Theater und Poetologie
Das Lied der Guano-Vögel
Passagen über Autofiktion
Zunächst scheinbar zusammenhangslose Bilder fügen sich in diesem Artikel zur persönlichen Sicht der Autorin auf eine Erzählweise, die wir gemeinhin Autofiktion nennen. María Velasco zeichnet nach, wie sie sich der Autofiktion bedient, ohne sich diesem Genre zu verschreiben (s. auch Stückabdruck und Gespräch TdZ 10/22).
von María Velasco
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Spanien (10/2022)
Assoziationen: Europa Dossier: Spanien

DAS TAGEBUCH MEINES NEFFEN
Irgendwer hat meinem achtjährigen Neffen ein Tagebuch geschenkt, das erste seines Lebens. Das Tagebuch ist vollgestempelt mit hyperrealistischen Dinosauriern. Öffnet man es, ertönt das Krächzen und Brüllen, das man diesen großen prähistorischen Tieren zuschreibt. Ich stelle mir vor, dass so sein jüngster Kummer klingt, in seinem Kopf … Das aufkeimende Murmeln der Gedanken, der Stream of consciousness.
Wer sich in dieser Welt fehl am Platz fühlt, versucht, die eigene Biografie neu zu schreiben. Wird er einer von ihnen sein? Ist dieses Tagebuch der Beginn einer Geschichte? Dass viele Autoren und Autorinnen (wie Nonnen, die ihr Gelübde ablegen) beim Eintritt in die Literatur einen anderen Namen annehmen, ist kein Zufall. So verwandeln sie sich selbst in fiktive Geschöpfe.
Nun sitze ich vor dem weißen Blatt und würde wieder einmal gern meinen Namen ändern. Denke mir Pseudonyme aus. Will mich mit jedem Absatz umbenennen. Oder, besser noch, häuten. Die Lust, mich mit jedem Stück neu zu erzählen und zu erfinden, bindet mich am stärksten an die Autofiktion. Wie werde ich mich morgen nennen? Auch für die Autofiktion können wir neue Namen finden.
NIEMAND HAT GESAGT, ES WÄRE LEICHT
Jede Art von Etikett ist irgendwann verhasst. So war es mit dem absurden Theater, dem Poststrukturalismus, Work in Progress … Auch dem Etikett „Autofiktion“ sollte es nicht anders ergehen. Es ist normal, dass ein Künstler einen gewissen Widerwillen gegen diese Hashtags entwickelt, sie taugen nur für Vorträge und Kataloge. Die Aufgabe des Künstlers liegt vielmehr darin, „ohne Regeln [zu arbeiten]; sie arbeiten, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird“1, wie Lyotard sagt. Aber außerhalb der Genres – welcher Art auch immer – ist es unbequem, um nicht zu sagen einsam. Und wenn das Unbequeme/die Einsamkeit fruchtbar wäre? Niemand hat gesagt, es wäre leicht: „Eine Frau, die schreibt, fühlt zu viel“, erklärte Anne Sexton2. Als Ketzerin der Autofiktion werde ich in den folgenden Zeilen weder eine Definition noch allgemeine Charakteristika liefern. Ich stütze mich auf meine Erfahrung und – wie in meinen Autofiktionen – versuche, sie so zu formulieren, dass sie für alle Fußgänger der Luft von Interesse ist, auch für jene, die sich nie für Autofiktion interessiert haben. Was ich zu bieten habe, ist der Bericht einer Reise, die vor 15 Jahren mit der ersten Veröffentlichung begann – im Grunde aber viel früher, mit höchstens acht Jahren. Die Erinnerung ist ein Labyrinth mit zahlreichen Ein- und Ausgängen, keiner davon offensichtlich. Man muss sich immer verlieren, um sich zu finden, vielleicht sogar auf den einen oder anderen Minotaurus stoßen … nur, um oftmals festzustellen, wie sehr uns die Ungeheuer ähneln.
WANDERUNGEN DES ICHS
Die Literatur hat mich gelehrt, mit Fremden zu sprechen – Ungeheuer und Minotauren eingeschlossen –, und sie hat mich gelehrt, dass ich eine von ihnen bin … „Was kann das Holz dafür, wenn es als Geige erwacht?“, schrieb Rimbaud. Ich entdeckte, dass ich selbst eine Unbekannte bin: das berühmte Erkenne-dich-selbst. Reden wir über Wanderungen (des Ichs).
Es fällt mir schwer, im Namen anderer zu schreiben. Besser gesagt, ich kann über nichts anderes schreiben als mein Dorf. Es ist ein chronisches Leiden. Es widerfährt Autoren und Autorinnen, die wir nie mit biografischem Schreiben in Verbindung bringen würden. Ganz gleich, ob ihre Geschichte in einer vergangenen oder sagenumwobenen Zeit spielt (als Mythopoiesis) oder in futuristischem Ton geschrieben ist: Dort sind ihre Traumata, unsere Fluchtpunkte und Horizonte …, die oftmals eure sind.
Der Maler Francis Bacon, dessen Atelier in meiner Erinnerung als ein Ort von Spiel und Entropie, Farbpaletten und Maurerkellen fortlebt, hat gesagt: „Man arbeitet an sich selbst, um sich zu zwingen, die Dinge immer deutlicher freizulegen“3. Der Humanist José Luis Sampedro benutzte den Ausdruck: „Bergarbeiter des eigenen Selbst“. Kontroverser – und deshalb mir entsprechender – fand ich den Satz von Emmanuel Carrère in „Yoga“: „Was ich in meinem Leben zu tun versuche, ist, ein besserer Mensch zu werden: ein bisschen kenntnisreicher, ein bisschen freier, ein bisschen liebevoller, ein bisschen weniger ego-verhaftet […], weil das einen besseren Schriftsteller aus mir macht.“4
MEHR HAST DU NICHT VORZUWEISEN?
Seit ich an diesem Artikel schreibe, habe ich den Exhibitionisten vor Augen, der meinem Freund Kike Guaza eines Tages über den Weg lief, als seine Mutter ihn und seinen Bruder zur Schule brachte. Besagter Exhibitionist stellte sich ihnen in den Weg und zeigte ihnen sein Glied. Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte Kikes Mutter: „Mehr hast du nicht vorzuweisen?“ Ich mag den Gedanken, dass Kikes Mutter sich nicht nur auf die Größe des Glieds bezogen hat, auch nicht auf den Trenchcoat – woher hatte er diesen Fummel? –, sondern auf die Inszenierung an sich.
In einem Jahrhundert, das eine Schwemme an Simulationen erleben würde, soll Henry Miller – eben jener Erzähler, der dem Exhibitionismus in Trenchcoat und dunkler Sonnenbrille zu literarischen Höhenflügen verhelfen würde – ausgerufen haben: „Die Literatur des 21. Jahrhunderts wird autobiographisch sein oder nicht existieren“. Daniel Jimenez zitiert ihn so in seinem Roman „Cocaína“ und fährt fort: „Für Geschichten über Prinzen und Drachen sind die Politiker, die Fernsehserien und die Presse zuständig.“5 Angesichts der Verirrungen von US-amerikanischen Medien und Reality-TV und der allgemeinen Ironie im politischen Diskurs der Marvel-Bösewichte mag man diesen Satz tatsächlich neu überdenken und es verlockend finden, die Literatur als einen Ort zu definieren, an dem man nicht lügt.
Genauso, wie wir ins Museum gegangen sind, um ein Urinal, einen Schädel, einen Hai, ein Stillleben zu sehen, werden wir ins Theater gehen, um Menschen zu sehen, menschliche Tiere als Objets trouvés. Es wird kein Zoo sein. Im Gegenteil, diese Menschen werden freier wirken als unsere verbeamteten Nachbarn.
Menschen sehen: Manchmal reicht das. Es reicht, die Betäubung der Routine auszukotzen, zu schauen und zu hören, (als wäre es) zum ersten Mal. Das Theater ist der Ort par excellence, wo wir einen Blick auf die Wahrheit und das Krude riskieren, auch wenn wir, wie Kikes Mutter, hinterher rufen: „Mehr hast du nicht vorzuweisen?“
LEG DEINE HAND IN DIE WUNDE AN MEINER SEITE!
Am meisten schätze ich Autofiktion, die das Gegenteil der sozialen Netzwerke will. Die uns weder von unserer besten Seite zeigt noch unsere Erfolge zelebriert, die sich nicht ans aktuelle Zeitgeschehen klammert, sondern es unbesehen in den Fleischwolf wirft, die nicht vor Witz sprüht – weder Sätze wie Pfeile noch Ruhmesblätter. Autofiktion, wie ich sie verstehe, zeigt das, wofür wir uns schämen und was wir niemandem gestehen. Was mich an diese schöne Passage im Neuen Testament erinnert, in der Jesus, als Wiedergänger, Thomas auffordert, die Finger in seine Wunden zu legen: „Leg deine Hand in die Wunde an meiner Seite!“ Diese Autofiktion hat mit Autolyse zu tun, mit „Selbstauflösung“, oder mit Autodestruktion, „Selbstzerstörung“, was in der Psychiatrie ein Begriff für selbstverletzendes Verhalten ist, Ritzen zum Beispiel. Es sind Wunden, die aus dem Bedürfnis entstehen, ein abstraktes Leiden zu verlagern und damit benennen zu können. Benennen ist Aufatmen. Die Seite zerschneiden oder tätowieren. Meine Traumata waren weniger schmerzhaft, wenn sie, auf dem Papier, einer mehr oder minder beabsichtigten Kalligrafie/Route folgten.
Die spanische Schriftstellerin Sara Mesa spricht davon, mit vollen Händen nach den Nesseln der Wirklichkeit zu greifen: „Man riskiert, die eigene Haut zu verletzen und sich selbst zu schaden, und das alles,
um – einem Dritten – die zähen Wurzeln, die giftigen Stiele, die ungehörigen Blüten zu zeigen. Die Wirklichkeit ist also zäh, vergiftet und ungehörig … Ist das eine pessimistische Sichtweise? Oder sollten wir eher von Scharfsinn sprechen, und von Mut, denn mit ihrem Handeln setzen Schriftsteller sich nicht nur der Zurückweisung durch ihre Leser aus, sondern durch die Gesellschaft ihrer Zeit.“6 In Anlehnung an das antike Sprichwort collige, virgo, rosas (pflücke, Mädchen, die Rosen) lasse ich in meinem letzten Stück das Mädchen, das ich einmal war, sagen, wer Rosen pflücken will, muss auch die Dornen nehmen: also, Erkältungen, Tripper, Papillome …
EINE ADERPRESSE ANLEGEN
Ihrem Ruf zum Trotz ist die Brennnessel eine Heilpflanze, aber zunächst muss man sie verarbeiten. In einem wunderschönen Text, der sich an junge Literaten richtet, bezieht sich Carrères Kollege Michel Houellebecq auf dieses Verarbeiten des Leidens, damit daraus eine Geschichte wird: „Wenn es Ihnen nicht gelingt, Ihr Leben in einer genau definierten Struktur zu artikulieren, sind Sie erledigt. Das Leid wird Sie bei lebendigem Leibe auffressen, von innen heraus, bevor Sie Gelegenheit hatten, auch nur ein Wort zu schreiben. Die Struktur ist das einzige Mittel, dem Selbstmord zu entgehen“.7 Wo Houellebecq von Struktur spricht, kann man auch Dramaturgie sagen. Ich jedenfalls habe ihren Werkzeugkasten benutzt, sogar den der klassischen Dramaturgie. Letztendlich braucht man zum Leben eine Geschichte. Paul Ricoeur („Zeit und Erzählung“) hat einmal gesagt, erst durch die Erzählung werde die Zeit zur menschlichen Zeit. Leben ohne Literatur ist kein Leben, sondern einfach etwas, das geschieht. In meiner Erfahrung war die Dramaturgie eine Art Aderpresse – Punkte, Zäsuren, Zwischenräume und Seitenumbrüche –, um den Blutstrom an Ahnen, Erinnerungen (auch erfundenen), Wünschen, Quellen, Zitaten usw. zu stoppen.
Wir stellen uns wie selbstverständlich vor den gebrennnesselten, zerschundenen und verwundeten Körper, setzen – angesichts von Tachypsychie (Beschleunigung des Denkens mit oder ohne Wortschwall) oder Hyperia (übermäßiges Bewusstsein) – mit dem Skalpell Schnitte und passen verschiedene orthopädische Hilfsmittel und Fantasieprothesen an. Durchstreichen, umstellen, hinzufügen … Stücke, die in Arbeit sind, haben etwas von einem kranken Körper. Einen lebendigen Körper obduzieren: Man muss ihn langsam sezieren, um keine lebenswichtigen Bereiche zu zerstören.
DICHTERINNEN UNSERER SELBST
Die Orthesen und Prothesen sind wichtig. Nicht umsonst spricht Sergio Blanco von der Autofiktion als „Technik des Ich“. Mit Paul B. Preciado können wir von „Technologien der Subjektivierung“ sprechen und mit Deleuze davon, „das Werden“ zutage zu fördern. Autofiktion dient nicht nur dazu „es war einmal“ zu sagen, sondern auch „es werde endlich“. Wir sprechen von Autoplastizität, von der Fähigkeit, uns herzustellen und zu verwandeln …, in Gesundheit und Krankheit, im Persönlichen und im Politischen.
Nach der alten aristotelischen Definition wären wir keine Geschichtsschreiber, sondern Dichterinnen unserer selbst. Als Beispiel möchte ich zwei Szenen aus meinen eigenen Autofiktionen anführen. Die eine ist der Epilog von „Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra“ (2020; deutscher Titel: „Ich will die Menschen ausroden von der Erde“, 2022). Dort führe ich – nachdem ich lange als „Hure in der Kirche“ unterwegs war – ein lebhaftes Gespräch mit einem Baum und umarme ihn. Was entsteht, ist eine wunderschöne Verbindung zwischen den Spezies, eine Vermählung entgegen der Natur. Kiefern und Pappeln sprechen nicht unsere Sprache. Trotzdem ist diese Szene nicht weniger unwirklich als der Epilog von „Líbrate de las cosas hermosas que te deseo“ (2014, in etwa: „Befrei dich von meinen guten Wünschen“), in dem mein Vater mir Dinge sagt, die er nie gesagt hat, und ich ihm; in dem ich ihn sogar darum bitte, mir den Titel des Stücks laut vorzulesen: „Befrei dich …“, was einem spielerisch-atheistischen Geh hin in Frieden gleichkommt und mich endlich seiner Erwartungen enthebt. Von den ersten Proben an, als diese beiden apokryphen Szenen auf der Bühne – Insel (nicht Ort) der Utopie – zum Leben erwachten, nisteten sie sich in meiner Erinnerung ein, mit der Vehemenz mancher Träume oder halluzinogener Erfahrungen. Ich hoffe, einigen Darstellenden, Lesern und Leserinnen, Zuschauern und Zuschauerinnen ging es genauso … Paradoxerweise haben diese prospektiven Szenen bereits stattgefunden. Selbst wenn sie nicht echt sind, ihre Folgen sind es.
„DIE WUNDE STEHT AUCH FÜR MEIN GESCHLECHT“ (GINA PANE)
In letzter Zeit spreche ich lieber von Bekenntnisliteratur – letzten Endes nur ein weiteres Etikett –, weil mich Dichterinnen (Sylvia Plath, Anne Sexton, Alejandra Pizarnik? Agnes Varda?) beeinflusst haben, die ohne Umschweife auf intime Details ihres Lebens eingingen. Ihre Selbstporträts (wie in vergangenen Jahrhunderten jene von Artemisia Gentileschi oder Jeanne Hébuterne) waren nicht nur ein Bekenntnis, sie waren aufgrund des herrschenden Machismus auch kritisch. Ich habe sie erst spät entdeckt. Meine Teenagerjahre vergingen zwischen samenschwallartigen Wortfluten, die mich davon träumen ließen, autrice zu sein, Autorin, auch eines abenteuerlicheren Lebens. Natürlich ist das kein Vergleich, aber ich wuchs mit den sieben wilden Pontipee-Brüdern auf („Eine Braut für sieben Brüder“). Das war nicht schlecht. Es war sehr gut. Ich werfe mir nur vor, dass ich so lange gebraucht habe, eine andere Art Intimität zu entdecken. Die Themen, die diese Frauen ansprachen, waren wegen des eingefleischten Machismus doppelt „verflucht“. Dank ihrer Werke und Biografien konnte ich, fern von jedem Weiblichkeitskult, besser das Urteil Valerie Solanas’ verstehen („SCUM Manifesto“): „A male artist is a contradiction in terms“.8
In einer der Kritiken zu meinem Stück „Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra“, in dem ich ausgehend von meiner Erfahrung als Sexarbeiterin meine Herzens- und sexuelle Bildung Revue passieren lasse, heißt es: „Hier wird auf drastische Weise der Unterschied zwischen männlichen Stücken über die Welt der Bordelle und weiblichen Stücken zum selben Thema deutlich. So ehrlich und engagiert die männlichen Stimmen auch sein mögen, überrascht es doch, wie enorm weit sie von den Berichten weiblicher Kunstschaffender entfernt sind, deren emotionaler Gehalt vollkommen anderer Natur ist.“9 Der Journalist führt hochgelobte Stücke über Vergewaltigungen und Prostitution als Beispiele an, die aus der Feder von Männern stammen und von bekannten Gesichtern verkörpert wurden und kommt letztlich zu dem Schluss: „Man spürt, wie unversöhnlich die lebensnahe Perspektive ist, so sehr beide das gleiche Ziel verfolgen mögen“.10
LEIHST DU MIR DEINE LUNGEN?
„Übertragenes Leid ist geringeres Leid, übertragener Schmerz geringerer Schmerz“, schrieb Chantal Maillard in einem Gedichtband11, in dem sie gemeinsam mit der Dichterin Piedad Bonnett eines der traumatischsten Ereignisse, das man sich vorstellen kann, autobiografisch verarbeitet: den Selbstmord eines Kindes. Als Schwestern im Leid verbinden sich ihre Stimmen zu einem wundersamen Klagelied. Über Anne Carson wurde gesagt: „Das wirklich Paradoxe ist, lustvoll über etwas Tragisches zu schreiben“.12 Manchmal verschwimmen die Stimmen von Maillard und Bonnett, werden austauschbar. Das Fremde wird seelisches Organ. Der spanische Dramatiker Alberto Conejero sagt, mit Tennessee Williams: „Niemand ist wirklich frei, solange er nicht die Wahrheit über sich selbst und das eigene Leben bekennt. Schreib sie auf, erzähl sie einem Freund in Not, oder einem Fremden zur Unterhaltung. Wir alle sind hier, um etwas zu bezeugen, um andere Menschen zu leiten und zu trösten.“13 Nichts ist persönlich: Am Anfang ist es privat; dann geht es über uns hinaus … Alles ist vertraut. „Mein trauriger Einzelfall kann etwas Universelles bekommen“14, schreibt Carrère.
In Deleuzes „Die Literatur und das Leben“ stieß ich zum ersten Mal auf den Begriff „Desidentifizierung“ (der einem der abgegriffensten Wörter der Film- und Theaterhochschulen die Vorsilbe „Des-“ hinzufügt). Desidentifizierung oder Depersonalisierung lässt sich durch das erklären, was dem Darstellenden passiert, wenn er mit fremden Lungen atmet. Es muss nicht mal eine Figur sein (Roberto Zucco, Ophelia, Peter Pan, Blanche DuBois), es ist auch als Akt der Selbstdramatisierung/Selbstinszenierung denkbar. Er oder sie selbst, aber anders verortet, deterritorialisiert, das ist genug. Jenseits von Ego und Alter Ego entsteht dabei etwas Drittes. Wir spüren es in jenen Augenblicken kreativen Nirvanas, in denen manche Sätze glasklar wirken, wie der Aphorismus: „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd“ (Terenz) oder die Zeilen „Ich ist ein anderer“ (Rimbaud) oder „Tote haben alle dieselbe Haut“ (Vian). Es ist nur mit Sex vergleichbar: „Warum sollten unsere Körper an unserer Haut enden?“ (Haraway).
Es ist ein Urbedürfnis zu verschwinden, indem wir uns von anderen einverleiben lassen. „Je mehr du von dir erzählst, desto weniger wollen sie wissen“, sagte und riet uns immer eine Kunstlehrerin. Mit der reinen Autofiktion, die Egotismus und narzisstische Belanglosigkeiten meidet, ist es in etwa so … Es findet eine Abspaltung statt, ein Loslassen: „Es ist ein alter, ein uralter Traum, unsichtbar zu sein“, wie Bernard-Marie Koltés-Roberto Zucco sagt, oder ein Querschnitt aus beidem … Man erreicht einen Zustand, der ans nicht mehr Wahrnehmbare grenzt.
DAS LIED DER FLEDERMÄUSE ODER GUANO-VÖGEL
Das Therapeutische war nie Selbstzweck. Sonst hätte ein Tagebuch den Dienst getan, und ich hätte etwas mehr Geld auf dem Konto, vielleicht ein Haus oder ein Schloss – wie andere wohlanständige Dramatiker:innen –, statt eines Haufens prospektiver Szenen und Universen, die mich als Nabelschnur mit den Menschen und der Welt verbinden. Linderung ist nur eine Nebenwirkung der Autofiktion …, genau wie die Opfer, nahestehende (und manchmal geliebte) Menschen, die sich unter anderem Namen wiedererkannt haben und getroffen fühlten.
Mich in meinen Stücken zu outen, die schmutzige Wäsche auszulüften und in die Sonne zu hängen, hat mich ermächtigt. Mich zu schwächen, hat mich stark gemacht wie eine Brennnessel. Die Schüchternheit machte mich zur Schriftstellerin, und nun macht mich das Schreiben unverschämt, derb, zur Fledermaus. Ist das nicht poetische Gerechtigkeit?
Das Trauma wird durch das Tabu retraumatisiert. Wird das Trauma zur Blasphemie, zeigt es den Grenzen des Anstands die Stinkefaust. Das Schweigen zu brechen, ist kein künstlerischer Verdienst, wenngleich das Unsagbare tief mit Literatur und Kunst verbunden ist. Die Kunst sollte die unendliche Fantasieblase herausfordern, in der wir im Westen in den letzten Jahrzehnten gelebt und uns zugleich gebrüstet haben, nie besser informiert gewesen zu sein. Sie sollte eine Alternative zu dem bieten, was man allein zur Unterhaltung verschlingt. Das Tabu verwandeln in ein Lied. Die Knebel zerreißen, zerkauen und ausspucken (wie die Zettel, die wir den Nonnen nicht geben wollten). Sie verdauen. Daraus Guano machen (vom Quechua-Wort wanu, Dünger, Exkremente von Fledermäusen und Vögeln, mit dem man die Erde fruchtbar macht). Die Ohren schmerzen lassen, und, wenn nötig, die (Toll-)Wut übertragen. Wie das spanische Wort für Fledermaus, murciélago, in unserem Namen alle Vokale beinhalten, im Wissen: Je mehr wir singen, desto näher kommen wir der Stille. //
1 Lyotard, Jean-François: Postmoderne für Kinder: Briefe aus den Jahren 1982 – 1985, hrsg. von Peter Engelmann. Aus dem Franz. von Dorothea Schmidt, unter Mitarb. von Christine Pries, Passagen-Verl., Wien 1996, S. 30.
2 Sexton, Anne: „Die Schwarze Kunst“, übersetzt von Barbara von Bechtolsheim. In: Luftfracht: Internationale Poesie 1940 bis 1990, Magnus, Hand und Hartung, Harald, Vito von Eichborn GmbH & Co. Verlag KG, Frankfurt am Main 1991, S. 201.
3 Francis Bacon, in: Marguerite Duras: „Interview mit Francis Bacon“, in: Heicker, Dino (hrsg.): Francis Bacon. Ein Malerleben in Texten und Interviews, Parthas Verlag, Berlin 2009, S. 83.
4 Carrère, Emmanuel: Yoga. Aus dem Französischen von Claudia Hamm, Matthes und Seitz, Berlin 2022, S. 126.
5 Zitiert bei Pardo, Carlos: „Ser escritor, ser cocainómano, ser algo“ (dt.: Schriftsteller sein, Kokainabhängiger sein, irgendwas sein). In: Babelia (El País), 20/01/2016.
6 Mesa, Sara: Ortigas a manos llenas. Plasencia–Salamanca–Segovia. La Puerta de Tannhäuser y La Moderna; Letras Corsarias y Delirio; Intempestivos y La Uña Rota, 2020, S. 10–11.
7 Houellebecq, Michel: Lebendig bleiben. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Hella Faust, Dumont, Köln 2006, S.14.
8 Siehe dazu das Werk der Künstlerin Chiara Fumai („Chiara Fumai reads Valerie Solanas“).
9 Fuentes, Rafael: „Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra, de María Velasco: esperanza en el viacrucis“ (dt.: Ich will die Menschen ausroden von der Erde von María Velasco: Hoffnung am Kreuzweg). In: El imparcial, 11/12/2020.
10 ebd.
11 Maillard, Chantal y Bonnett, Piedad: Daniel. Voces en el duelo. (dt.: Stimmen in der Trauer/im Duell). Vaso Roto, Madrid 2020.
12 Zitiert nach Anne Carson bei Lago, Eduardo: „La gran paradoja es escribir con placer sobre algo trágico“ (dt.: Das wirklich Paradoxe ist, lustvoll über etwas Tragisches zu schreiben). In: Babelia (El País), 04/05/2019.
13 Zitiert nach Tennessee Williams bei Conejero, Alberto: https://www.teatroespanol. es/sites/default/file/import/descargas/dossierushuaia.pdf, Zugriff am 7.9.2022.
14 Carrère, Emmanuel: op. cit., S. 173.
Aus dem Spanischen von Franziska Muche