statesman unter den Frontsoldaten, den mit der größten Erfahrung. Das Kennzeichen dieser Aufführung aber war die Mehrsprachigkeit, um genau zu sein: Viersprachigkeit. Also einmal das Flämische und das Deutsche, dann gab es Passagen auf Französisch und auf Englisch. Das war natürlich der Versuch, die Internationalität des Konflikts abzubilden. Ich fand das gelungen, ich mochte das sehr. Ich bin sowieso ein Sprachen-Fex, und je mehr Sprachen gesprochen werden, desto stärker lebe ich auf. Dieses Orchester, als das wir da quasi figurierten, denn jeder hatte einen Notenständer vor sich, war wie ein Orchester des Todes, ein Orchester des Wartens, denn auch das war Teil der Übung, diesen jahrelangen Stellungskrieg irgendwie abbilden zu wollen, in dem nichts geschieht als warten – und dann plötzlich ein furchtbares Granatengewitter. Das alles in einem relativ dunklen Ambiente, denn sehr hell beleuchtet war die Bühne nicht. Begleitet – ein ganz wesentlicher Punkt – von einem großen Künstler des modernen Musikmachens, Ferdinand Försch, der hauptsächlich mit Blechen, außerdem mit Glocken und Schlagwerken arbeitete und das Ganze mit diesem Stahlgewitter unterfütterte. Das machte einen tiefen Eindruck auf die Leute. Es gab eine sehr betroffene Gemeinde, die da nach der Vorstellung rausging.
Wie haben sich die Reaktionen des Publikums in den Ländern, in denen die Inszenierung gezeigt wurde, unterschieden?
Wir haben es nach der Premiere erstmal lange im Thalia Theater gespielt. Sind dann auf Gastspielreise gegangen, und zwar durch ganz Europa, von Edinburgh bis nach Sarajevo und Belgrad. Auch in Sankt Petersburg haben wir gespielt und natürlich in Gent, in dem Theater, in dem Luk Perceval jetzt Hausregisseur ist. Die Reaktion war eigentlich in all diesen Ländern dieselbe. Vielleicht mit der einen Einschränkung, dass mir das deutsche Publikum am betroffensten erschien. Das muss ich wirklich sagen. Ich hatte den Eindruck, ganz so mitgenommen wie bei uns in Hamburg waren die Leute in anderen Ländern nicht unbedingt.
In Percevals ‚offenem System‘
Wenn ein Regisseur ein so offenes System schafft, in dem der darstellerische Ausdruck zurückgenommen wird und doch innerhalb dieser musikalischen Anordnung abrufbar bleibt, könnte man das als „gebremste“ Schauspielerei bezeichnen?
Das würde ich so nicht sagen. Und ich glaube auch nicht, dass das so war. Wenn ich an meinen flämischen Kollegen denke, Steven van Watermeulen, der sich mit einer ungeheuren Energie in seine Figur des Lieutnant de Wit hineinwarf, da konnte von einer epischen Spielweise à la Brecht nicht im Entferntesten die Rede sein, ganz im Gegenteil. Da ging es wirklich ans Eingemachte des psychologischen Theaters. Die offene Form oder das offene System war am ehesten dadurch gegeben, dass die Figuren nicht linear durcherzählt wurden und in der Gestaltung Luks Wunsch nach Reduktion folgten.
Es scheint ja unmöglich, solche Themen wie den Ersten Weltkrieg oder auch den Kolonialismus an einem Abend zu erzählen. Das ist schier ausgeschlossen. Also kann man nur in Fragmenten, in einem „offenen System“ arbeiten. Ich habe mich damals sehr intensiv mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt, mit dem wir uns ja alle zu wenig beschäftigt hatten bis dato. Hatte natürlich Christopher Clarks Die Schlafwandler gelesen, auch Herfried Münklers Buch über den Ersten Weltkrieg und noch zwei Werke. Percevals Vorlagen bestanden bekanntlich aus Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque, woraus auch meine Figur entwickelt war, und Le Feu von Henri Barbusse, gewissermaßen das Pendant auf Französisch. Da sieht man eben auch, wie er arbeitet. Er geht von Klassikern aus und macht was völlig anderes draus. Er nutzt sie – wie Heiner Müller mal gesagt hat – wie einen Steinbruch, aber er birgt darin auch interessante Fundstücke, die er dann zusammenfügt. Deswegen war Front eine so besondere Arbeit.
Selbstüberprüfung und Forschungsarbeit
Welche Form von Selbstüberprüfung, von Selbstreflexion gibt es für Sie?
Meistens finden sich in Kritiken mal mehr, mal weniger nützliche, fast nur atmosphärisch zu nennende Beschreibungen. Aber die tiefe Weiter- und Fortbildung, die man als Schauspieler sucht und an der man ein Leben lang arbeitet – es gibt keine Gewissheiten, es gibt keine hundertprozentigen Ergebnisse, es gibt immer nur den Prozess –, das ist das Einzige, was zählt und dafür ist das Theater unabdingbar. Man kann nirgendwo sonst diese Forschungsarbeit betreiben als auf dem Theater. Nur in dem Moment des linearen Spiels vor einem Publikum lässt sich lernen und beurteilen, in welchem Verhältnis Spontanität, Genauigkeit, Lebendigkeit und Reduktion zueinander zu stehen haben. Partnerspiel gegen Pointierung der eigenen Figur – was für Momente gehören nur mir, wo ist es unerhört wichtig zuzuhören –, ein Grundgesetz des Theaters. Diese Dinge kann man nur mit Publikum und Kollegen auf einer Bühne in Erfahrung bringen. Natürlich, manchmal guckt man in die Aufzeichnung einer früheren Arbeit rein, doch ist das oft genug eher ein schaler Abglanz, wenn die auch noch so gut sein kann. Ich hab in meinem Leben nur eine Aufzeichnung erlebt, von der ich sage, die scheint genau den Punkt der Aufführung zu treffen, das ist Der Menschenfeind inszeniert von Werner Düggelin in Zürich und auch fürs Fernsehen, für 3sat, im Studio nochmal nachgebaut und nachgestellt. Das scheint eine sehr genaue Abbildung zu sein, das leuchtet mir ein, aber sich jetzt etwa jeden Abend die Aufzeichnung der Vorstellung anzuschauen, halte ich für vollkommen sinnlos. Außerdem ist gar nicht die Zeit dafür da.