Theater der Zeit

Thema

Entstehen, Sein, Vergehen

Eine Begleitung des Materials auf seinem theatralen Werdegang

Mal wieder verhält es sich mit den scheinbar so simplen Dingen ganz schön kompliziert: Was ist dieses „Material im Figurentheater“? Sind es die Figuren, die auf der Bühne gespielt werden? Oder bloß die Rohstoffe, aus denen sie gebaut wurden? Gehören zum Material einer Figurentheaterinszenierung auch ihre Dokumentation auf Video, das Programmheft, die Textvorlage etc.? Und ist der Spieler*innenkörper nicht auch Material, und zwar ein ganz besonderes? Wie wäre es mit: Das, aus dem etwas gemacht wird; das, mit dem etwas passiert; das, was am Ende übrigbleibt. Auf Grundlage dieser Arbeitsdefinition blickt Kathi Loch auf den Werdegang des Materials im Figurentheater.

von Kathi Loch

Erschienen in: double 45: An die Substanz – Material im Figurentheater (04/2022)

Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater Dossier: Material im Figurentheater

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Am Beginn jeder Figurentheaterinszenierung steht ein Moment der Freiheit: Anders als im Menschentheater, wo der Körper als primäres physisches Ausdrucksmittel gesetzt ist, wo vom Körper (seiner Bewegung, seiner Stimme, seiner Position im Raum etc.) aus gedacht wird, setzt jede Figurentheaterinszenierung eine Materialentscheidung voraus.

Die Faktoren, die diese Wahl beeinflussen, sind selbstverständlich vielfältig. Die Entscheidung fällt aus dem Thema heraus. Aus der eigenen (Arbeits-)Biografie. Aus der Neugier auf ein Material oder eine Technik. Man wählt ein Material, um etwas Bestimmtes zu vermitteln. Oder man schaut, was das Material zu erzählen hat. Nicht selten bleiben Spieler*innen und vor allem Puppenbauer*innen an einem Material hängen. Sie spezialisieren sich. Sie arbeiten sich ab. Verfeinern ihre Spiel- oder Bearbeitungstechnik. Und sie werden im Laufe der Zeit vermutlich immer neue Facetten an ihrem Favoriten entdecken.

Der Vielfalt der Motivationen steht eine unerschöpfliche Vielfalt an Optionen gegenüber. Lieber ein gebräuchliches Material wie Holz, ein textiler Stoff, Papier oder ein Kunststoff? Oder etwas Ungewöhnliches? Glas, Lehm, Eis, Zement? Oder vielleicht Gemüse, Wachs, Metallschrott? Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Und dann ist ja auch noch alles mit allem kombinierbar! Sind alle animierten Objekte auf der Bühne aus Blech? Treffen hölzerne Marionetten auf Flachfiguren aus Pappe? Oder ist schon jedes Objekt in sich ein Materialmix aus Holz, Pappmaché, Draht, …?

Eng verbunden mit dem Material ist die Frage der Form. Und auch hier gibt es mindestens zwei Ausgangspunkte. Einerseits lässt die Form sich im Material finden – das ist die Uraufgabe der Puppenbauer*innen. Andererseits findet auch bereits geformtes (und eventuell sogar benutztes) Material seinen Weg auf die Bühne. Dabei fungiert das Figurentheater als ein Tummelplatz für Umfunktionierungen, denn der alltägliche Gebrauchswert der Dinge muss hier nicht im Vordergrund stehen.

Auch wenn schließlich alles irgendeine Form hat, nicht immer ist Geformtheit gewünscht oder möglich. Ein Material kann auch „pur“ genutzt werden. (Ein unbehauener Stein als Spielpartner?) Oder es entzieht sich einer gestalterischen Formgebung. (Lässt sich mit trockenem Sand mehr bauen als ein Haufen?)

SEIN

Wie spielt es sich? Wie wirkt es? Was erzählt es?

Auf der Bühne betrifft das Material zwei Personengruppen: jene, die es bespielen, und jene, die es beim Bespielt-Werden beobachten. Beide Gruppen können während der Aufführung ganz unterschiedliche Materialerfahrungen machen. Und diese können sich auch ständig verändern. Denn Material ist ja nichts Statisches. Es wandelt sich zunächst im Prozess der Ver- und Bearbeitung, aber eben auch im Spiel. Langfristig sowieso (durch Abnutzung), häufig aber auch kurzfristig, wenn die Verformung und/oder Transformation Teil der Aufführung ist: Eis schmilzt, Glas bricht, aus einem Lehmblock entstehen Figuren. Die Bühne kann zum Materialverwandlungsraum werden, die Zuschauer*innen zu Zeug*innen der Erschaffung wie der Zerstörung.

Material ist auch nicht neutral, denn es bringt immer schon Bedeutung mit. Die Zuschauenden blicken auf das Material durch ihre kulturell und biografisch gefärbte Brille. Infolgedessen schreiben sie bestimmten Materialien bestimmte Qualitäten zu. Sie bewerten sie (auch monetär). Sie verbinden Gefühle mit ihnen. Nicht selten beruhen ihre wahren Gefühle auf kalkulierter Täuschung: Statt einer Marmorsäule steht da eben eine marmoriert bemalte Sperrholzplatte. Das funktioniert bestens, solange das Publikum weit genug weg sitzt, das Material also genug Raum für seine Wirkung bekommt. Denn wir „lesen“ das Material nicht wie ein Buch. Es wirkt atmosphärisch.1

Während das Publikum das Material auf der Bühne quasi „synästhetisch“ erspürt2 und daraus Bedeutungen und Erzählungen konstruiert, ist das Verhältnis der Spielenden zum Material ein anderes. Es bewegt sich im Spannungsfeld von Widerständigkeit und Kooperation, Macht und Unterordnung, Kontrolle und Loslassen. Aber auch hier reduziert sich die Beziehung zum Material nicht auf eine handwerklich-technische „Zuhandenheit“ (Heidegger). Auch die Spielenden spüren eine Menge. Zum Beispiel, was das Material braucht, um mit ihm in ein wirkliches Zusammenspiel zu gelangen.

VERGEHEN

Wo bleibt es? Was wird aus ihm? Bleibt es überhaupt?

Und irgendwann erreicht das Material das Ende seines Bühnenlebens. Es ist abgenutzt, kaputt oder sogar komplett zerstört. Aber auch ein intaktes Material geht irgendwann in Rente, spätestens wenn „seine“ Inszenierung abgespielt ist. Wohin also damit? Zwischen Müllcontainer und Museumsvitrine ist hier alles drin. Irgendwo dazwischen lässt sich der Limbus des theatralen Produktionssystems verorten, der Fundus. Was hier landet, hat die Chance darauf, in anderen Kontexten wiederverwendet zu werden, läuft aber auch Gefahr, einfach vergessen zu werden (zumindest bis der Fundus so voll ist, dass mal wieder ausgemistet werden muss …).

Nachhaltigkeit ist auch im Figurentheater eine Frage von hoher Aktualität. Insbesondere, da es heute der Regelfall ist, dass für jede neue Inszenierung eine komplett neue Ausstattung inklusive Puppen angefertigt wird. Historisch gesehen ist das ein relativ junges Konzept. Traditionelle Formen benutzten ihr Material immer wieder, reparierten und tauschten erst aus, wenn es gar nicht mehr ging. Dieses Material wurde von Generation zu Generation weitergegeben, es war ja schließlich das Kapital eines Familienunternehmens.

Doch sind ein arbeitsloses Figurenensemble, ein Stapel Holzlatten, ein Haufen Stoff nicht alles, was bleibt. Die Inszenierung ist, sobald sie einmal in der Welt war, selbst Material geworden. Material, das Biografien anreichert, von der Forschung betrachtet und in Archiven verwaltet wird. Erinnerungsmaterial sozusagen.

1 Vgl. dazu Böhme, Gernot: Der Glanz des Materials. Zur Kritik der Ökonomie. In: Ders., Atmosphäre. Frankfurt a. M. 1995, S. 49-65.
2 Vgl. ebd., S. 55.

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Assoziationen

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